Weihnachten 1948 (aus der Schreibwerkstatt)

Weihnachten 1948
von Willi Corsten

Draußen fiel der erste Schnee. Mein Bruder und ich saßen am Küchentisch und machten Hausaufgaben. Nach einer Weile legte der Kleine den Griffel zur Seite und sagte: „Was gibt es diesmal wohl zu Weihnachten? Sicher wieder einen Pullover oder ein Hemd, vielleicht auch ein Paar neue Schuhe.“
„Nein“, antwortete ich, „Schuhe bestimmt nicht, denn die müssten wir ja vorher anprobieren, weil wir doch so schnell aus den Sachen herauswachsen. Als Geschenk sind sie auch viel zu teuer.“
„Stimmt! Wir waren ja gar nicht beim Schuster“, sagte mein neunjähriger Bruder und beugte sich wieder über seine Schiefertafel, jenes zerbrechliche Ding, das wir zum Rechnen und Schreiben benutzten.
Seine Antwort erinnerte mich an die kleine Werkstatt des Schuhmachermeisters. Interessiert hatte ich mich dort umgesehen. An der Wand hingen Stiefelspanner, Leistenhaken, Pechdraht, Flachraspel, Ahle, Glättholz, Fußmaß und Beißzangen, und auf den Regalen standen – fein säuberlich an den Schnürsenkeln verknotet – ein halbes Dutzend Schuhe, die noch repariert werden sollten. Der Meister arbeitete mit flinker Hand an einem Stiefel, den er vor sich auf den Dreifuß gestülpt hatte. Er nickte uns freundlich zu, nahm seine Brille ab und sagte: „Der Junge braucht also was neues zum Laufen.“ Dann stand er auf, rückte die grüne Schürze zurecht und schlenderte hinüber in den Verkaufsraum.
Als wir die passenden Schuhe gefunden hatten, kramte Mutter zehn Mark aus dem Portemonnaie, legte den Schein auf den Münzteller und erklärte: „Wir kaufen dieses Paar, holen es jedoch erst ab, wenn der Rest bezahlt ist.“
So war halt meine Mutter. Woche für Woche trug sie nun einen Fünfer zum Schuster, und erst wenn der letzte Pfennig beisammen war, durften die neuen Schuhe getragen werden, aber vorerst nur an Sonn- und Feiertagen. Und Fußball spielen durften wir damit schon gar nicht!
Nein, Schuhe gab es Weihnachten also nicht, das war klar. Doch warum sollte ich mir auch Gedanken darüber machen, denn als Kind - ich war damals zehn Jahre alt - freute man sich natürlich mehr über Sachen, mit denen man spielen konnte. Ein Ball zum Beispiel wäre etwas Feines. Der Nachbarjunge hatte zum Geburtstag einen richtigen Fußball bekommen und im Handumdrehen viele Freunde, weil jeder einmal mitspielen wollte.
Aber von so einem Geschenk konnte ich nur träumen, denn dafür hatte das Christkind bestimmt kein Geld. Ich überlegte, wie das im letzten Jahr gewesen war. Schon Tage vor dem Fest durfte keiner mehr in die gute Stube gehen, weil dort die Bescherung vorbereitet wurde. Wenn sich auch erste Zweifel regten, ob es den Nikolaus, den Osterhasen und das Christkind wirklich gab, glaubten wir dennoch daran, denn die Eltern hatten es ja erzählt. Einmal schlichen wir nachts zur Zimmertür, aber sie war verschlossen. Auf dem Weg zurück ins gemeinsam benutzte Bett stand Vater plötzlich vor uns und schimpfte gehörig.
Bei der Bescherung gab es ein paar Süßigkeiten. Eifersüchtig zählten wir nach, ob nicht einer mehr als der andere bekommen hatte. Wir teilten uns die Kostbarkeiten sorgsam ein und verlängerten so die weihnachtliche Zeit bis in den Februar. Mehr als ein Bonbon am Tag naschen war Verschwendung. Wir schlossen Wetten ab, und wer seinen Vorrat am längsten aufsparte, hatte gewonnen. Tag für Tag kontrollierte jeder seinen Teller und es gab den schönsten Streit, wenn sich einer am fremden Eigentum vergriffen hatte.
Die Tage bis zum Weihnachtsfest eilten dahin. Am Heiligen Abend wurde die Tür zur guten Stube geöffnet. Unter kunstvoll bemaltem Felsenpapier stand die alte, aus Kirschbaumholz gezimmerte Krippe. Hirten waren gekommen, Schafe, Ochs und Esel. Ehrfürchtig schauten sie hinunter auf das Jesuskind und teilten ihre Freude mit Maria und Josef. Der Tannenbaum war festlich mit glitzerndem Lametta geschmückt. Das Licht der Wachskerzen spiegelte sich lustig im Glanz der bunten Kugeln, die ringsum an den Zweigen hingen. Im Zimmer duftete es nach Bratäpfeln. Unsere Gesichter strahlten vor Freude und Neugier.
Wir sangen das Lied ‚Zu Bethlehem geboren‘ und liefen dann erwartungsvoll zu den Tellern. Sie waren gefüllt mit Esskastanien, Baumnüssen, Äpfeln und Bonbons. Eine ganze Tafel Schokolade lachte aus dem Schlemmerparadies hervor. Und Päckchen warteten dort, zwei an der Zahl. Wir entfernten sorgsam das Papier und sahen uns ein wenig enttäuscht an, weil wieder einmal nur Hemden darin steckten. Später entdeckten wir ein weiteres Paket, das hinter der Krippe versteckt war. Ein Geschenk für beide gemeinsam. Wir öffneten es neugierig – und heraus kullerte ein kleiner, bunter Gummiball.
Tagelang spielten wir mit dem Ball, wagten jedoch nicht ein einziges Mal, das kostbare Geschenk mit dem Fuß zu berühren. Irgendwann kullerte der sorgsam gehütete Schatz in einen Stacheldrahtzaun und hauchte langsam sein Leben aus. Wir versuchten das Loch mit einem Heftpflaster abzudichten, versuchten es mit Alleskleber und mit Kaugummi, doch alle Mühe war vergebens. Der Traum vom beständigen Glück hatte die Dornen berührt und ein leises Ahnen der Vergänglichkeit überschattete unsere Kinderseelen.
Drei Jahre später schenkten die Eltern mir den ersten Füllfederhalter, und als ich mit vierzehn die Lehre anfing, die erste Armbanduhr. Doch die Freude über den kleinen Ball war ungleich größer und ist noch heute eine der schönsten Erinnerungen an meine Kinderzeit.
 

Antaris

Mitglied
Melancholisch

Lieber Willi,

ich glaube, solche Geschichten haben die meisten Leute meiner Generation schon von ihren Eltern oder Großeltern mit erhobenem Zeigefinger zu hören bekommen, aber wie Du sie erzählst, geht sie einem schon sehr nahe. Du belehrst Deine Mitmenschen nicht, Du erzählst und läßt Deine Leser selbst ihre Schlüsse ziehen, und das ist gut so.

Ich eine Weile überlegen ehe ich etwas dazu schreibe. Mir fällt bei Deinen Texten ohnehin immer wieder auf, dass sie sowas - wie soll ich sagen - Liebenswürdiges, Herzliches an sich haben. Das ist mir zehnmal lieber wie technisch perfekt geschliffenes leeres Geschwafel.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 
Liebe Antaris,
vielen Dank für dein Interesse.
Du hast dein Lob in wunderschöne Worte gekleidet.
Darüber freue ich mich natürlich besonders.

Herzliche Grüße
Willi
 
R

Rote Socke

Gast
Und wieder...

...hat es ein Werk hierher geschafft. Eine runde Erzählung ist's geworden und eine gute Einstimmung für die kommende Zeit. Hat mich wieder sehr gefreut dabei sein zu dürfen.

LG
Volkmar
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Willi,

auch ich habe lange überlegt, ob und vor allem was ich zu deiner kleinen Weihnachtsgeschichte schreiben soll. Eines vorweg: Allem, was Antaris schreibt, kann man nur zustimmen. Doch das betrifft in meinen Augen dein gesamtes Schaffen hier. Darin ist die vorliegende Geschichte zwar mit eingeschlossen, aber irgend etwas scheint mir nicht ganz stimmig. Irgend etwas ist nicht rund. Nein - ich meine nicht den Stil. Nein, nein - wir haben es mit einem "echten Willi" zu tun. Es ist wohl der Inhalt. Ich bilde mir ein, hier drei in unterschiedlichem Maße unvollständige Geschichten gelesen zu haben.
Die erste handelt von zwei Jungen und deren weihnachtliche Vorfreuden, wobei das Rätselraten über mögliche Geschenke der zentrale Punkt ist.
Dann gibt es die Schusterszene (sehr ins Detail gehend), aus der sich ebenfalls eine eigene Geschichte machen ließe.
Und zum Schluß die Bescherung (als Höhepunkt), der unerwartete Ball, der dann aber recht sang- und klanglos sein Leben im Stacheldraht aushaucht.
Ja - ich glaube, drei oder zumindest zwei Storys hätte man daraus getrost basteln können.... sollen... müssen...?
Aber das ist nur ein Eindruck. Sicher bin ich mir nicht.

Gruß Ralph
 
Lieber Ralph,
vielen Dank für dein Interesse. Ich glaube, du hast den entscheidenden Hinweis geliefert.
Der Text landete noch einmal in der Schreibwerkstatt, weil ich - trotz seiner Veröffentlichung - nicht zufrieden mit ihm war. (man lernt ja immer noch dazu) Die Geschichte war nicht rund, wie du richtig sagst. Der Schluss beantwortet keine der Fragen, die eingangs gestellt werden, mithin fehlt ein entscheidendes Element der Kurzgeschichte.
Fazit: Entweder muss ich den Besuch beim Schuster in Handlung umsetzen, oder wirklich zwei Geschichten daraus machen.
Ich bitte dich, auch weiterhin ein wachsames Auge auf meine Texte zu werfen. Konstruktive Kritik kommt bei mir immer an und wird auch umgesetzt, wenn der Tipp sinnvoll erscheint.
Es grüßt dich herzlich
Willi
 

Antaris

Mitglied
Funktioniert

Hallo Willi,

na, ich weiß nicht. Ist das wirklich Dein Ding, eine Geschichte durchzutheoretisieren und nach den bekannten Regeln zu frisieren? Dann mach mal...ich bin gespannt auf das Ergebnis, aber wirf die alte Geschichte auf keinen Fall weg. Tatsache ist für mich, dass Deine Geschichte auch so funktioniert wie sie ist. Technik mag hilfreich sein beim Schreiben, ist aber nicht alles. Böll hat seinen Nobelpreis auch nicht wegen einem geschliffenen Schreibstil bekommen.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
lieber

willi, deine geschichte ist wunderschön geworden. ich bin in versuchung, sie in meinem haus ans schwarze brett zu heften, denn auf unserem hof liegen seit juni sage und schreibe 4 bälle herum! ganz lieb grüßt
 
Hallo Antaris,
vielen Dank für deine aufmunternden Worte.
Ich habe ganz für mich den Ablauf der Handlung einmal umgestellt, aber etwas besseres ist dabei auch nicht herausgekommen.
Spaß hat es trotzdem gemacht.
Mit den besten Grüßen
Willi
 
Auch dir, liebe oldicke,
ein herzliches Dankeschön.
Die Bälle kannst du mir schicken. Wir basteln
neue Geschichten daraus.
Es grüßt dich ganz lieb
Willi

PS. In der Schreibwerkstatt parkt eine Provence-Geschichte. Würde mich sehr freuen, wenn ihr auch dazu eure Meinung sagen würdet.
 

Brigitte

Mitglied
Lieber Willi,
Eine schöne, gelungene Geschichte, die mir zwar schon vorher gefallen hat, aber jetzt, nach ihrer Vollendung, noch besser.

Liebe Grüsse
Brigitte
 



 
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