Weihnachten

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nisavi

Mitglied
Der Rotwein war teuer gewesen. Jetzt standen nur noch die leeren Gläser auf dem Tisch. Einige von ihnen funkelten mitleidig.
Andere trugen Spuren vollmundiger Versprechen. Rote Halbmonde.
Auf dem Weg zur Spülmaschine verwischten die Worte.
Im Radio sangen Knabenchöre.
Die Erinnerungen an Umarmungen zum Abschied hatten sich flink im Mauerwerk versteckt. Wenn man versuchte, sie zu fangen, zeigten sie ihre widerlich weißen Bäuche wie Silberfische. Weiße Westen. Übelkeit stieg in ihr auf.
Sie versuchte, sich auf die Unordnung im Wohnzimmer zu konzentrieren.
Goldene Schleifen lagen umher. Geschenkbänder. Zerknüllte Folien. Hölzerne Weihnachtsmänner. Bedächtig strich sie Wünsche aus zerrissenem Geschenkpapier. Erfüllte wie unerfüllte.
Sie fand einen Strohstern und betrachtete ihn auf der Handfläche. Dann schloss sie ihre Finger um ihn, so, dass es schmerzte.
Das Haus war hell erleuchtet. Sie lief durch die Diele und ging vor die Wohnungstür.
Dunkelheit umfing sie dort. Stille. Der Nachthimmel knisterte wie Taft. Es roch nach Stall.
Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte sie nicht nur mit dem Mund: Weihnachten roch nach Stall. Nicht nach Zimt, Gänsebraten oder Parfüm.
Sie öffnete ihre Faust und warf den kleinen Stern zusammen mit einem großen Wunsch in die Nacht.
 

Gandl

Mitglied
Das gefällt mir sehr. Wie die Dinge und die Gedanken ein Eigenleben erhalten, die die Verfassung der Frau präzise und wuchtig beschreiben, das ist klasse gemacht.
 
H

HFleiss

Gast
Eine sehr schön gestaltete Geschichte, die Traurigkeit nach dem Fest. Lediglich die Sache mit dem Mauerwerk finde ich ein bisschen zu stark als Metapher.

Gruß
Hanna
 



 
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