Weihnachten 2000

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Frieda

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Weihnachten 2000

Weihnachten 2000 war für mich eine ganz besondere Zeit, rückblickend betrachtet war es der entscheidende Wendepunkt meines Lebens. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Feiertage durchstehen sollte. Drei Wochen zuvor hatten sie mich aus der Therapie entlassen. Damals konnte ich kaum aufhören zu heulen, so glücklich war ich. Ich hatte es geschafft, wer hätte mir das zugetraut! Das Leben danach war nicht gerade leicht, mit dem bißchen Sozialhilfe, ohne Familie und Freunde. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, trocken zu bleiben. Und gerade an Weihnachten wollte ich mich nicht wieder gehen lassen, nicht in diesen tödlichen Strudel geraten, aus dem ich mich gerade erst mit Mühe befreit hatte.

Am Heiligabend war ich morgens extra früh aufgestanden um zur "Mainzer Tafel" zu gehen. Erst wollte ich nicht, denn mir ging es nicht so gut. Aber ich brauchte die Lebensmittel dringend. Außerdem hatte ich gehört, an Weihnachten verteilen sie dort Sachen, die es sonst nicht gibt. Es war mir peinlich, daß ich auf diese Lebensmittelspenden angewiesen war. Mein Selbstbewußtsein war schon genug angeknacks, aber ohne diese Hilfe wäre ich in der ersten Zeit niemals über die Runden gekommen.

Also machte ich mich auf den Weg und stand gegen halb neun dort vor der Tür, noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Einlaß. Ich stand da in einer Schlange grauer Wintergestalten und fühlte mich total beschissen, so richtig minderwertig. Ich konnte es nicht erklären aber irgendwie schämte ich mich. Seit meiner Entlassung ging ich zwei Mal die Woche zur "Mainzer Tafel", das hatte mir vorher nie Schwierigkeiten bereitet. Vielleicht wegen Weihnachten? Ich fühlte mich wie eine Bettlerin, die auf Almosen aus war. Naja, schließlich war es ja auch so. Ich lebte von dem, was andere wegwarfen, ein Scheißgefühl.

Eigentlich fand ich es gut, das es so etwas gab, aber in dem Moment sagte mir das leider nur mein Verstand. Die halbe Stunde, die ich warten mußte, kam mir wie eine Ewigkeit vor, ich wäre mehr als einmal liebend gerne gegangen. Es war gräßlich, dort mit den anderen Menschen zu stehen. Ständig kamen Passanten vorbei. Einige von ihnen schauten zu uns rüber. Was mochten sie wohl denken? Bestimmt nicht nur Freundliches. Mein Gefühl sagte mir: Tu dir das nicht an, geh einfach weg! Aber mein Verstand befahl mir: Bleib da, sei kein Narr, du brauchst die Lebensmittel, auch an Weihnachten.
Ich blieb. Aber ich fragte mich verzweifelt, warum ich das Ganze nicht etwas lockerer nehmen konnte, als vorübergehende Krise, die vielleicht jeder einmal hat, die aber nicht weiter schlimm ist.

Zur normalen Ration bekam jeder noch ein Päckchen, das irgendwelche Schüler gespendet hatten. Es war in Geschenkpapier eingewickelt, so daß man nicht gleich den Inhalt sehen konnte. Für einen winzigen Augenblick durchfloß mich ein Gefühl von Ruhe und Wärme, aber gleich darauf wieder dieses vertraute Gefühl von Peinlichkeit. Du darfst das nicht annehmen, ging es mir durch den Kopf. Ich habe es dann doch angenommen, schnappte mir hastig noch mein Lebensmittelpaket und machte mich schleunigst aus dem Staub.

Eine Weile lief ich ziellos umher. Eigentlich wäre ich gerne ins "Senfkorn" gegangen um einen Kakao zu trinken. Im "Senfkorn" wurde kein Alkohol ausgeschenkt, dort konnte ich Gleichgesinnte treffen. Aber ich dachte, jetzt habe ich gerade umsonst die Lebensmittel geschnorrt und dann gehe ich als nächstes in die Kneipe und haue meine letzten Kröten auf den Kopf. Nein, das konnte nicht tun, also machte ich mich auf den Heimweg. Gegen elf Uhr kam ich zu Hause an, schmiß das Zeug hin und heulte erstmal so richtig los.

Scheißweihnachten, wozu überhaupt das ganze Theater? Mein Blick fiel auf das Päckchen. Irgend ein Kind hier in der Stadt hatte es für mich gepackt. Für mich? Quatsch, ich war gar nicht gemeint. Sie hatten es mir nicht gegeben, um mir eine Freude zu machen, sondern weil es mir von Amts wegen zustand. Mein Einkommen lag unter der Armutsgrenze, also durfte ich mir zweimal die Woche Lebensmittel abholen und zu Weihnachten gab es ein Geschenk. Logisch oder? Solche Päckchen haben wir früher auch jedes Jahr in der Schule gepackt. Jeder mußte etwas mitbringen, ich habe es schon damals gehaßt.
Na schön, aber reingucken konnte ich ja mal.

Donnerwetter, die Kids hatten wirklich an alles gedacht: Ein paar Teelichter, ein Pfund Kaffee (ich vertrage keinen Kaffee), eine Tafel Zartbitter-Schokolade, ein Schoko-Weihnachstmann und eine Packung "Määnzer Huschtegudsjer" (zu Deutsch: Mainzer Hustenbonbons). Kein Alkohol, verdammt nochmal, nicht mal Likörpralinen. Scheiße, reiß dich zusammen, du bist doch jetzt trocken oder was? Obenauf lag eine Weihnachstkarte, auf der die beiden Kinder, die das Päckchen zurecht gemacht hatten, dem Empfänger "Frohe Weihnachten" wünschten. Mir war sauelend. Eigentlich müßte ich mich freuen, dachte ich. Nicht mal freuen kann ich mich, was kann ich denn überhaupt? Heulen, schreien, kotzen, ja das kann ich gut. Mensch verflucht, warum mußte es mir so verdammt dreckig gehen.

Ich ließ den ganzen Kram einfach liegen und packte mich erst einmal ins Bett um zu pennen. Abschalten, bloß nichts mehr fühlen. Scheiße, deswegen würde ich wieder die ganze Nacht nicht schlafen können. Egal, ich konnte einfach nicht mehr, wenigstens für ein kleines Weilchen abschalten. Tagsüber geht das meistens, nur die Nächte ... Naja, nicht dran denken.
Nach zwei Stunden wurde ich wieder wach und machte mich so langsam fertig für den Nachmittag. Ich war ausgeruht und relativ gut drauf, zumindest besser als am Vormittag.

Gegen 17 Uhr ging ich ins Bürgerhaus. Dort war ein offenes Weihnachtsfest unter dem Motto "KEINER SOLL EINSAM SEIN". Ich kam etwas zu spät, fast alle Plätze waren schon besetzt. Da stand ich nun dumm in der Tür und wäre beinahe wieder gegangen. Mir fehlte einfach der Mut durch den Raum zu gehen um mir einen freien Platz zu suchen. Gott sei Dank kam einer der Helfer auf mich zu und fragte mich freundlich, was er für mich tun könnte.

Mit seiner Hilfe fand ich tatsächlich noch ein Plätzchen an einem Tisch im hinteren Teil es Raumes. Zum Glück gab es auch heiße Schokolade, da ich ja keine Kaffee trinke. Ich war richtig stolz auf mich, daß ich es bis hierher geschafft hatte, jetzt ließ ich erst einmal alles auf mich einwirken. Erstaunlich, wie viele Menschen hier waren, ältere, jüngere und ganze Familien mit ihren Kindern. Die Helfer waren sehr aufmerksam, sie schenkten fleißig Kaffee und Kakao nach. Eine Live-Band spielte Oldies aus den Sechzigern, und ein paar Leute tanzten sogar zwischen den Reihen. Die Stimmung wurde richtig ausgelassen. Mir ging es mal so und mal so, ich war froh, daß niemand mich ansprach.

Die unaufdringliche Aufmerksamkeit der Helfer tat mir wohl, und auch, daß so viele Menschen hier waren, denen es anscheinend ähnlich ging wie mir. Doch nach einiger Zeit kippte das ganze und ich versackte wieder in meinem alten Gefühlschaos. Jedes Mal das Gleiche: Einerseits war ich froh dabei sein zu können, andererseits schämte ich mich und fühlte mich miserabel. Das Programm war sehr gut gemacht, die Leute waren nett, warum konnte ich mich nicht einfach wohlfühlen? Mir war zum Heulen zumute, am liebsten wäre ich rausgerannt.

Trotzdem, oder gerade deswegen, blieb ich bis zum Ende. Am Schluß gab es für jeden noch ein Geschenk, ein kleines Keramiktöpfchen mit einem Mainzer Handkäs. Toll! Was den Sponsoren immer so einfällt! Mainzer Handkäs für Sozialhilfe-Empfänger. Jedem sein Keramikpöttchen. Naja, wie auch immer, unsereiner kann nicht wählerisch sein. Die Helfer, die die Geschenke verteilten, gingen ein paar mal an mir vorbei, aber ich streckte nicht, wie die anderen, die Hände aus. Das kam mir aufdringlich und gierig vor. Ich wagte es nicht, obwohl ich auch gern ein Geschenk gehabt hätte. Wahrscheinlich wäre ich wieder einmal leer ausgegangen, wenn nicht plötzlich ein Helfer direkt auf mich zugekommen wäre und mir ein Töpfchen in die Hand gedrückt hätte. Ich war total überrascht, beschämt und glücklich.

Gegen 20 Uhr war die Veranstaltung zu Ende. Ich hatte schon meine Jacke an und wollte gerade gehen, als mir einfiel, was ich tun könnte, um mich besser zu fühlen. Ich ging noch einmal zurück und bot einem der Helfer an, beim Aufräumen mit anzupacken. Er war überrascht, schien sich zu freuen, aber er lehnte dankend meine Hilfe ab. Schade, es hätte mir sehr viel bedeutet. Ohne noch etwas zu sagen schlich ich wie ein geprügelter Hund davon. Ich kam mir so schäbig und so unnütz vor. All die Gefühle, die sonst im Jahr gut dosiert einzeln hochkommen, schienen mich nun überrennen zu wollen. Warum denn gerade ich? Nein, laßt mich zufrieden, nicht heute!
Wutentbrannt schleuderte ich mein Keramikpöttchen gegen die nächste Hauswand. Gut daß mich keiner gesehen hatte, wenigstens war mir nachher leichter.

Ich lief zwei Stunden durch die eisigen Straßen, dann endlich war es 22 Uhr, Zeit für die Christmette. Dort saß ich eine geschlagene Stunde ohne auf die Predigt zu achten und versuchte vergeblich, die Kälte aus meinen Gliedern zu vertreiben. Als der Gottesdienst vorbei war, zog es mich nach vorn zum Altar, wo man eine große Krippe aufgebaut hatte. Wie schön sie war! Ich blieb wie verzaubert stehen und hoffte, der Anblick würde mir wenigstens ein Stück meines inneren Friedens zurückgeben. Leider drängelten die Leute hinter mir, also mußte ich weiter gehen. Der Pfarrer lud ein, noch eine Weile im Vorraum der Kirche zu bleiben, etwas zu trinken und ein wenig zu plaudern. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich bleiben oder nicht? Ich blieb nicht. Nein, bestimmt hatte er nicht mich gemeint.

Ich ging. Erst langsam, dann immer schneller. Aber ich fühlte mich trotz meiner Geschwindigkeit unbeweglich und schwer, wie ein Stein. All die widerstreitenden Gefühle dieses Tages, die Gefühle jedes einzelnen beschissenen Tages meines Lebens, ich wollte ihnen davonlaufen, aber sie holten mich immer wieder ein. Ich bin ein Garnichts, eine Null: Hat nichts und ist nichts, für niemanden von Bedeutung! Mein ganzes Leben war ich fehl am Platze gewesen, nicht nur heute abend, immer schon.

Also lief ich, die Orgelmusik aus der Kirche noch im Ohr, ohne Pause, mit schmerzenden Schultern, in entsetzlicher Verfassung. Ich lief und lief ohne Sinn und Verstand und spürte kaum die Kälte.
Irgendwann in der Nacht kam ich ziemlich fertig bei mir zu Hause an. Ich hatte es tatsächlich geschafft. GESCHAFFT! Zu Hause! Ich war zu Hause und mir war nichts passiert. Jetzt wollte ich nur noch schlafen. Ich wollte nichts mehr wissen. Sie sollten mich alle in Frieden lassen!

Das war nicht unbedingt ein Weihnachtsfest, wie ich es jedes Jahr erleben möchte. Trotz allem, es hat mir gezeigt, wo ich jetzt stehe. Diese extremen Stimmungsschwankungen können mich immer noch vollkommen fertigmachen. Aber ich kann jetzt besser damit umgehen, ich kann es schaffen. Und für nächstes Jahr habe ich mir vorgenommen, wieder ins Bürgerhaus zu gehen. Dann aber hoffentlich als eine der Helferinnen.
 



 
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