Weißbier (gelöscht)

Ralf Langer

Mitglied
hallo ofterdingen,

ein starkes stück text. real und surreal zugleich.
die sätze passen, die szene lebt und bebt vor menschlichen
schwächen und alles schließt sich im erbrechen.

habe lange nicht mehr hier einen so starken text gelesen.

mfg
ralf
 
D

Dominik Klama

Gast
In dem Kurztext bekennt ein namenloser Ich-Erzähler, um sich von einer problematischen Vergangenheit zu lösen, in seiner vorigen Stadt habe man ihm ständig aufgelauert, habe er sich in die Großstadt München geflüchtet, wo er nun offenbar ein isoliertes, nicht gerade befriedigendes Leben führt. In einer Bierschwämme freundet er sich flüchtig mit einer herunter gekommenen und sehr dicken Alkoholikerin an. In ihrem Schmerz scheinen sich die beiden übertrumpfen zu wollen, gleichzeitig wollen sie das Gegenüber verletzen, indem sie ihm seine Schmach vor Augen führen. Doch klammern sie sich auch aneinander wie möglicherweise künftige Liebende. Die Szene läuft aus dem Ruder, als der Mann zu einer intellektuellen Fundamentalerklärung der Frau ansetzt, während diese sich Normen sprengend radikal entblößt, solcherart sich erotisch als billige Beute aufdrängend, jedoch Ekel und Widerwille steigernd, gerade darin aber auch eine verquere Art von Selbstbehauptung entwickelnd.

Ofterdingen scheint mir die Art von Erzähler zu sein, der in seine Texte etwas hineinlegt, was man gemeinhin Bedeutung nennt. Er will, dass der Leser danach sucht, er soll nicht zufrieden sein, wenn er nur versteht, was da geschieht, aber nicht, was der Autor damit sagen will. Sind die Texte so kurz und konzentriert wie dieser, kann dieses Spiel nur funktionieren, wenn die „Bedeutung“ nicht offenkundig auf der Hand liegt. Letztlich darf sie auch nie ganz decodiert werden, sonst ist die Magie der Prosa futsch. Willkürlich soll sie aber auch nicht sein, es sind durchaus „schlechte“ Leser denkbar, die schlecht lesen, wenn sie etwas ganz Anderes herausdestillieren, als der Autor im Sinn hatte. Ich, der ich mich mit Kurzprosa noch nie sonderlich beschäftigt habe, versuchte, bevor ich das hier geschrieben habe, den Ansatz des Autors aus anderen seiner Werke sowie der Diskussion über jene herauszulesen. Dabei schien es manchmal, als strebe Ofterdingen einen zum Nachdenken anregenden, um nicht zu sagen, didaktischen Stil an wie beispielsweise Brecht, beispielsweise in seinem „Me-ti. Buch der Wendungen“. Ein Werk, das ich nie gelesen habe.

So würde ich, weiß Gott, nicht behaupten, dass ich vorstehende Geschichte „verstanden“ habe. Für meine Verhältnisse finde ich das aber auch nicht so schlimm. Ich finde, es ist nicht Aufgabe, des Schriftstellers, Bedeutungen oder Gewissheiten über die Welt im Voraus zu kennen und herum um diese dann ein artifizielles Kleid aus Worten zu schneidern. Viele Jahrhunderte lang haben viele Schriftsteller genau dies getan und tun es heute noch. Das Publikum ist dann ganz entzückt, wenn es die Aussage gefunden hat, glaubt, das Werk habe Wert, weil eine Bedeutung darin stecke. Man ist gegenseitig stolz auf sich: Der Rezipient, weil er die Aussage gefunden hat – der Macher, weil er sie so überzeugend in seinen Stoff verwoben hat. Ganz nervig finde ich das bei moderner Bildender Kunst oft, die wohl immer einer „Aussage“ bedarf, um nicht des Scharlatanismus oder des Dilettantismus bezichtigt werden zu können. Mein Oscar-Favorit war in dieser Saison auch gewiss nicht der meines Erachtens viel zu oft gelobte Film „Das weiße Band“ von Michael Haneke, dem ich vorwerfe, seine Aussage längst vorher gewusst zu haben, als er die Ereignisse, Tatsachen und Geschehnisse, die er uns nun vorstellt, allenfalls nebelhaft kannte.

Mein eigener Ansatz beim Prosaschreiben ist: Erst bin ich vertraut mit den Orten, Zeiten, Menschen, Redeweisen, Handlungsabläufen eines bestimmten Weltausschnitts. Dann schildere ich diese möglichst wahr, erhellend, unerschrocken und unterhaltsam. Und ich bin dann auch zufrieden, wenn der Leser diese Leistung anerkennen kann und sich informiert und unterhalten fühlt. Aber all das zu erleben, innerlich auf eine gewisse Distanz zu bekommen, so dass man es bearbeiten kann, und dann eben zu beschreiben, hat so viel Zeit gebraucht, dass ich irgendwann auch angefangen habe, eine „Bedeutung“ in Ereignisse und Menschen hinein zu sehen. Die will ich nun natürlich auch ins Werk verpacken, aber das Werk soll niemals ein Rätsel sein, das es zu entschlüsseln gibt. Mir fehlt da immer was, wenn am Ende alle Bescheid wissen, wenn sie „es kapiert“ haben. Es fehlt ihnen, es erlebt zu haben. Und das sollte der Schreiber zumindest zu einem gewissen Grad simulieren können für sein Publikum.

Ofterdingens Geschichte ist freilich hervorragend geschrieben. Ich finde Figuren und Geschehen interessant, würde von daher noch wesentlich Längeres von dieser Art gerne lesen. Was es aussagen könnte, ist mir vergleichsweise gleichgültig. Auch zeugt der Text von einer Kenntnis des so genannten „Milieus“, die ich nicht besitze, ist von daher schon interessant für mich. Unbedingt festhalten möchte ich, dass dieser Autor etwas tut, was seltsamerweise in den Reihen der Leselupe geradezu tabu zu sein scheint: Er guckt einfach mal zu, was sich da, wo er sich gerade befindet, täglich so abzuspielen pflegt. Welche Leute da was tun und sagen. Irgendwie scheint die große Mehrheit der Kollegen dergleichen für viel zu trivial und offensichtlich für ihre glitzernden Werke der Kunst zu halten. Leider.

Mit allem bin ich dann aber doch nicht einverstanden. Zwar weiß ich, dass ein ganz anderes Werk herausgekommen wäre, eines, das Ofterdingen nicht zu schreiben gedachte, ich weiß, dass er wusste, was er tat, aber zufrieden macht mich das nicht, dass er seinem Erzähler eine Vergangenheit zuschreibt, von der wir eigentlich nur erfahren, er konnte von Glück sagen, wenn er nur mit Urinkübeln übergossen wurde. So etwas fallen gelassen, wollen wir natürlich mehr wissen, das weiß und damit spielt Ofterdingen auch. Denn an der Tagesordnung ist das nun nicht, dass jemand mit Urin begossen wird. Ich weiß, ich soll es nicht erfahren, aber ich bin dennoch sauer auf einen Autor, der so etwas andeutet, nur um sofort das Thema zu wechseln.

Dann sind es mir für so einen kleinen Text mit der Zeit zu viele Wortpaarungen aus Adjektiven und Substantiven geworden:
„die glasigen Augen, sein orgiastisches Leid, der verschlingende Wunsch, ein elitäres Feingefühl, ihr vulgärer Vernichtungswille, der stoische Gleichmut, keine verschorfte Wunde, der beißende Qualm, eine schmerzhafte Düsternis, das fahle Rasenstück, ihre gewaltige Physis, ihre ganze Natur, ein böser Mensch, unendliche Möglichkeiten, ein gewaltiger Brechreiz, das verbliebene Weißbier, die verstörten Blicke, ihr gewaltiger Slip, ein geprügelter Hund, die aufgemalten Bilder, die gegenüberliegende Wand, eine fette Sau“

Irgendwann fragte ich mich, ob der Autor eigentlich kein einziges Substantiv ohne Adjektiv lassen kann. Ich fing an auszuprobieren, ob der Text noch funktionieren würde, wenn man radikal alle diese Substantivbestimmungen ausstreichen würde, was immer sie auch an informativem Gehalt einbringen mögen. Und ich fand: Man kann fast sämtliche Adjektive streichen, der Text funktioniert noch immer.

„Die Frau“, sagte ich, „ist ihrer ganzen Natur nach zweifellos nicht nur von Verletzlichkeit geprägt, sondern von Verletzung, von einem Riss, der mitten durch sie hindurch geht und durch den der Mann eindringt und mit ihm die Möglichkeit zum Unglücklichsein. Nur Idioten glauben, dass eine Frau diese Möglichkeit als Chance begreift. Die es besser wissen, finden hier den Ursprung der weiblichen Aggression.“

Ganz stark habe ich ja was gegen pseudointellektuelle Laberei. Alle diese Feuilletonisten, die es zu jeder Zeit gegeben hat, die dafür geliebt werden, messerscharf und von Esprit funkelnd Dinge zu sagen, die an sich ja jeder weiß oder glaubt, die ihm nun aber ganz neu und unerhört kühn vorkommen, wenn sie so blitzend formuliert sind. Der hier scheint nicht weit davon entfernt sein zu sein. Und es passt auch so wunderbar ins Klima der Zeit, dass die Frauen etwas so fundamental Anderes als die Männer seien. Und zwar, irgendwie, wenn auch schwer zu begründen, sogar ja etwas Besseres. Die Frauen als Verletzliche; nein, Männer sind so verletzlich ja nie. Die Frauen als ewig und immerdar Verletzte; nein Männer werden ja nicht so stark verletzt, die sind doch dauernd am Verletzen, nämlich der Frauen. Ach, die ewig verletzten und ewig unglücklichen Frauen überall! Und sind sie jemals aggressiv, aggressiv sind Frauen von Natur aus ja nie!, dann doch nur, weil sie Opfer sind männlicher Übergriffe. Und hat man so eine Welterklärungsformel erst einmal entdeckt, dann kann man sie in allem möglichen sachlich Vorfindbaren widergespiegelt entdecken. Warum nicht auch in der schlichten Optik der jeweiligen Geschlechtsorgane? Die mütterlich und wohlig warm erwartenden und umfassenden und beschützenden weiblichen Geschlechtsorgane und die wie zum Mord aufgepflanzten Speere der Männer! Das blutende weibliche Geschlechtsorgan als Wunde und Riss in der Tiefe des Leibes, dagegen das, zwar, nun ja, auch reichlich verwundbare, aber doch auf jeden Fall stolz aufgepflanzte und vom Rest ganz äußerlich auf Distanz gehaltene Fortpflanzungswerkzeug des Mannes!

Und man kann weitermachen. Man kann daraus Metaphern machen, die sich durch die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit ziehen. Rennautos, Mittelstreckenraketen, Flugzeuge, Wolkenkratzer, alles Verkörperungen des männlich-aggressiven Geschlechtsprinzip. (Der 11. 9. 2001 vielleicht gar als Kennzeichen dafür, dass sich nun ja vielleicht alles doch noch zum Besseren wendet.) Dagegen jede Sand- und Backmulde und jede Loungegrotte als Symbol allumfassender friedfertig-kreativer Weiblichkeit. Nun, ich danke.

Wie auch immer, ich traue dem Autor Ofterdingen zu, dass er von seiner Erzählerfigur so viel Distanz hat, dass er dessen hochgescheite Schoßmetaphorik als etwas lächerlich und verblasen einschätzen kann. Es ist ja auf jeden Fall nicht das rechte Wort zur rechten Sekunde am rechten Ort. Scheint eher diese Wirkung gezeitigt zu haben: Je abgehobener DU plaudern kannst, desto vulgärer und eindeutiger kann ICH handeln. Dieser eine (es mag in der Art schon noch mehr geben) Stolz, den jemand noch haben kann, der sonst gar nichts mehr hat: ICH bin aber eine SAU! Und du bist keine, jedenfalls keine so große.

Der Zweitausendeins-Versand bietet als mp3-Hörbuch die gesammelten Lesungen und Funkbeiträge von Elias Canetti an. Vor einigen Jahren habe ich mir das mal angehört. Man lernt dabei, dass Canetti als Autor nun wirklich nicht so bedeutend ist, wie er immer gehandelt wurde (ist jetzt schon eine Weile her), dass er aber als Vortragskünstler, als, sage ich mal frech, Stand-up-Comedian oder Kabarettist eine große Begabung war. Da liest er nun alle Rollen von „Die Komödie der Eitelkeit“, jenes Stückes, in dem eine diktatorische Regierung sämtliche Spiegel und Fotos abschaffen lässt. Er macht das mit viel Dialektfärbung und mit sozialer Genauigkeit, das nennt er „die akustische Maske“. Da gibt es dann, als die Leute nicht mehr sehen können, wie geil sie sind, und sich darum an irgendwelche Subjekte sexuell wegwerfen, um wenigstens noch zu spüren, dass sie geil sind, eine Mutter, die um ihre g’schamigere Tochter zu schockieren, wieder und wieder ausruft: „Ich bin eine Sau! Ich bin eine alte Sau! Ich bin eine Sau!“ Muss man sich mit Canettis Stimme und Wiener Akzent vorstellen.

Tatsächlich pflegt dergleichen gelegentlich vorzufallen. Habe ich auch schon erlebt, wenn auch nicht in dieser Drastik an einem derart „unbescholtenen“ Ort. Wann immer ich so etwas erlebt habe, waren es Leute, die tatsächlich ein, jetzt mal unrein gesprochen, „Untermenschenniveau“ erreicht hatten. Menschen, die offensichtlich schon lange von niemandem mehr geliebt und auch nicht mehr begehrt werden. Da es ihnen völlig unmöglich ist, das „Niveau“, die „Klasse“ noch zu erreichen, die gesellschaftlich für den Paarungsprozess vorgeschrieben ist, gehen sie in die andere Richtung, machen sich noch „säuischer“, als sie jedem schon vorkommen. Denn offenbar funktioniert das manchmal doch. Mit einer Sau kann ich mich vereinigen, solange klar ist, dass das eine Sau ist und ich eben keine bin. Dahinter steht, dass sie Zuwendung, Anerkennung, Liebe und Begehrtwerden genauso brauchen wie alle anderen. (Hört sich theoretisch nett an, aber in der Wirklichkeit sind sie dann vielleicht potthässlich, saudumm, stinken fürchterlich und kommen z.B. mit gar nichts mehr klar im Leben, weil sie schwer drogenabhängig (nämlich meist Alkohol) sind. Da wird das dann gleich gar nicht mehr so leicht wie in der Literatur.)

Mir ist aufgefallen, dass gerade die Jugend, die wir momentan unter uns haben, hierbei eine enorme anerzogene Asozialität aufweist. Diese Mädchen und Jungen finden es in keinster Weise frag- oder diskutierwürdig, dass man sichtlich aus der Norm des „gelungenen Lebens“ Gefallene wie Wesen vom anderen Stern anschaut, bespöttelt und ausgrenzt. Meistens läuft das „ganz zivilisiert“ ab: Man sieht einfach nicht hin. Man bemerkt solche Typen schlicht nicht mehr. Bei solchen Menschen, und es sind tatsächlich zumeist genau die Jungen, auf welche wir eigentlich unsere Zukunftshoffnungen gesetzt haben, sticht das Argument der Frau aus der Geschichte auch nicht mehr. Sie „WISSEN“, dass sie es sind, die am Leben sind. Denn sie gehören (noch? Wer weiß, das Leben kann lang sein...) dazu. Wer nicht dazu gehört, ist so gut wie tot. Und um seine Vitalität also auch nicht zu beneiden. (Überhaupt Leben! Wären wir nicht alle längst lieber eine 3-D-Animation im Internet als am Leben?)

[Huch, das war jetzt überlang! Aber eins noch. Warum ich das Bild mit dem Spiegelei als Aschenbecher nicht mag. Das meistgespielte Lied der Welt ist meines Wissens immer noch „Yesterday“ von den Beatles. Paul McCartney sagte damals, es sei ihm im Schlaf zugeflogen. Er sei aufgewacht und habe die Melodie von Anfang bis Ende im Kopf gehabt. Er habe aber noch keinen Text gehabt. Deshalb habe er es provisorisch „Spiegelei“ genannt. Nun gab es mal ein Buch, in welchem die Texte der Beatles abgedruckt wurden, versehen mit Bildern von ziemlich angesagten Grafikern jener Jahre. Derjenige, der sich eine Visualisierung zu „Yesterday“ ausdenken musste (ist nicht ganz einfach, wenn man es mal probiert), kannte diese Spiegelei-Anekdote und stellte neben den Text das Foto eines Spiegeleis, in welchem eine Filterzigarette ausgedrückt worden war. Weiß nicht, ob Ofterdingen das wusste, aber wenn mir jemand nun sagt: „Ihre Augen waren wie Spiegeleier, in denen man Zigaretten ausgedrückt hatte“, dann geht bei mir die Klappe runter: „Klar, hat er geklaut aus dem Beatles-Songbook.]
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Dominik,

Eines ist sicher: Noch nie habe ich unter einem meiner Texte einen so sensiblen, sachkundigen und schon gar nicht so ausführlichen Kommentar gelesen. Er hat es verdient, dass ich ihn auf einen USB-Stick kopiere, nach Hause mitnehme (wo ich noch keinen Internet-Anschluss habe), genau lese und beantworte. Im Augenblick sitze ich mal wieder in einem lauten Internet-Café und beschränke mich auf das Allernotwendigste.

Besonders dankbar bin ich dir dafür, dass du gelassen darauf verzichtest, nach einem Schlüssel für diese Geschichte zu suchen oder von mir Schreiber einen zu verlangen.

Ein Beatles-Songbook habe ich mir vor Jahren mal gekauft, aber wenn ich das noch richtig weiß, war es ohne Bilder, bloß Text, auch dachte ich mir eigentlich keine im Ei ausgedrückte Zigarette, sondern eher, dass eine Menge Asche auf das Ei abgetippt wird, wodurch es seinen Glanz verliert.

Später mehr!

Ein ganz großes Danke!

Ofterdingen
 
K

KaGeb

Gast
Hi Ofterdingen,

mit großem Vergnügen gelesen – und noch mal gelesen – und immer noch entweder ziemlich schlaue Passagen – oder eben lustige gefunden. Ein toller Text. HGW!!!

Dennoch hätte ich ein paar winzigkleine Vorschläge. Hab mir diesbezüglich Deinen Text mal kopiert und werde morgen meine Vorschläge posten :)

LG, KaGeb
 
K

KaGeb

Gast
Hi Ofterdingen,

so, anbei mal paar Vorschläge aus meiner Sicht. Vielleicht kannst das eine oder andere verwenden :)


Jahrelang hatte man mir aufgelauert, nicht jeden Tag, aber ich konnte nie sicher sein, dass ich unbeschadet nach Hause käme, wenn ich von der Arbeit oder einem Einkauf zurückkehrte oder irgendwo in der Stadt zu tun hatte, und oft musste ich froh sein, wenn man nur einen Topf mit Urin über mir ausschüttete und mich sonst in Ruhe ließ.
[blue]Ein starker – wenn auch ziemlich langer Eingangsabsatz.[/blue]

Ich hatte schließlich meine Arbeit aufgeben
[blue]Bei dieser Formulierung könnte der Leser vermuten, dass der erste Absatz passierte, weil der Prot. seine Arbeit aufgegeben hat, irgendwohin gezogen ist, wo im das mit dem Urin etc. passiert. Vielleicht einfach:[/blue]
[red]Bis ich meine Arbeit aufgab[/red] - [blue]oder[/blue] : [red]Bis ich es nicht mehr ausgehalten hatte, meine Arbeit aufgab und die Gegend verließ.[/red])

[blue]Ab "verließ", lieber Ofterdingen, frage ich mich, ob es nicht einfach sinnvoll wäre, den nachfolgenden Text in der Gegenwart zu schreiben. Z.B.:[/blue] [red]Jahre danach, innerlich kaum vernarbt, sitze ich in diesem Bierkeller in der Münchner Innenstadt ...[/red]


... mit glasigen Augen, die aussahen, als habe jemand die Spiegeleier auf seinem Teller als Aschbecher benutzt.
[blue]Das beschriebene Bild vermag ich mir nicht vorzustellen. Was haben denn die glasigen Augen mit dem Spiegeleiern auf dem Teller, die als Aschbecher benutz wurden, zu tun? Das Bild passt m.M.n. nicht so recht. Vielleicht besser vergleichen mit „wie“ ... mit glasigen Augen wie gebrochenes Milchglas oder was weiß ich ;)[/blue]

Jorga war breit und hässlich, [strike]aber nicht einfach nur breit, sondern auf allen Seiten[/strike] [red]und[/red] so massig, dass sie nur mit Mühe auf [strike]einen[/strike] [red]den[/red] Wirtshausstuhl passte.

[blue]"Den" find ich besser, weil der Prot. ja bereits in der Kneipe sitzt und somit klar ist, dass dort solche Stühle stehen.[/blue]


Ihr eigenes Leid war von stumpferer Art. Sie oszillierte zwischen dem Verlangen, ihre eigene Schmach zu entblößen und dem alles verschlingenden Wunsch, durch Demütigung eines anderen ein Stück von sich selber zurück zu erlangen.
Als sie mir antwortete, sprach sie schleppend und gedehnt, mit einem vage mediterranen Akzent und im Namen eines elitären Feingefühls, das aber nur mit Mühe ihren vulgären Vernichtungswillen verdeckte. Mit stoischem Gleichmut wies sie das Gehörte zurück, verurteilte es als flach und eindimensional, und jeder ihrer Sätze war schon tot, noch bevor er ihren Mund verließ, mehr noch, jedes Wort war wie ein Kissen, mit dem man jemand anderen erstickt.
[blue]Toller Abschnitt, aber für den eigentlich schnoddrigen Erzählton fast ein bisschen überkandidelt. Es klingt so, als hättest du diesen Absatz mal für eine andere ernstere Geschichte geschrieben und reinkopiert. Das beißt sich m.M.n. mit von dir im Text verwendeten Worten wie "hässlich", "herauskotzen", "zusammenscheißen", "anschreien" ... Verstehst, was ich meine? [/blue]


„Nein“, sagte ich und ging zur Toilette, [strike]weil meine Blase schmerzhaft prall gefüllt war vom Weizenbier. [/strike]
[blue]redundant[/blue]

[strike]Nachdem ich mich vom Druck befreit hatte,[/strike]
[red]Vom Druck befreit[/red]betrachtete ich mich angewidert im Spiegel. [strike]Ich sah aus wie jemand, der mitten in der Nacht aufgewacht und eilig aus dem Haus gerannt war, weil es brannte.[/strike] Mein Gesicht wirkte irgendwie versehrt, obwohl noch alles da war ...

„Die Frau“, sagte ich, „ist ihrer ganzen Natur nach zweifellos nicht nur von Verletzlichkeit geprägt, sondern von Verletzung, von einem Riss, der mitten durch sie hindurch geht und durch den der Mann eindringt und mit ihm die Möglichkeit zum Unglücklichsein. Nur Idioten glauben, dass eine Frau diese Möglichkeit als Chance begreift. Die es besser wissen, finden hier den Ursprung der weiblichen Aggression.“
[blue]Super, aber auch hier gilt m.M.n. das weiter oben vermutete. Aber ist natürlich auch Geschmackssache.[/blue]


Ich hoffte, die Kellnerinnen würden sofort den Geschäftsführer und am besten gleich eine Hundertschaft Polizei alarmieren, um diese Frau wegzubringen, aber zunächst geschah gar nichts, und sie hatte alle Zeit der Welt, um ihr Unterhemd auszuziehen und ihren gewaltigen Slip[strike], der gereicht hätte, eine Viermastbark aus dem Hafen zu blasen[/strike]. Am Ende behielt sie nur ihre Schuhe und Strümpfe an. [blue]Der Vergleich mit dem Slip ist für mich zu gassenhauerisch :)[/blue]


Insgesamt bin ich wirklich amüsiert und bleibe dennoch ein bisschen im Regen stehen. Zum einen gibt es keine Andeutung zu Beginn, warum der Prot. uriniert wurde und zum anderen fehlt mir der Anschluss zum danach erlebten Part mit Jorga. Meintest du sowas wie: Vom Regen in die Traufe?
Auch das Ende ist weitestgehend offen. Klar, Kurzprosa – doch ich fände es persönlich unter „Humor“ besser augehoben ;)

LG, KaGeb
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Dominik,

Jetzt der zweite Anlauf, etwas genauer:

„In einer Bierschwämme freundet er sich flüchtig mit einer herunter gekommenen und sehr dicken Alkoholikerin an.“

Alkoholikerin? Aus dem Text erfährt man eigentlich nur, dass diese Frau an diesem Tag betrunken ist.

„darin aber auch eine verquere Art von Selbstbehauptung entwickelnd“

Hübsch formuliert!

„als strebe Ofterdingen einen zum Nachdenken anregenden, um nicht zu sagen, didaktischen Stil an wie beispielsweise Brecht, beispielsweise in seinem „Me-ti. Buch der Wendungen“. Ein Werk, das ich nie gelesen habe“

Das merkt man, sonst würdest du den richtigen Titel kennen. Aber Spaß beiseite: Man darf gern über mich behaupten, dass ich nicht amoralisch sei, sondern an bestimmte Werte glaube, die über das Gebot der Wahrhaftigkeit der Darstellung hinausgehen. Ich sehe darin keinen Makel. Aus der vorliegenden Geschichte ließe sich, vermute ich, allerdings nicht viel sittlicher Nährwert herausdestillieren. Wenn sie einen Wert hat, dann findet sich der woanders.

„Ofterdingens Geschichte ist freilich hervorragend geschrieben. Ich finde Figuren und Geschehen interessant, würde von daher noch wesentlich Längeres von dieser Art gerne lesen.“

Danke für die Blumen!

„Was es aussagen könnte, ist mir vergleichsweise gleichgültig.“

Dafür bin ich, wie gesagt, ganz besonders dankbar.

„Mit allem bin ich dann aber doch nicht einverstanden. […] Denn an der Tagesordnung ist das nun nicht, dass jemand mit Urin begossen wird. Ich weiß, ich soll es nicht erfahren, aber ich bin dennoch sauer auf einen Autor, der so etwas andeutet, nur um sofort das Thema zu wechseln.“

Für die Storyline ist das Thema wichtig, damit so eine Schmach gegen die andere aufsteht, Leid gegen Leid. Eine befriedigende Aufhellung der Hintergründe ist möglich, müsste dann aber auch für die Protagonistin gelten, um der Balance willen, und so würde sich der Text vermutlich verdoppeln oder n mal vervielfachen, und wir wissen alle, dass diese Geschichte bereits schon jetzt an der Grenze dessen ist, was sich die meisten LL-Mitglieder an Textlänge zumuten. Für eine eventuelle spätere Druckversion möchte ich mir diese Möglichkeit jedoch unbedingt offen halten.

„Dann sind es mir für so einen kleinen Text mit der Zeit zu viele Wortpaarungen aus Adjektiven und Substantiven geworden:
„die glasigen Augen, sein orgiastisches Leid, der verschlingende Wunsch, ein elitäres Feingefühl, ihr vulgärer Vernichtungswille, der stoische Gleichmut, keine verschorfte Wunde, der beißende Qualm, eine schmerzhafte Düsternis, das fahle Rasenstück, ihre gewaltige Physis, ihre ganze Natur, ein böser Mensch, unendliche Möglichkeiten, ein gewaltiger Brechreiz, das verbliebene Weißbier, die verstörten Blicke, ihr gewaltiger Slip, ein geprügelter Hund, die aufgemalten Bilder, die gegenüberliegende Wand, eine fette Sau“

Zu einem erheblichen Teil handelt es sich bei den genannten Beispielen nicht um „Wortpaarungen aus Adjektiven und Substantiven“, sondern um Fügungen aus Substantiv plus Verb (Präsens- oder Perfektpartizip), also im Grunde um eingedampfte Sätze.

„Irgendwann fragte ich mich, ob der Autor eigentlich kein einziges Substantiv ohne Adjektiv lassen kann. Ich fing an auszuprobieren, ob der Text noch funktionieren würde, wenn man radikal alle diese Substantivbestimmungen ausstreichen würde, was immer sie auch an informativem Gehalt einbringen mögen. Und ich fand: Man kann fast sämtliche Adjektive streichen, der Text funktioniert noch immer.“

Viele Farbfotos funktionieren auch dann noch immer, wenn man sie mit einem Schwarz-Weiß-Film abfotografiert, doch entsteht dann eine andere Qualität, und ich – Gott sei´s geklagt - liebe ganz einfach die Farbe. Das liegt vielleicht daran, dass ich katholisch aufgewachsen bin. Trotz allem werde ich mir den Text noch einmal genau anschauen und vielleicht das eine oder andere Attribut oder Adverb streichen.

„Alle diese Feuilletonisten, die es zu jeder Zeit gegeben hat, die dafür geliebt werden, messerscharf und von Esprit funkelnd Dinge zu sagen, die an sich ja jeder weiß oder glaubt, die ihm nun aber ganz neu und unerhört kühn vorkommen, wenn sie so blitzend formuliert sind. Der hier scheint nicht weit davon entfernt sein zu sein.“

Das ist die Methode Sloterdijk: Er schreibt nichts wirklich Neues, man hat das alles schon einmal irgendwo gelesen oder gehört, aber man liebt und kauft seine Bücher genau wegen ihrer brillanten Formulierungen. Und ich für mein Teil lese sie natürlich auch.

„Und es passt auch so wunderbar ins Klima der Zeit, dass die Frauen etwas so fundamental Anderes als die Männer seien. Und zwar, irgendwie, wenn auch schwer zu begründen, sogar ja etwas Besseres. Die Frauen als Verletzliche; nein, Männer sind so verletzlich ja nie. Die Frauen als ewig und immerdar Verletzte; nein Männer werden ja nicht so stark verletzt, die sind doch dauernd am Verletzen, nämlich der Frauen. Ach, die ewig verletzten und ewig unglücklichen Frauen überall! Und sind sie jemals aggressiv, aggressiv sind Frauen von Natur aus ja nie!, dann doch nur, weil sie Opfer sind männlicher Übergriffe.“

Jetzt mal ehrlich: Dir sind doch gewisse Tiraden gewisser Frauen auch schon gründlich auf den Geist gegangen. Ist es da so unverständlich, wenn ein Mann in der Situation des Ich-Erzählers zur Abwechslung mal der Gegenseite einiges um die Ohren haut, und sei es nur, um die eigenen Ohren mal für eine Weile frei zu bekommen?

„Wie auch immer, ich traue dem Autor Ofterdingen zu, dass er von seiner Erzählerfigur so viel Distanz hat, dass er dessen hochgescheite Schoßmetaphorik als etwas lächerlich und verblasen einschätzen kann.“

Auch hier: Danke für die Blumen!

„Dieser eine (es mag in der Art schon noch mehr geben) Stolz, den jemand noch haben kann, der sonst gar nichts mehr hat: ICH bin aber eine SAU! Und du bist keine, jedenfalls keine so große.“

Stolz? Ja, könnte passen – mehr noch, ich finde, diese Frau, welche sich am Ende irgendwie frei macht von mir, ihrem Erfinder, sitzt da wie eine dieser urzeitlichen Erdgöttinnen, wie diese eine, berühmte, die Venus von Willendorf oder so ähnlich.

Ein Freund von mir in München las die Geschichte und sagte: Jetzt musst du aufpassen. Wenn das eine Frau liest, werden sie und ihre Freundinnen dich auf offener Straße lynchen. Mich beunruhigt es irgendwie schon ein wenig, dass bisher hier im Forum noch keine Frau diesen Text kommentiert hat und auch keine der zwei weiblichen Bekannten, denen ich ihn zugemailt habe, antwortet. Ob sie wohl alle schon mit dem Strick in der Hand auf mich warten ... ?

Deine Anmerkungen zu den Themen „Sau“, lebenswertes Leben und Jugend fand ich übrigens sehr interessant.

LG,
Ofterdingen
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo KaGeb,

"mit großem Vergnügen gelesen – und noch mal gelesen – und immer noch entweder ziemlich schlaue Passagen – oder eben lustige gefunden. Ein toller Text. HGW!!!"

Danke! Und herzlichen Dank auch für dein genaues Lesen. Ich werde es so wie bei Dominik machen, deine Anmerkungen kopieren und zu Hause in Ruhe ansehen. Hier im Internet-Café geht das nicht.

LG,

Ofterdingen
 
D

Dominik Klama

Gast
Hallo Ofterdingen,
"Venus von Willendorf" ist korrekt. Und das ist wohl irgendwo in der Nähe von Wien, wenn ich es im Straßenatlas auch gerade nicht finden kann.

Wie du sicher gemerkt hast, kam ich auf Brecht, als ich versucht habe, zwei andere, frühere Prosatexte von dir zu lesen, welche du aber gelöscht hattest, sodass ich sie leider immer noch nicht kenne. An jenen Stellen haben dir deine Kritiker vorgeworfen, du würdest auf altbackene Weise dem Leser sogenannte Weltverstehenserkenntnisse beibringen wollen, im Grunde seiest du Prediger, nicht Prosaist. (Was ich nach obigem Text gar nicht nachvollziehen konnte.) Und du sagst dann etwas wie: "Ja, wenn man Brecht für überholt hält, weil er..." Ich persönlich bin bei Brecht über Schullektüre kaum hinausgekommen. Ich habe darum den Titel von Me-ti hinten in einem Suhrkamp-Taschenbuch nachgeschlagen, einem anderen von Brecht, das ich auch nicht gelesen, aber liegen haben. Ich glaube, da stand er so, wie ich ihn geschrieben habe. Tatsächlich saß ich vor vielen Jahren mal in einem sogenannten Philosophie-Kurs an einer Volkshochschule, wo uns der Dozent eröffnete, dieses Buch werde er nun mit uns behandeln. Dann habe ich aber diesen Kurs verlassen, weil ich den Dozent nicht mochte, bevor er überhaupt richtig was sagen konnte, zu dem Buch.

Peter Sloterdijk lese ich nicht. Wie ich überhaupt extrem viel von dem nicht kenne, was man, als jemand mit einer gewissen Nähe zur Literatur, in meinem Alter kennen sollte. Dafür dann wieder ganz viel von dem, was man angeblich wohl nicht zu kennen braucht, weil es nicht so relevant ist. Leider bin ich meist total unfähig, zwischen beidem einen Unterschied zu erkennen. Peter Sloterdijk steht in der neuerdings auf meinem LL-Profil eingefügten In-/Out-Liste unter den Out-Autoren. Speziell in diesem Fall hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mir fest vorgenommen habe, dass ich weder zu Autoren raten, noch von Autoren eher abraten werde, die ich kaum kenne. Doch im Fall Sloterdijk habe ich es dann doch getan.

Mir schwebten auch eher unsere langjährigen Kulturressort-Redakteure vor (als die "wirklichen" Prosaisten und Philosophen), von Zentralorganen wie DIE ZEIT, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, die ich vor Jahrzehnten mit wahrer Inbrunst gelesen habe, damit ich wusste, was man lesen sollte, wenn man nur die Zeit hätte, die man nicht hat, weil man ständig so viel Kulturberichterstattung abarbeiten muss. Um mal nur den sich mächtigst aufdrängenden Namen zu nennen: Marcel Reich-Ranicki. Inzwischen habe ich sämtliche Zeitungen aus meinem Leben abgeschafft wie vorher schon das Fernsehen. Es kommt aber immer noch vor, dass ich spät in der Nacht nach Hause komme und Deutschlandradio Kultur anschalte und mich nach zwei Minuten schon zum x-ten Male wundere, ob wohl Sportfans, zu denen ich nicht gehöre, auch finden, dass sie mit einer so unglaublichen Fülle hohlen Geschwätzes, das dir jeden Dreck anpreist, manchmal durchaus taugliche Tipps geben kann, das wirklich Wichtige und Bleibende aber nie, niemals zu erkennen in der Lage ist, wenn es auf den Plan tritt, gelangweilt und genervt und zugeschüttet werden. (Oder entsprechend die Leser von Wirtschaftszeitungen...)

Als ich es geschrieben habe, war ich mir keineswegs sicher, ob du diese Kritik an dem Kurzessay über den weiblichen Riss und Schmerz in der Welt nicht ganz übel aufnehmen würdest. Ob du nicht gerade diesen Absatz für die eigentliche Krone deiner Schöpfung halten würdest. Da kannst es dir ja nun aussuchen. KaGeb findet die Ideen in jenen Zeilen ganz super. Ich nicht.

Da ich es selbst so halte, bin ich sofort davon ausgegangen, dass sich diese Geschichte um einen Kern realer, eigener Lebenserfahrung herumkristallisiert hat. Ich glaubte also, dass du diese Frau nicht "erfunden" hast, sondern wirklich mal irgendwo gesehen, wenn wohl auch nicht nackt und ohne den segeltuchgroßen Schlüpfer. (Übrigens wirklich ein etwas gehässiges Bild. Ich mache so etwas auch, aber nur, wenn ich wirklich weiß: Ich will jetzt gehässig sein.)

Nun ist es aber so, dass Denksysteme, Theoriegebilde, Zeitdiagnostik und dergleichen es an sich haben, dass sie unheimlich gut alles erleuchten, was man selber schon erfahren hat, wenn man sie im Lehnstuhl im Buch liest. Da sie ja ein leuchtender Geist aus der unendlichen Masse des Zufälligen und Vorübergehenden destilliert hat. Sagen wir mal: Hegel, haha! Komischerweise passt aber nicht eine, irgendwie wirklich nie eine, zumindest bei mir in meinem Leben nicht, Erkenntniszeile auf nur den einen und einzigen und ganz speziellen Menschen, mit dem man es aus den seltsamsten Gründen heraus, da und dort zu tun bekommt - und "über den" man "informiert" ist, denn man hat darüber gelesen, über solche "Fälle".

Es ist von daher schlicht bekloppt, der konkreten Frau XY, sie mag Alkoholikerin sein oder eigentlich noch nicht mal richtig besoffen, sie mag gertenschlank oder tonnendick sein, sie mag dich anmachen oder grade das von dir Mann nicht schon wieder wollen, ex cathedra verstandis mitzuteilen, grundsätzlich sei ihre Lebensbefindlichkeit ja die Folgende... Und führte sie sich das nur mal richtig vor Augen, könnte sie ihre Lebensbefindlichkeit danach auch zu ihrer eigenen Zufriedenheit optimieren. Das ist bekloppt.

Dagegen finde ich es keineswegs bekloppt, dass man, wenn man einsam ist, sich an jemanden klammert, der mit einem spricht. Ich finde es nicht bekloppt, Leute zu schockieren, die man als herablassend empfindet. Und auch nicht, wenn man jemanden schnuckelig findet, zu probieren, ihn unter der Gürtellinie zu kitzeln. Das finde ich alles eigentlich höchst normal und gesund.

Ich schwöre, beruflich und privat habe ich seit langer Zeit mit Frauen fast nichts zu tun. Ich habe auch nichts gegen DIE Frauen, denn es wäre doch einigermaßen merkwürdig, etwas gegen Leute zu haben, die für die eigene Existenz ziemlich unerheblich sind. (Abstrus, heutzutage in Deutschland was gegen Juden zu haben, denn wo sind sie denn, diese Juden, die einem was zu Leide täten? - Und wenn sie so merkwürdig nicht anwesend sind, wird man schon mal nachforschen dürfen, warum sie abwesend sind.) Ich bin schwul. Und zwar, überspitzt formuliert, nicht, weil Frauenseelen mir so fremd wären, sondern weil Männerkörper so geil sind. So einfach kann das sein. Trotz all dem Gesagten, fange ich mir regelmäßig diese Schelte ein, ich hätte ein völlig falsches Frauenbild und sei emotional und kommunikativ einfach nicht ganz fit genug für den alltäglichen Umgang mit dieser, offenbar sehr hoch wertigen menschlichen Unterkategorie.

Das liegt daran, weil ich nicht akzeptiere, irgendeine Frau, ganz egal welche, für irgendwas Besonderes nur deswegen zu halten, weil sie eine Frau ist. Und ich bin auch überhaupt nicht bereit, bei irgendwas DIE Frauen und DIE Männer zu sehen. (Von daher tauge ich letztlich nicht zum Buddy für emanzipationsgebeutelte Ehedem-Machos.) Ich schelte nicht über DIE Frauen, weil ich DIE Frauen nirgendwo sehe.

Sondern nur jeweilige spezielle Einzelfälle der Spezies Mensch. Und die haben alle eine Macke. Alle, jeder und jede. Und ich selber ganz gewiss. Wage ich - als Mann - nun an der Macke dieses oder jenes Spezialfalles Mensch mich zu reiben, dann wird mir, ist die auf die Schippe Genommene nun mal grade eine Frau, bisweilen vorgeworfen, ich würde das ja nur machen, weil ich Mann und sie Frau sei. DIE Männer seien ja ALLE so, die würden das ja NIE verstehen, nur DIE Frauen verstehen immer ALLES, restlos. Und grade ich hätte wohl, aus Gründen, die man in einem längeren Prozess gewiss perfekt analysieren könnte, eine ganz spezifische, nicht ganz normale Abneigung gegen DIE Frauen entwickelt, würde sie, die Einzelne jetzt also eigentlich ja gar nicht meinen, sondern nur meinen Frauenkomplex mal wieder abarbeiten.

In solchen Fällen erlaube ich mir, manche Leute für etwas bekloppter zu halten als mich selbst. Denn niemals, an keinem einzigen Tag stehe ich auf und denke: Ich als MANN, ich als SCHWULER, wir MÄNNER, wir SCHWULE. Nämlich von diesen, von den Männern und auch von den Schwulen führen mir täglich so viele vor Augen, dass sie mich für ganz was Andres als sie halten, dass ich nicht wüsste, warum ich mich mit denen irgendwie innerlich verbunden fühlen sollte. Da es sich bei eingehender Betrachtung nun aber weist, dass es auch DIE Männer nicht gibt, auch DIE Schwulen nicht, findet man unter beidem (und auch unter Frauen ist es nicht ausgeschlossen, will mir scheinen) einzelne Exemplare der Gattung Mensch, die man gern in seiner Nähe haben würde. Einzelne, die meisten sowieso nicht. Von allen.

Dein Erzähler aber hebt ja nun gerade zu "DIE Frauen" an, die seien nämlich so und so. So etwas sage ich nie. Niemals im Leben. Und wenn in meinen Texten irgendwelche Schwule anfangen zu erklären, DIE Schwulen seien so oder so, dann ist höchste Wachsamkeit angebracht, denn da kann man davon ausgehen, dass ich mir Mords einen Spaß draus mache, diese Figur mal einen rechten Schwachsinn daherreden zu lassen. Dass dann halt dein Sprecher selber ein Mann ist, der nun aber einer Frau erklärt, was DIE Frauen seien, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das wird übrigens oft und gerne und im Exzess betrieben: Leute, die nicht arm sind, erklären den Armen, warum und wie sie arm seien. Leute, die Arbeit haben, erklären den Arbeitslosen, wie man lebt, wenn man keine Arbeit hat. Leute, die noch nie von irgendwas abhängig waren, erklären den Süchtigen, wie man sich aus der Sucht befreit. Leute, die selber immer Auto fahren, organisieren unseren ÖPNV. Und so weiter. Noch und nöcher. Endlos.

Nun wisssen wir inzwischen ja alle, dass DIE Frauen (haha) es UNS Männern (haha) wie Zucker aus der Hand fressen, wenn wir ihnen erklären, sie, DIE Frauen, seien die an sich ja viel kostbareren Gefäße göttlichen Willens auf Erden. "Ach, wenn ich das doch nur auch hätte, dieses Dings oder Dongs von euch Frauen!" So was hören sie gern. Und das ist es ja, was dein Erzähler tut. Er sagt ja erst mal überhaupt nichts Negatives über DIE Frau. Er liefert die Komplimente, nach denen sie gar nicht gefischt hat. Insofern wäre völlig unbegreiflich, dass du dich danach unter Frauen nicht mehr zeigen darfst. Nur hast du halt diese irritierende Unterschwelligkeit an dir, man ist sich nie so ganz sicher, ob man kapiert hat, worauf du rauswillst. Das ist hier dies: "Sie begreifen ihre Chance nicht..." Da fragt man sich, wie meint er das?, sagt er nun nicht doch was Böses über DIE Frauen?

Okay, mir sagte mal ein Heterosexueller, der mich als Schwulen nicht erkannt hatte, da bin ich mir sicher, er beneide ja so Männer wie mich um diesen gewissen weiblichen Anteil ihrer Persönlichkeit, davon hätte er auch gerne mehr. Das nahm ich als nettes Kompliment, dachte, na, wenn du wüsstest!, sagte ihm aber trotzdem nicht, was Sache war. Diese Episode erzählte ich nun meiner Schwester, welche mich als Schwulen kennt (und eine Frau ist, haha). Ich hatte noch gar nicht geendet, da wollte sie schon Öl auf die Wogen gießen, Pflaster auf die Wunde tun: Nein, nein, aber das stimme doch überhaupt nicht, von mir könne man ja nun wirklich nicht sagen, dass ich so weiblich sei, dass ich diesem weiblichen Klischee des Schwulen zuzurechnen sei. Aus so einer Einzelmeinung sollte ich mir gar nichts machen.

Und noch ein Histörchen: An einer Bushaltestelle sitze ich, gegenüber dem Häuschen auf der anderen Straßenseite, in dem die Fahrgäste für die Gegenrichtung warten. Dort sind auf der Bank zwei junge Männer mit Sporttaschen, Alter etwa neunzehn. Daneben ein etwas kurioses Paar von etwa Mittfünfzigern. Eine ziemilch dicke Frau, mit vielen Taschen, offenbar alkoholisiert. Und ihr Partner, ein mickriges Männchen, noch viel alkoholisierter, er kriegt kaum noch was mit. Das ältere Paar macht einen sozial etwas deklassierten Eindruck, es handelt sich aber augenscheinlich nicht um das, was man "Penner" nennt. Auch wüsste ich nicht, ob ich nun diese als "Alkoholiker" einstufen so einfach dürfte. Jedenfalls sind beide potthässlich und einigermaßen dumm (um es kurz sagen zu können). Nun patscht die Frau dem nebensitzenden Burschen auf dem Knie herum und löchert ihn mit Fragen. Was denn sie für ein Paar seien? Wo sie hingingen? Was sie am Abend noch vorhätten? Ob sie welche von denen, also, du weißt schon, von der Sorte eben, seien? Sei ja auch egal. Sie seien beide jedenfalls hoch schnuckelig. (Was ich nur bestätigen kann.) Ob sie dann noch Sex machen würden heute Abend? Na ja, wenn man so jung sei. Da sollten sie sich nur nichts dreinreden lassen. Sie seien so ein hübsches Paar. Und mit ihnen würde so ein altes Weib wie sie schon auch gerne noch mal. Aber das ginge ja wohl nicht, dafür sei man ja wohl zu alt und hässlich. (Was ich nur bestätigen kann.)

Wie du dir vorstellen kannst, waren die beiden jungen Männer extrem verlegen. Wurden aber keine Spur aggressiv, sondern lachten fleißig und ließen alles geschehen, bis der Bus kam. Dass es sich bei dem Männerpaar um ein schwules hätte handeln können, darauf war ich als Schwuler vorher überhaupt nicht gekommen. Vielmehr blieb ich bis zum Ende der Überzeugung, dass die beiden so etwas sicher noch nie miteinander gemacht hatten. (Vielleicht sind sie nun auf eine Idee gekommen.) Es war unübersehbar, dass die ältere Frau die Jünglinge sexuell interessant fand. Und ich fand sie, je länger ich zusah, auch immer interessanter für meine schwulen Bedürfnisse. Hätte selbst aber so ein Trara wie diese Frau im öffentlichen Raum und gegenüber so sportlichen Genossen natürlich niemals abgezogen als Schwuler, der ich bin. Das wäre mir dann doch zu heiß gewesen.

Jetzt. Was sagt diese Geschichte aus über DIE Frau? Nicht die eben Erwähnte, sondern alle auf der Welt! Was sagt sie aus über neunzehnjährige, gut aussehender, sportbegeisterte Männer? (Um jetzt mal nicht DIE Männer zu sagen, indem man noch den Partner der Alten herbeizöge; dem schien übrigens alles egal sein, die Alte hätte die Burschen ruhig mitnehmen können.) Und was über DIE Schwulen? Nichts, oder nicht viel. Dennoch ist es eine wahre Geschichte - und einigermaßen unerhaltsam, wenn man sie erzählt.

Was uns beide angeht, und da du nun schon wieder eine Geschichte von mit gelesen und rezensiert hast, sieht es für mich ein wenig nach Missverständnis aus. Da wir gerade die Texte des Gegenübers nicht so schlecht finden, wie das meiste Sonstige, was wir bisher gelesen haben hier, sind wir in Gefahr zu meinen, wir würden sie tatsächlich verstehen und schätzen. Und das ist, glaube ich, nicht der Fall. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich nicht begreife, worum es dir beim Schreiben letztlich geht - und du auch nicht, worum bei mir. Von daher warne ich, auch uns selber, davor, uns für "Freunde" zu halten. Bis wir uns eines Tage plötzlich die blauen Taucherflossen um die Ohren klatschen werden.
 



 
Oben Unten