Weißer Hund, schwarze Katze

Seine Großmutter hatte immer ein breites Lächeln in ihrem runden Gesicht und kannte eigentlich nur zwei Gemütszustände. Den werktäglichen und den am Sonntag.
An Werktagen zog sie stets ihre bunten, zumeist vielfach geflickten Hausarbeitskittel an, die sie auch bei der Gartenarbeit trug, sommers mit wenig darunter und im Winter mit dicker wollener Strickjacke darüber und Angorawäsche darunter.
Ähnlich hielt es sie es mit ihren einfarbigen dunklen Kleidern sonntags während des Kirchenbesuchs. Im späten Herbst und im Winter zog sie allerdings zur Heiligen Messe ein mittelblaues Kostüm an, das sie in den Ende Oktober aus einer alten Wäschetruhe holte und das in den ersten Tagen so stark nach Mottenpulver roch, dass ihr süßliches Parfüm dagegen ohne Chance war.
Während der sonntäglichen Küchenarbeit band sie sich eine weiße Schürze über ihr Kostüm. Fünf solcher Halbschürzen besaß sie. Alle vier Wochen wusch und stärkte sie diese. Die fünfte – eine mit Spitze besetzte – trug sie nur an hohen Festtagen, wie Weihnachten, Ostern und zum Geburtstag seines Großvaters. Auch am Tag meiner Erstkommunion hatte sie die Schürze umgebunden.
Irgendwie hielt es Erwin wie seine Großmutter, obwohl sie schon vor über dreissig Jahren starb und er inzwischen selbst Großvater war.
Er trug zwar keine Schürzen, kannte aber eine Sonntags- und eine Werktagslaune, eine eindeutig festlich bessere und eine eher bunte.
Natürlich kannte er auch Situationen, die sowohl eindeutig gut als auch bunt waren. Aber er mochte sie nicht. Ja, an solchen Tagen trübte sich seine Laune unweigerlich ein. In seine Stirn gruben sich drei steile Falten. Und wer ihm an diesen Tagen widersprach – zu recht oder zu unrecht – den verstand er derart zu provozieren, dass jener sich in Widersprüche verlor, über die Erwin in einer ansonsten bei ihm ungewohnt arroganten Art zu lästern verstand.
In der Regel endeten diese Auseinandersetzungen mit einem „Ich hab Dir doch gleich gesagt, dass Du Unsinn redest.“ Und am meisten ärgerte seine Gegner, dass er dabei auch noch breit und siegesgewiss grinste.
Seine Großmutter war eine kleine Frau. Sie maß nicht einmal 1,50 Meter. Und Erwins Freunden und Bekannten fiel immer wieder auf, dass er sich stets in besonders kleine Frauen verliebte, auch als er längst zu einem ziemlich athletisch gebauten, breitschultrigen und relativ großen Mann herangewachsen war.
Seine Großmutter konnte vieles, vor allem aber mit Tieren umgehen.
Selbst auf Kettenhunde ging sie zu. Nach einem kurzen Bellen oder Knurren, begannen die unweigerlich mit dem Schwanz zu wedeln und ließen sich von ihr streicheln.
Auch Erwin liebte Hunde und die offenbar auch ihn.
Vor ein paar Tagen, kam bei seinem täglichen Spaziergang durch die Felder nahe seines Wohnhauses eine kleine ihm bis dahin unbekannte Frau auf ihn zu, die einen großen weißen unregelmäßig kurz geschorenen Hund an einer langen Leine mit sich führte.
Der Hund schnüffelte kurz an Erwins Hose, lehnte den Kopf an sein Bein und bot ihm die Kehle zum Kraulen. Und immer wenn Erwin zu kraulen nachließ oder sobald er gehen wollte, stupste der Hund ihn mit der Schnauze an und bot ihm erneut die Kehle.
Sein kleines Frauchen zupfte sich ihre wollene Jacke zurecht und lächelte. „Der mag Sie. Gregor heißt er. Wie dieser Papst. Ich heiße übrigens Paula wie meine schwarze Katze.“
Tiefe Falten hatten ein Lächeln und das ständige Lächeln offenbar Falten in ihr breites Gesicht eingegraben. Vorsichtig räusperte sie sich. „Eigentlich mag ich lieber Katzen. Die können besser mit Freiheit umgehen! Gregor mag auch Katzen.“
Erwin traf Paula und ihren Hund einige Tage später wieder und hatte das Gefühl, als habe sie dort, wenige Meter von der Pforte seines Vorgartens bereits auf ihn gewartet.
Sie verneigte sich leicht. „Und? Sie mögen Freiheiten nicht. Oder?“ Forschend sah sie ihn mit ihren großen noch ungewöhnlich klaren Augen an.
„Doch, doch!“ Erwin überlegte. „Meine eigene Freiheit auf jeden Fall!“
Die kleine Frau nickte und ließ ihren Hund von der Leine. „Und wie wäre es zum Beispiel mit meiner Freiheit?“
„Aber ich könnte sie Ihnen doch gar nicht nehmen.“
Gregor hatte abgewartet.Jetzt stupste er ihn mit der Schnauze an. Vorsichtig kraulte Erwin den Kopf des weißen Hundes. Gregor hielt es nur kurz aus, lief einmal um ihn herum und zog sich winselnd hinter sein Frauchen zurück.
Paula lachte laut auf. „Er spürt, wenn ihn jemand mit der Absicht krault, sich seine Zuwendung zu erzwingen.“
„Will ich doch gar nicht.“ Erwin musste sich räuspern, um hinzuzufügen: „Er ist doch Ihr Hund.“
„Ich kraule ihn nie, wenn er nicht will. Er ist wie meine schwarze Katze.“ Sie blickte Erwin offen ins Gesicht. Eine Träne lief aus ihrem rechten Auge in eine der Falten ihres ständigen Lächelns.
Erwin breitete vorsichtig seine Arme aus und ging langsam auf Sie zu. Als er sie an sich drücken wollte, wich sie zurück, drehte sich ohne Hast um und entfernte sich ein paar Schritte. Ihr Hund folgte ihr, ohne dass sie ihn dazu aufforderte.
Nach wenigen Metern blieb sie stehen, kraulte Gregors Kopf und sah sich um.
Erwin wollte ihr folgen, blieb aber stehen und winkte behutsam. Gregor kam noch einmal zurück und bot ihm die Kehle.
„Wir sehen uns demnächst wieder…!“ rief Paula lachend.
Erwin machte ein paar Schritte auf sie zu. Sie blieb stehen.
Auch er hielt inne. „Ich hasse Unklarheiten.“ Er erschrak über seinen barschen Tonfall.
Paula nickte. „Ich weiß.“ Gregor knurrte und fletschte die Zähne.
Sie wandte sich um, machte sich langsam auf den Weg und nahm den nächsten Abzweig nach links.
„Wo wollen Sie hin? Sie müssen doch geradeaus gehen.“ Rief Erwin ihr hinterher.
Sie blickte sich noch einmal um, winkte ihm und schrie fast: „Ich liebe Umwege!“
 



 
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