Weihnachtstraum

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Karina

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Wie oft hatte Marie schon versucht, Mütze und Handschuhe aus ihrer Jackentasche zu ziehen und immer wieder daran scheiterte, weil diese plötzlich zugenäht war und ihre klammen Finger nur an harten Nähten hängen blieben.
Sie hatte auch keine Idee, wie lange sie schon auf das schäumende Meer blickte. Nur eine nasse Kälte, die fortwährend an ihren Beinen empor kroch und sie in immer kürzeren Abständen erschauern ließ, verriet ihr, dass sie schon eine ganze Weile an diesem grauen steinigen Strand verharrte.
Auch die aufdringliche Stimme, die sie mehrfach aufforderte, "komm, beweg dich, dann wird dir wieder warm", erzielte keine Wirkung.
Jedes Mal, wenn sie die innere kleine Flamme mit frischen Holzscheiten zu einem wärmenden Feuer entfachen wollte, tauchten lähmende Gedanken auf und umhüllten sie wie ein engmaschiges Kettennetz.
Dabei war doch alles rechtzeitig geschafft, versuchte Marie sich zwischendurch zu beruhigen und ließ noch einmal die vergangenen Tage Revue passieren. Die letzten Anträge im Job bearbeitet, endlose Einkaufslisten erledigt, das Haus weihnachtlich dekoriert, der gleichmäßig gewachsene Tannenbaum geschmückt und frisch duftend an seinem gewohnten Platz, die Geschenke nach Namen geordnet, alle hübsch verpackt unter dem Baum liegend.
"Geh doch endlich nach Hause", tauchte wieder die energische Stimme auf, trotzdem blieb sie weiterhin stehen, schaute unentwegt auf das Meer und hing ihren Gedanken nach.
Ein Jahr, wie schon so viele andere zuvor, ähnlich dem Kommen und Gehen der Wellen, mal stürmisch, mal ruhig und zeitweise sogar glatt und fast bewegungslos, aber immer dem gleichmäßigen Rhythmus der Gezeiten folgend.
Und jetzt steht schon wieder Weihnachten vor der Tür. Sollte es nicht das Fest der Liebe und Wärme sein? "Und was ist mit mir", fragte sich Marie, "ich stehe hier draußen und mein Herz fühlt sich wie ein tiefgefrorener Eisblock an."
Sie wollte nicht länger an diesem kalten grauen Strand stehen, wollte endlich das enge Kettennetz ablegen und zurück in die Wärme. Mühselig versuchte sie einen Schritt vor dem anderen zu setzen. Ihre Beine fühlten sich wie starre unbewegliche Stelzen an. "Nur nicht stolpern", dachte sie und schaute konzentriert nach unten. Was war denn das? Etwas leuchtete außergewöhnlich hell. Nicht weit entfernt erblickte sie einen fast durchsichtigen Stein mit kleinen Ecken und Kanten halb versteckt im Sand liegen. Während Marie noch überlegte, ob sie sich überhaupt danach bücken wollte, sah sie mit einem Mal, dass die Farben des Steins blitzschnell wechselten. Neugierig hob sie ihn auf und wusste sofort, sie hatte etwas Besonderes gefunden.
Marie folgte gebannt dem Farbenspiel des Steines und starrte ungläubig auf eine Gestalt, die sich plötzlich aus der Farbenvielfalt heraus formte und langsam deutlicher wurde. Es war ein kleines Kind, das tief versunken auf einer Fußbank saß und sich immer wieder neue Geschichten erzählte. Auffällig waren seine strahlenden Augen. Sie zogen Marie wie Magnete an und sie glaubte, tief in seine Seele schauen zu können. Und mit einem Mal war ihr, als ob nach und nach der Sog einer mächtigen Welle aus Wärme und Mitgefühl sie erfasste und weit davon trug.

Marie fand sich auf einem kleinen Hocker sitzend mitten auf einem weihnachtlich geschmückten Marktplatz wieder und war verwundert, dass sie gar nicht fror. Ein dick gefütterter langer Wintermantel, eine Wollmütze und warme Winterstiefel schützten sie vor der winterlichen Kälte und den feinen leise herabfallenden Schneeflocken. Auf ihren Knien lag ein großes goldbraunes Buch mit leeren Seiten. "Was mache ich hier nur, keiner beachtet mich", dachte sie und schaute sich staunend um. Die Menschen um sie herum hasteten mit vollen Einkaufstüten über den mit Lichterketten und Weihnachtsbäumen geschmückten Platz. Einige von ihnen waren mit Kopfhörern zugestöpselt und telefonierten oder hörten Musik, andere machten selbst laute Musik und tanzten dazu und sehr viele drängten sich an Glühwein- und Essständen und versuchten ungeduldig ihre Bestellungen aufzugeben. Marie wunderte sich, wie alle beschäftigt waren, sie dagegen hatte sehr viel Zeit und schaute sich alles in Ruhe an - die Menschen, die mitgeführten Tiere, die Häuser, die weihnachtliche Dekoration und auch die vielen anderen Dinge, die es noch auf dem Platz gab. Während sie das Treiben bestaunte, passierte plötzlich etwas Seltsames in ihr. Wie aus dem Nichts öffnete sich knarrend ein lang verschlossenes Tor und ihre Stimme fing an wie selbstverständlich zu erzählen. Zunächst leise und zögerlich, aber je mehr sie selbst Teil ihrer Geschichten wurde, desto klarer, lauter und melodischer erklang sie.
Ein Hund tauchte auf, schaute sie an und legte sich, den Kopf ruhend auf seinen Pfoten, vorsichtig auf den Boden. Ein kleiner Junge blieb stehen und so sehr seine Mutter auch an ihm zerrte, er ließ sich nicht zum Weitergehen bewegen. Mit offenem Mund blickte er auf Marie und hörte ihr zu. Immer mehr Menschen blieben stehen und lauschten den wundersamen Geschichten, nicht nur über Menschen und Tiere, sondern auch über all die Dinge, die gerade in dem Moment sichtbar waren. So gab es den Cappuccino, der sich beim Kellner Fred über einen anderen Cappuccino beschwerte, weil dieser in einer schöneren Tasse serviert wurde. Oder der Weihnachtsbaum, der sich über die ständig leuchtende Lichterkette beklagte, die ihm in der Nacht nicht schlafen ließ und er damit drohte, einfach seine Zweige hängen zu lassen, sollte sich nicht schnellstens etwas ändern.
Mittlerweile standen die Menschen dicht gedrängt um sie herum und hörten ihr einfach nur zu. Erstaunt stellte Marie fest, dass mit jeder neuen Geschichte ein Stift, wie von Zauberhand geführt, die leeren Seiten des Buches füllten. Sie freute sich darüber und je größer die Freude wurde, desto eifriger erzählte sie weiter. Und dann spürte sie wie eine wohlige innere Wärme nach und nach ihr eisiges Herz immer mehr zum Schmelzen brachte.
Irgendwann war auch die letzte Seite gefüllt. Marie klappte das Buch zu. Es war immer noch sehr leise. Sie stand auf und wollte sich gerade für das Zuhören bedanken, doch dann hielt sie inne. Es brauchte keine Worte. Sie sah die Menschen an und sah den Zauber der Stille auf ihren Gesichtern - Freude, Ruhe, Gelassenheit, Traurigkeit, Verlegenheit, Neugier, Zuversicht. Marie schob ihr Buch unter ihren Arm und entfernte sich langsam. Die Menschen um sie herum schienen wie aus einem Traum zu erwachen. Langsam kamen sie in Bewegung, einige lachten und erzählten, andere klopften sich den Schnee ab und nickten sich gegenseitig zu. Alles erschien noch wie vorher und doch auch irgendwie anders.

"Warten Sie, so warten Sie doch." Marie drehte sich um. Eine junge Mutter mit Kind eilte ihr entgegen. "Ich würde gerne das Buch kaufen, ist es in einer Buchhandlung erhältlich?"
"Das Buch gibt es nirgendwo." "Das ist ja schade", entgegnete die Frau. "Dann könnte ich doch vielleicht ihr Buch abkaufen?"
"Das Buch ist unverkäuflich", erwiderte Marie und drückte es fest an sich.
"Es wird jedes Jahr als Gabe unter meinem Weihnachtsbaum liegen und mich stets an meinen Traum erinnern, dass ich im Herzen einfach nur Marie die Geschichtenerzählerin bin."
 



 
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