Weiterich und Gantenbein

Matula

Mitglied
Auf meiner letzten Urlaubsreise hatte ich das Eisenbahncoupé mit zwei älteren Herren zu teilen, wovon der eine sich sofort in ein umfängliches Buch vertiefte, während der andere Interesse an der draußen vorbeiziehenden Landschaft zeigte. Nach einer halben Stunde wollte der Leser seine Reisetasche von der Ablage holen, wohin er sie nach dem Einsteigen mit Schwung geworfen hatte. Nun zeigte sich, dass er nicht groß genug war, sie wiederzuerlangen. Der andere Fahrgast, mit deutlich längeren Beinen ausgestattet, erkannte die Not und half.
"Ganz reizend, sehr liebenswürdig, vielen tausend Dank!" flötete der Leser. "Ich hätte es nicht besser machen können."
Der Langbeinige verstand den Witz nicht, wollte aber freundlich sein. "Nichts zu danken. Falls Sie die Tasche wieder hinaufstellen wollen, stets zu Diensten. Darf ich mich vorstellen: Karl Weiterich."

"Sehr angenehm, mein Name ist Gantenbein. Und wenn Sie tatsächlich so freundlich wären ...". Er öffnete die Tasche und entnahm ihr eine Schachtel mit Medikamenten. Man sah, dass der restliche Inhalt im Wesentlichen aus Büchern bestand. Der Helfer wuchtete sie zurück auf die Ablage mit der Bemerkung, dass der Leser offenbar seine halbe Bibliothek eingepackt hatte.

Gantenbein lachte: "In diesem Fall hätten Sie im ganzen Wagon kein freies Plätzchen für sich und Ihren Koffer gefunden. Nein, nein, das ist nur eine kleine Auswahl für drei lange Wochen, die ich mich im Hause meines Bruders zu verbringen, verpflichtet habe. Er selbst wird nicht anwesend, sondern im Krankenhaus sein. Ich bin gewissermaßen als Hausbesorger engagiert."

Man konnte sehen, wie Weiterich das Gesagte dem Inhalt und der Form nach zu erfassen versuchte. Dabei betrachtete er Gantenbein wie einen sprechenden Pudel. "Da haben Sie recht, drei Wochen können lang werden, wenn man hunderte Male an einem Ort war und schon alles kennt. Ich besuche ja jeden Ort nur zweimal, denn für einen dritten Besuch ist das Leben zu kurz."

Gantenbein spülte mit Hilfe einer kleinen Mineralwasserflasche eine Tablette hinunter, nickte und wollte sich wieder seiner Lektüre widmen. Der Andere aber war in Konversationslaune, vielleicht, weil er schon zweimal durch die Landschaft gefahren war, durch die sich unser Zug nun bewegte, vielleicht, weil er meinte, für seine weitere Dienstleistung nicht ausreichend bedankt worden zu sein.
"Haben Sie noch eine lange Reise vor sich?" wollte er wissen.
Gantenbein hob den Blick und sah mich an. "Nein, pardon, die Frage war an Sie gerichtet," korrigierte Weiterich, "es sei denn, Sie wollen lieber wieder lesen."

"Ich? Also nein. Ich fahre nur bis C., das wir in etwa einer Stunde erreichen sollten. Es trifft auch nicht zu, dass ich mich dort schon hunderte Male aufgehalten hätte. Mein Bruder hat das Haus erst vor Kurzem erworben, bei welcher Gelegenheit ich es oberflächlich in Augenschein genommen habe. Beantwortet das Ihre Frage?"

Weiterich überging den letzten Satz und rief: "Nach C. fahren Sie! Also, da kann ich Ihnen prophezeien, dass Sie sich keine Minute langweilen werden. Sie werden gar nicht dazukommen, ein Buch aufzuschlagen. Es gibt dort und in der Umgebung soviel zu sehen. Die römischen Ausgrabungsstätten, das Museum ..."

"Wenn ich Sie an dieser Stelle unterbrechen darf," warf Gantenbein ein, "ich lese nicht aus Langeweile. Ich lese aus Lust und Neugier - sofern es die Situation gestattet."

"Ja, Lesen ist natürlich wichtig, keine Frage, aber das Volkskundliche Museum in C. ist berühmt für seine Nachttopfsammlung. Sie werden staunen, was man sich früher so unter den Allerwertesten geschoben hat. Eine Jugendstil-Bettpfanne, zum Beispiel. Heute würde man die als Salatschüssel verwenden!"

"Sehr unterhaltsam," erwiderte Gantenbein, ohne die Miene zu verziehen "aber ich werde mich mit Bettpfannen beschäftigen, wenn ich ihrer bedarf. Diese absurden Objektsammlungen, die schon in jedem Dorf zu besichtigen sind, sind Nachgesänge auf das Industriezeitalter. Man wird sie eines Tages still und leise entsorgen und sie werden niemandem fehlen."

"Also, wenn Sie sich nicht für die Ausgrabungen und nicht für das Museum interessieren, gib es in C. noch die Galerie 'Rössler' mit den Skulpturen von ... wie hieß er ? Ich glaube, Hademar ... ja! Hademar und ... Siglinde? Egal, jedenfalls mit Skulpturen des Ehepaar 'Rössler'. Ein Teil stammt immer von ihr, der andere von ihm. Recht witzig. Zum Beispiel, die Bronze 'Herr mit Drachen'. Er hat den Herrn gemacht, sie den Drachen - oder umgekehrt. Ist schon ein paar Monate her, dass ich dort war. Man sieht jedenfalls einen Mann, der einen Drachen an der Leine ..."

"Ja, ja," unterbrach ihn Gantenbein ungeduldig. "Ich habe schon verstanden, dass Sie ein sinnlicher Mensch sind, der alles sehen und bestaunen muss. Sie begnügen sich nicht mit treffenden Beschreibungen, und mag der Verfasser sich noch soviel Mühe geben. Alles muss aus erster Hand sein. Wahrscheinlich machen Sie auch Photographien und belehren damit Ihre Freunde. Wegen Ihresgleichen wird Venedig im Meer versinken, müssen Höhlenmalereien unter Verschluss gehalten und Naturdenkmäler weitläufig umzäunt werden. Aber sehen Sie, ich bin von ganz anderer Art. Ich werde in C. vielleicht hin und wieder einen Spaziergang machen, mir aber gewiss keine Nachttöpfe oder eheliche Gemeinschaftsbronzen ansehen."

"Es gibt viele schöne Weinberge in der Umgebung. Da können Sie stundenlang wandern, denn das ewige Sitzen mit den Büchern ist ja nicht gesund. Aber das brauche ich einem gebildeten Menschen, wie Sie einer sind, nicht zu erklären." Weiterich war nun doch ein wenig indigniert.

"Nein, das brauchen Sie mir wahrlich nicht zu erklären," seufzte Gantenbein. "Sie haben mich vorhin meine Arznei einnehmen sehen. Es ist der Blutdruck, den ich nur mit Hilfe dieser kleinen blassblauen Pillen in Schach halten kann. Ein Abenteurer wie Sie braucht dergleichen natürlich nicht. Sie werden neunzig Jahre oder älter werden. Dafür gibt es genug Beispiele. Getrieben vom Wunsche, noch dieses und jenes zu sehen, 'mitzunehmen', wie Ihresgleichen zu sagen pflegt, die Anden, den Himalaya, das Schelfeis und die Wüste Gobi, werden Sie immer weiter wandern und wandern und ..."

"Sie werden lachen, aber das meiste davon habe ich tatsächlich schon gesehen," unterbrach ihn Weiterich. "Und im Herbst geht es wieder nach Australien. Diesmal an die Ostküste. Wissen Sie, jeder Ort hat seinen eigenen Geruch ... , " er deutete mit Daumen, Mittel- und Zeigefinger das Gewusel der Duftmoleküle vor seiner Nase an, "seine ganz eigene Musik ... ," er wedelte mit der Hand vor dem gesenkten Ohr. "... und seine ganz besonderen Laufhäuser," ergänzte Gantenbein und vollführte eine obszöne Geste. Weiterich errötete spurenhaft und warf mir einen verstohlenen Blick zu. "Aber ich bitte Sie, wir sind in Gesellschaft einer Dame!"

"Ja, und darum lassen wir die Dame jetzt ungestört in ihrem Journal blättern," antwortete Gantenbein und klappte sein Buch um, das er aufgespreizt auf seinem Schoß liegen hatte. Weiterich aber, gereizt von der ihn ausschließenden Tätigkeit des Lesens, begann nach einer Weile herum zu hüsteln und die langen Beine einmal rechtsherum, dann linksherum übereinander zu schlagen. Endlich konnte er den kindlichen Drang nach Beachtung nicht mehr zähmen und sagte in barschem Ton: "Aber eines müssen Sie mir schon noch erklären: wie kann die Schilderung zum Beispiel einer Landschaft den Anblick der Landschaft selbst ersetzen? Denken Sie an die Tradition der Landschaftsmalerei, mit der man sich immer bemüht hat, dem Betrachter ein möglichst genaues Bild zu vermitteln, anstelle des Originals, das ihm nicht zur Verfügung steht. Später kam die Photographie, die in dieser Hinsicht noch mehr zu bieten hat. Aber Worte? Worte reichen aus, um eine Skizze zu liefern, einen groben Überblick. Keine Beschreibung könnte mir den Anblick einer stürmischen See oder eines Sonnenuntergangs ersetzen!"

Gantenbein hatte widerwillig zugehört und bedeutete Weiterich, die Lautstärke seiner Stimme zu senken. "Sie müssen sich nicht so alterieren. Niemand will Ihnen den Sonnenuntergang oder die stürmische See wegnehmen. Ich will Ihren Wunsch nach dem sinnlichen Erleben auch nicht herabwürdigen oder mich gar über Sie lustig machen. Aber wie Sie wissen, haben Landschaftsmaler keineswegs nur nach der Natur gemalt, sondern die schönsten Landschaften aus der Phantasie erschaffen. Der Wunsch, die Wirklichkeit nach eigener Anschauung zu verändern, ist so alt wie die Menschheit. Manche benutzen dazu Worte, manche den Pinsel. Sind Sie jetzt zufrieden?"

Weiterich überlegte. Offensichtlich fühlte er sich abgespeist und musste den Faden wieder aufnehmen: "Viele bedeutende Männer haben darauf hingewiesen, dass Reisen den Horizont erweitert, dass es Bildung vermittelt und der Völkerverständigung dient. Damit war nicht das Lesen von Reiseberichten gemeint, sondern der Mensch als Forscher und Eroberer, als mutiger Pionier und Weltumsegler. - Ich würde ja zu gern wissen, wie Sie zu Ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem unmittelbaren, echten Erlebnis gekommen sind."

"Es scheint Sie sehr zu stören, dass ich lese," erwiderte Gantenbein süffisant und legte sein Buch beiseite. "Sie haben schätzungsweise zehn hoch vierzehn Bilder aus aller Welt im Kopf. Was lässt Sie glauben, dadurch ein besserer Mensch zu sein, oder ein klügerer? Sie kennen doch die Geschichte des Joseph Kyselak, den für Begriffe des frühen neunzehnten Jahrhunderts weitgereisten Hofbeamten, der überall wohin er kam, seinen Namen malte, eingravierte oder - ritzte? Sein Beispiel zeigt in übersteigerter Form die orale Gier des Touristen, der sich alles einverleiben, zu eigen machen oder wenigstens ein Stück davon mit nach Hause nehmen will. Leider ist mir auch entgangen, dass die Massenmobilität der letzten siebzig Jahre einen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet hätte. So gesehen ist es denkbar, dass die bedeutenden Männer, auf die Sie sich berufen, sehr viel kleinräumiger gedacht und nicht für möglich gehalten haben, dass auch die Eingeborenen eines fernen Landes gern zu touristischen Zwecken ins Ausland reisen würden. - Was mich selbst betrifft, habe ich das Reisen immer nach Tunlichkeit vermieden. Ich finde in der Fremde nichts von Bedeutung. Nach zwei, drei Tagen bin ich aufgebläht von den vielen Eindrücken und obstipiert, weil ich sie nicht verdauen kann. Nach einer Woche ist mir alles zuwider. In meinen Büchern dagegen bin ich zu Hause, dort kenne ich jeden und bin selber immer ein Anderer ..."

In diesem Moment sprang Weiterich auf, riss den Mantel vom Haken und den Koffer von der Ablage. "Jetzt wird's aber Zeit!" rief er. "Ich muss aussteigen! Wünsche allseits eine angenehme Weiterfahrt!"

Gantenbein ließ ein erleichtertes Schnaufen hören und widmete sich seiner Lektüre. Als es dann an ihm war, den Zug zu verlassen, zeigte sich, dass Weiterich seine Reisetasche in den hintersten Winkel der Ablage geschoben und dort geradezu verkeilt hatte. Ich musste also die Schuhe ausziehen und auf die Sitzbank steigen. Von Gantenbein an den Gesäßbacken abgestemmt, gelang es mir nach langem Ziehen und Zerren, das gewichtige Ding herunterzuholen und seinem Besitzer auszuhändigen. "Zu gütig, liebe gnädige Frau," sagte er und deutete einen Handkuss an. Bei dieser Gelegenheit konnte ich die Initialen "MF" auf seinem Siegelring lesen und dachte mir später, dass man nichts von dem, was in einen Eisenbahncoupé zwischen Fremden gesprochen wird, für bare Münze nehmen darf.
 



 
Oben Unten