Weiß-grauer Marmor

Markus Veith

Mitglied
Weiß-grauer Marmor

Kennst du das?
Du sitzt am Rande von diesem Irgendwo und läßt genüßlich die Beine baumeln. Kümmest dich um nichts und niemanden. Du hast dir dein eigenes buntes Bild von dieser grauen Welt gemalt.
Und während du da so sitzt und baumeln läßt, schließt du die Augen und läßt dich dahinziehen.
Ich habe immer schon davon geträumt, mal eine Statue zu sein. In einem Park. Die Statue im Park. Nicht eine von vielen. Und auch nicht für lange. Eine Weile nur.
Oft habe ich mich mal in die Positur gestellt, in der ich dann gerne stehen würde. Unvergänglich steinern und massiv. Weiß-grauer Marmor, das müßte schon sein. Und auch nicht überlebensgroß, nein, nein, das wirkt so plump. Aber auf einem Sockel. O ja. Das müßte schon sein.
Ganz allein auf einem kleinen, kiesbestreuten Platz, der von hohen, dichten Wachholderbüschen halb verdeckt ist. Der Platz ist rund und eingefaßt mit einem niedrigen, verschlungenen, grünen Drahtzaun. Nur eine Bank steht hier. Direkt vor mir. Damit die verliebten Pährchen auch ungestört knutschen können und ich ihnen bei ihren Liebesschwüren lauschen kann.
Um mich herum grünt der Stadtpark. Oder nein, besser, er ist bunt. Es ist Herbst. Die Bäume entkleiden sich. Das bunte Laub verschönert die großen Rasenflächen wie farbige Kleckse. Kinder schlurfen hindurch und werfen Arme voller Blätter in die Höhe, um sie auf sich herunterrieseln zu lassen. Einige andere steinigen den See mit flachen Kieseln. Die Schmetterlinge haben sich lange schon vom Sommerflieder geflüchtet. Dessen lange Kerzen verglühen gerade. Dafür steht das Fingerkraut, das meinen Platz hüfthoch umzingelt, in voller, goldgelber Blüte, und die roten Beeren der Stechpalmen erinnern bereits an die zukünftige Weihnacht.
Am Himmel ziehen die letzten fliegenden Winkel der Zugvögel vorbei, die in die Wärme flüchten.
Eine kleine, weiße Taube läßt sich auf meiner Hand nieder. Ihr rötlicher Fuß ist unberingt. Ganz flauschig sieht sie aus. Ich glaube, sie hat mich gern. -
Oh, ich ... ich würde sie gerne küssen. Meine kalten Lippen in ihrem Schneeflaum verbergen. - Aber es geht nicht. Ich bin aus Marmor. Aus weiß-grauem Marmor.
Komm doch, kleine weiße Taube. Komm. Gelange zu meinem Kuß. Komm zu mir.
Bleib bei mir. - Aber ich bin ihr zu kalt. Zu hart. Und bevor sie meine Hand wieder flatternd verläßt ...
Beschissene Dreistigkeit.
... Mein schöner Marmor ...
Und dann bekomme ich den ersten Tropfen ab. Der spätoktoberliche Regen setzt ein und holt den Großteil des bunten Laubes von den Bäumen herunter.
Zeternde Mütter reißen ihre plärrenden Kinder an den Handgelenken aus den Laubhaufen heraus.
In der Nähe wird lautstark das grölende Geräusch eines Motorengebläses unüberhörbar, mit dem ein mindestens ebenso laut auf das Scheißwetter fluchender Gärtner verzweifelt versucht, die Blätter von den weiten Wiesen zu entfernen. Wogegen sich der Wind nun heftig wehrt, aus welchem Grund auch immer. Darunter kommt nur kaputter Rasen und Matsch zum Vorschein.
Auch das Liebespaar verläßt den Ort seiner Herzensschwüre. Sie schnauzt Ihn an, wie Er denn nur den Schirm zu Hause vergessen konnte. Er gibt zurück, daß Er nicht an alles denken könne und Sie solle ihn bloß in Ruhe lassen.
Ein alter, gefrusteter Junggeselle führt seinen Pitbull aus, der ja ausgerechnet jetzt seinen Drang verspüren mußte. Der Hund hebt sein krummes Hinterbein am Papierkorb, neben dem ein achtlos hingeworfenes, aufgedunsenes Leberwurstbrötchen langsam seine Konsistenz verliert.
Irgendwann hier mache ich die Augen wieder auf, blinzle und bin glücklich, am Rande von diesem Irgendwo zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen.
 

maskeso

Mitglied
Ich finde es wirklich herrlich, wie in diese romantisierte Idylle, in diese wunderbare Traumwelt, kalt und grausam die Wirklichkeit eindringt. Auch noch gut geschildert, schön und flüssig geschrieben. Mag ich.
 
G

Guest

Gast
Hallo, Markus!
Echt toll: Sprache, Darstellung. Wo warst Du eigentlich früher? So findet man ab und zu einige Perlen in dem runden Ordner (Papierkorb).

Grüss
Marina
 



 
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