Weihnachtsbräuche

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Pinky

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Joseph hetzte durch die Gänge der Station. Er keuchte und schnaufte, seine Beine schmerzten taten weh. Er bog um die nächste Ecke und stieß mit einem seiner Kollegen zusammen. Eine Entschuldigung murmelnd rappelte er sich wieder hoch, trat beinahe auf einen Säuberungsbot und lief weiter. Den festlichen Schmuck an den kalten Stahlwänden bemerkte er dabei gar nicht. Jemand rief ihm fröhlich etwas zu, doch er hörte es ebensowenig wie die leise Musik, die aus den Stationslautsprechern kam. Dann bog er endlich in den letzten Gang und knallte benahe gegen das Gitter vor der Tür des Magazins.
"Claus!" rief er und rüttelte wie besessen an dem Gitter. "Claus ... du musst ... du musst ... mir helfen!" Joseph keuchte von dem anstrengenden Lauf. Er war nicht unbedingt der fitteste und Schweiß lief nun in Strömen über seine Stirn in seinen Vollbart.
Eine etwas verwahrlost aussehende Gestalt schlurfte aus den Tiefen des Magazins heran und blickte Joseph desinteressiert durchs Gitter an.
"Was?" fragte Claus. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass heute noch jemand etwas von ihm wollten.
"Ich ... ich brauche ...", stammelte Joseph immer noch schwer keuchend. "Ich brauche ... brauche ... ein Geschenk!"
"Ein Geschenk?" Claus riss fast erschrocken die Augen auf. "Es ist Weihnachten, Mann!"
"Ich weiß, mein Gott!" stöhnte Jospeh. "Was glaubst du, weshalb ich ein Geschenk brauche! Los, mach schon auf, du bist meine letzte Hoffnung!"
"Ja, aber heute ist Weihnachten!" beharrte Claus und rührte sich nicht. "Du solltest schon die längste Zeit ein Geschenk haben."
"Nun mach schon auf, du weißt doch genau wie das ist! Alles ist fertig und vorbereitet, nur das wichtigste erledigt man immer erst zum Schluss."
"Das Geschenk für deine Frau?" fragte Claus und kratzte sich am Bauch.
"Das Geschenk für meine Frau", bestätigte Joseph. Und er hätte es beinahe völlig vergessen.
Claus nickte verständnisvoll, drückte einen Knopf und das Gitter vor der Tür des Magazins ging hoch. Joseph trat dankbar ein.
"Also, woran hast du gedacht?" fragte Claus während er vor ihm her schlurfte. Joseph sah sich um: Scheinbar endlose Regale zogen sich durch die ausgedehnten Räume des Maazins, Kisten stapelten sich bis zur Decke, Fässer versteckten sich irgendwo weiter hinten, zahllose Ersatzteile und ganze technische Geräte standen und lagen hier herum und warteten auf ihren Einsatz. Es schien nichts zu geben, was es ihm Magazin nicht gab, und gerüchteweise lagerte hier sogar, gut verpackt, ein kleines Raumschiff. Auf einem Forschungs- und Beobachtungsposten am äußersten Rande des bekannten Teils der Galaxis war es besser, alles vorrätig zu haben, da die Lieferzeiten endlos waren.
"Keine Ahnung, was hast du denn?" Ein netter Brauch, sich zu Weihnachten Geschenke zu machen, aber für Joseph jedes Jahr aufs neue ein fast unmögliches Unterfangen.
"So ziemlich alles, das weißt du doch. Wieviel möchtest du denn ausgeben?"
Damit traf Claus so etwas wie einen wunden Punkt bei Joseph und er legte rasch den ionengetriebenen Handmixer mit Kraftfeldquirler aus der Hand als er an den Preis dachte. Natürlich war ihm für seine über alles geliebte Frau nichts zu teuer, nur konnte er es sich nicht leisten.
"Viel leider nicht, das meiste unserer Ersparnisse ist für unseren Weihnachtsbaum draufgegangen."
Claus drehte sich überrascht um.
"Ihr habt einen Weihnachtsbaum?"
Joseph nickte stolz.
"Einen echten?"
"Echte irdische Silbertanne, fast zwei Meter hoch und wunderschön gewachsen. Drei Jahre haben wir darauf gespart und fünf Monate war er unterwegs, aber das war es wert! Und wenn wir ihn schockgefrieren, können wir ihn sicher noch zwei Mal verwenden."
Claus zeigte sich richtig beeindruckt. Seit man vor zweieinhalb Jahrzehnten Aufzeichnungen darüber entdeckt hatte, wie man vor gut fünfhundert Jahren Weihnachten gefeiert hatte, sehnte man sich überall in der Galaxis wieder nach etwas Geborgenheit und Heimeligkeit. Plötzlich, zum ersten Mal seit man mit der Besiedlung des Weltalls begonnen hatte, begann man, sich in den kalten und leeren Weiten des Alls etwas einsam und weit weg von zu Hause zu fühlen. Getrieben von einem Gefühl nostalgischer Schwermut hatte das zum Aufleben der sogenannten Antik-Weihnacht, einer weihnachtlichen Retro-Welle, geführt. Man experimentierte wieder mit gebackenen Keksen, was in der Anfangszeit oft verheerend geendet hatte, und stellte sich wieder Holzkrippen - oder zumindest welche aus Holzimitaten - in die Kunststoff-Wohnkammern. Zugegeben, die Hirten waren durch NASA-Ingenieure ersetzte worden, gefolgt von einer kleinen Herde treuer Marssonden, und ein kleiner Sputnik hatte den Stern zu Bethlehem verdrängt, alles in Andenken an die Anfänge der menschlichen Raumfahrt, aber es waren ihm Grunde doch Krippen. Ein Jesus-Kind blieb ein Jesus-Kind und man war stolz darauf. Auch wenn nur noch wenige wussten, was es damit auf sich hatte.
Sogar einige Weihnachtslieder hatte man wieder entdeckt. Viele waren nur bruchstückhaft erhalten und mit anderen konnte man vielerorts nichts so recht anzufangen. So wusste man auf vielen Planeten nicht, was Schnee war, und keiner wollte "Leise rieselt der Staub" singen. Nicht nur, weil sich darauf nicht viel reimte.
Aber das höchste der Gefühle, die Krönung eines Weihnachtsfests fern der Erde, war ein echter Weihnachtsbaum. Dieser vermittelte erst das wahre wohlige Gefühl der Geborgenheit, auch hier auf der Forschungs- und Beobachtungsbasis Argus Deus, von ihren Bewohnern liebevoll "Base Auguste" genannt, hier, am Ende von Nirgendwo. Und er machte die Nachbarn neidisch.
"Dann versteh ich, dass du nicht mehr viel übrig hast." Claus suchte etwas in dem Regal herum, vor dem er stand und angelte schließlich, scheinbar wahllos, etwas heraus. "Wie wär's damit?"
Er hielt Joseph einen Sandpiekser entgegen. Ein irrsinnig praktisches Gerät wenn es darum ging, Sand aus dem Getriebe, beziehungsweise Planetenstaub aus den Geräten zu entfernen. Nicht uninteressiert nahm Joseph es entgegen.
"Ja, das könnte ich schon gut brauchen", meinte er und drehte das Gerät nachdenklich in den Händen. Dann fiel ihm etwas ein und er fügte hastig hinzu: "Und meine Frau natürlich auch."
Nach kurzem Überlegen fiel ihm jedoch das letzte Mal ein, als er etwas geschenkt hatte, das er besser brauchen konnte, als seine Frau. Fast eine Woche lang hatte er eine Beule am Hinterkopf gehabt.
Er rieb sich in schlechter Erinnerung die besagte Stelle und legte den Sandpiekser wieder ins Regal. Dann fiel sein Blick auf ein anderes Stück.
Joseph nahm das Ding heraus und betrachtete es skeptisch. Es sah irgendwie aus wie ein Kegel, den jemand einzuschmelzen versucht hatte, war schwarz und silbern und hatte ein Licht.
"Was ist das?" erkundigte er sich, obwohl er jetzt schon wusste, dass sein Frau kaum begeistert davon sein dürfte.
"Ein, äh, Domkröner, Silber", erklärte Claus nach einem kurzen Blick auf die Schachtel.
"Und was macht es?"
"Nun, in erster Linie fängt es Staub, denke ich. Aber da wir hier in einer ziemlich sterilen Gegend wohnen, macht es eigentlich gar nichts."
Auch dieses Gerät fand seinen Weg zurück ins Regal.
"Schenk doch was praktisches", schlug Claus vor.
"Man merkt dass du nicht verheiratet bist", sagte Joseph ohne den suchenden Blick vom Regal zu nehmen. "Ich kann doch zu Weihnachten nichts praktisches schenken, so weit kommt's noch."
"Dann bleibt auf die schnelle wohl nur noch das hier", sagte Claus und holte eine Kette mit einem wunderschön eingearbeiteten Kristall von einem der Saturnmonde hervor.
Joseph nahm vorsichtig den Kristall in die Hand und betrachtete ihn. Sein Spiegelbild brach sich mehrfach in der geschliffenen Oberfläche. Der würde seiner Frau gefallen, das war gewiss, aber billig würde das nicht werden; Kristalle von den Saturnmonden waren nicht einfach zu bekommen - die kleinen Mistkerle, die dort hausten hatten noch jeden Kristallsucher früher oder später an einen Stein geschweißt.
Andererseits: Dann würde es heute Abend bestimmt nicht nur bei einer Bescherung bleiben, dachte Joseph grinsend.
"Also gut, besser wird's wohl eh nicht mehr. Ich nehm die Kette. Aber mach's nicht zu teuer, bitte!"
"Weil du's bist, ein Freundschaftspreis. Und du musst es nicht gleich bezahlen. Beim nächsten Lohnzyklus ist früh genug."
"Danke!" strahlte Joseph und nahm die Kette entgegen. "Und Frohe Weihnachten!"
"Gerne doch!" erwiderte Claus, jetzt ebenfalls lachend. "Frohe Weihnachten!" Hinter dem glücklich hinausspazierenden Joseph verschloss er das Gitter am Eingang zum Magazin wieder. Es war jedes Jahr das gleiche.
Joseph jedoch hatte nun alles, was er brauchte: Kekse, eine Krippe, einen echten Weihnachtsbaum - und ein Geschenk, das er in letzter Minute besorgt hatte, ganz wie es die Tradition verlangte. Weihnachten würde perfekt werden.
Fröhlich sang er zusammen mit den Stationslautsprechern laut und falsch "Ihr Kinderlein kommet".
 



 
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