Weihnachtsschmetterlinge

Blue Sky

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Dieses Weihnachten bei meinen Eltern erwartete ich wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.
Mein fünfjähriger Neffe Fiete brannte aber vor Freude auf den Heiligabend und dass ihm der Weihnachtsmann persönlich Geschenke bringen würde. So war er es, der mich ansteckte und beflügelte, ihm seinen Wunsch, mit dem Darsteller von einer Agentur wahr werden zu lassen.
Am Nachmittag des 23. klingelte es, wie verabredet, an der Tür. Fiete war mit seinen Eltern auf dem Markt. Der Zettel mit Daten und Instruktionen für den erwarteten Schauspieler steckte in meiner Hosentasche bereit. Als ich die Wohnungstüre aufzog, blieb mir der Atem weg. Wie von einem Stier über den Haufen gerannt, auf die Hörner genommen und herumgewirbelt flogen meine Gedanken durch die Luft. Angewurzelt und stumm, so meine Befürchtung, kam nicht mal ein "Hallo" über meine Lippen. Sein Lächeln traf mich wie eine Lanze und in seine Augen sah ich durch Fenster einen tiefen blauen Himmel. Ein kurzes “Hi“, hauchte er mir mit einem Schmunzeln entgegen, dann mussten mir die Klinke und der Türrahmen Halt geben. Nach ein paar kurzen fragenden Gesten von ihm kam mir doch noch auch ein etwas verquietschtes “Hi“ aus der Kehle.
»Ja … ich bin ...«, begann er.
»Ich weiß ... Okay, hier steht alles drauf«, unterbrach ich und nestelte nach dem Zettel in meiner Jeans, wobei er mich nicht aus den Augen ließ.
»Na, dann kanns ja losgehen«, meinte er beim Betrachten des Papiers.
Das wäre so wundervoll, wirbelten meine Gedanken gemischt mit meinen Fantasien herum und landeten schließlich in meiner Magengrube zusammen mit dem Anblick seines umwerfenden Lächelns.
»Also morgen um 16:30 Uhr«, fuhr er fort, »der kleine Fiete freut sich sicher schon?«
»Kann es kaum erwarten«, rutschte mir heraus, während sich fast wie von selbst in Zeitlupe meine Hand hob, jedoch vergaß, ihm auch zu winken. Sein Blick haftete an mir, als er sich herumwand und langsam die Stufen der Treppe abwärtsging.
Die Wand hinter mir im Flur war meine Lehne und meine Gedanken folgten seinen Schritten, wie sie leiser wurden, bis sie ganz verhallt waren. Wie eine Motte flatterte ich noch durch das verführerische Licht, welches mir seine Augen geschenkt hatten. In meinem Bauch brummelte und summte es und nicht nur meine Muskeln wurden immer weicher. An der Wand herunter in die Knie gesackt, sprach ich mit mir selbst: »Was war das denn gerade, warum hast du ihn nicht hereingebeten, wie es geplant war?«, klopfte dabei mit dem Hinterkopf an die Wand. Das Scheppern eines Topfdeckels auf Fliesenboden in der Küche holte mich aus meiner Höhe zurück in die Wirklichkeit.
Diese Nacht vor dem Heiligen Abend lag ich wach, leuchtete immer wieder die Karte mit seiner Telefonnummer an, die er mir in die Hand gedrückt hatte. Ich wühlte in meinem Bett herum und er stand immer wieder so verzaubernd vor mir und sagte nur: Hi!

Obwohl ihn sein Kostüm komplett verhüllte, erkannte ich ihn am Heiligen Abend sofort.
Fiete war außer sich vor Entzücken und Aufregung, als er bei der Bescherung auf dem Schoß des Weihnachtsmannes sitzend, die Geschenke überreicht bekam. Ein unvergessliches Erlebnis, hauptsächlich für mich, weil Santa mir unauffällig eine Karte zusteckte. Mein Herz pumpte wild, als ich las, was darauf stand: Frohe Weihnachten! Hast du Lust auf eine Überraschung? Dann erwarte mich morgen um 11:00 Uhr pünktlich unten vor dem Haus und ziehe dich warm an!
Nach der Bescherung hatte ich meine zweite schlaflose Nacht und am Morgen bekam ich vor Aufregung kein Frühstück herunter. Kopflos lief ich in der Wohnung umher und suchte meine wärmste Kleidung zusammen. Dabei schaute ich immer wieder durch das Fenster hinunter auf die tote Straße. Da war es so weit und ich traute meinen Augen nicht. Ein Pferd kam um die Ecke gebogen. Es zog meinen Weihnachtsmann auf einem zweisitzigen Schlitten die Straße hinauf. Im Sprung wirbelte ich mich in meinem Mantel, da klang auch schon seine Nachricht auf meinem Telefon: »Komm runter, lass uns nicht warten.«
»Tschüss, hab‘n Date mit dem Weihnachtsmann, rufe euch später an!«, verabschiedete ich mich in aller Eile und schoss auf dem Geländer das Treppenhaus hinunter.
»Ja, aber was ist denn mit …?«, hörte ich meine Mutter nur noch, bis die Wohnungstür ins Schloss krachte.
Dicke Flocken schwebten nieder auf meinen Weg zu ihm. Es ging nicht anders, als Erstes das Pferd begrüßen und herzen, bevor ich mich auf den Bock neben ihn unter die Decke kuschelte. Das Publikum an den Fenstern ringsum war zahlreich. Ohne Zweifel hatten die solch eine Show hier selten. Da ließ er den Tinker auch schon anziehen. Die Fahrt ging hinaus aus der Stadt über Wiesen, Feldwege und durch ein verschneites Waldstück. Doch von der wunderschönen Landschaft und dem Geschehen um uns herum bekam ich nichts mit, denn meine Augen und Ohren waren bei ihm und seinen Erzählungen. Wir hatten ähnliche berufliche Ziele in der Veterinärmedizin. Er stand bereits vor den Examensprüfungen, während ich im Zweitsemester hing. »Hast du Lust, mit mir zusammenzuarbeiten?«, fragte er und bot mir auch seine Hilfe an. Was für Fragen. Ich musste mich echt zusammenreißen, um nicht ‚ja ich will‘ herauszuschreien. Die Fahrt verging nur so und die traumhafte Landschaft um uns herum trat vollkommen in den Hintergrund. Eisige Kristalle schmolzen auf meinen Wangen, der Wind stach mir in die Lippen und kitzelte mir die Wimpern durch. So angenehm wie jetzt war es mir noch nie.
Da waren wir auch schon in der Einfahrt zu einem Reiterhof. Er meinte, seine Eltern seien über die Feiertage und den Jahreswechsel bei seinem Onkel im Schwarzwald. Er kümmere sich währenddessen hier um alles. Wie ein eingespieltes Team spannten wir ab, versorgten den wunderschönen Braunweißen und brachten ihn in seine Box.
Eine kleine Auswahl an Schlittschuhen hing an einer Wand und wir suchten uns je ein passendes Paar aus. Mit den Schlittschuhen um den Hals gingen wir hinter das Gebäude. Wie der Blitz sausten wir auf einem Rodelschlitten den Abhang hinunter. Zwei Schneeschippen rutschten uns voraus. Kurz vor einem kleinen zugefrorenen Teich kamen wir zum Stehen. Schnell war eine Fläche geräumt und wir wagten uns aufs Eis. Ich stand das erste Mal seit langem wieder auf Kufen und war noch etwas unsicher. Doch an seiner Hand fand ich schnell wieder zu meiner alten Sicherheit zurück. Im engen Tanz mit dicken Schneeflocken drehte sich die weiße Pracht, begleitet von Queen aus meinem Telefon, ausgelassen mit uns und brachten mein Blut in Aufruhr. Immer wieder fielen wir uns in die Arme, hielten einander ausgelassen lachend und tobend in den Schneewehen und verewigten uns als Schneeengel. Schließlich trieb uns die Kälte ins warme Haus.
Ein Feuer im offenen Kamin loderte bald und schickte knisternd unentwegt blutrote Funken den Schlot hinauf. Heiße Schokolade schürte zusätzlich unendliche behagliche Wohnlichkeit. Neben mir auf einem flauschigen Teppich griff er wie selbstverständlich nach meinen Füßen, begann sie sanft zu massieren und zu wärmen. Ein mir bis dahin unbekanntes Glühen untermalte meine geheimsten Vorstellungen. Bunte Falter trugen unverhüllte Wünsche aus meinem Unterleib hinauf in den Kopf und wirbelten sie durcheinander. Er schaute mir tief in die Augen. Ich fühlte mich in dem Moment so geborgen und meine Seele war bereit, sich vor ihm auszurollen. Mit dem Handrücken strich er meinen Schenkel hinauf, seine Berührungen waren wie Magie auf meiner Haut. Er glitt langsam über meine Wange, den Hals hinab, ließ mich wohlig schaudern. Sein Atem hauchte über meine Oberlippe bei der Annäherung und ein Streifen seiner Haut an meiner elektrisierte mich vom Kopf bis in die Zehen. Das Klopfen in meiner Brust konnte nicht zu überhören sein. Seine Hand suchte einen Weg unter meinen Pulli, als sich unsere Lippen berührten. Ich zog ihn an mich, spürte seine starken Muskeln im Rücken. Unsere knisternde Zweisamkeit wurde durch das Klingeln meines Telefons jäh unterbrochen.
Nie hasste ich es mehr als in dem Moment. Mein Vater, dessen aufgeregte Bekümmerung mitzuhören war, fragte mich: »Kind, wo bist du denn? Wie geht es dir? Was machst du bloß? Wir sorgen uns doch. Wann kommst du denn …?«
Mein Engel deutete wortlos kopfschüttelnd nach draußen auf das Wetter. Jedoch konnte ich meine Familie nicht in Enttäuschung zurücklassen, was er auch nur zu gut verstehen konnte. Da seine Eltern mit der Bahn gereist waren, stand ihr Landy im Schuppen für uns bereit. So machten wir uns auf den Heimweg.
Die Wohnungstür sprang auf und mein Vater spähte heraus, gerade als wir uns für einen Kuss zum Abschied näherkamen.
Ausgerechnet diese Weihnachten hing über der Tür nicht wie sonst üblich der Mistelzweig. Die kommenden Tage aber waren trotzdem nur für uns mit den Pferden verplant.
Außer einem Adventsgesteck gab es bei ihm nur das flackernde Licht des Feuers, Wärme und die dicken schwirrenden Flocken vor den Fenstern. Er hatte weder Baum noch Lichterkette. Spielen im Schnee, ein aufgewärmtes Chili vom Vortag und wir selbst als Geschenk für uns, das war das bisher schönste Weihnachten in meinem Leben. Zweifelsohne kam das Christkind in diesem Jahr nur auf die Erde, um mich mit ihm in eine gemeinsame Zeit zu schubsen. Bei so einer Weihnacht konnte ich Silvester kaum erwarten. Und die Telefone sind dann mit Sicherheit stumm geschaltet.
 



 
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