Sonja:
Verdammt, wer muss denn da draußen schon in aller Frühe so laut quatschen? Heute ist doch Sonntag!
Mensch, ist das heiß hier unter der Bettdecke! Und schwer ist die... Stöhnend schüttle ich sie ab. Aber obwohl ich nun nackt auf meinem Bett liege, ist mir noch immer heiß. Oh, mein Kopf! Kann ich denn nicht noch einmal einschlafen...
Während ich mich auf die andere Seite wälze, fällt mein Blick auf den Wecker. Was – schon halb elf? Mist, ich muss doch heute um zwölf bei Irene sein! Kindergeburtstag mit großem Familientreffen, Sonntagsbraten, Torte und allem Drum und Dran. Wie ich das hasse! Neffe Benjamin ist ja süß. Drei wird er nun schon... Wie ich Irene kenne, wird er auch bald ein Geschwisterchen bekommen.
Irene: wunderbare Mutter – unersetzlich als rechte Hand in der Anwaltskanzlei ihres Mannes – ungeheuer sportlich und gebildet - sicher auch im Bett eine Wucht....
Ach, was denke ich da schon wieder? Ich hab meine Schwester doch lieb! Früher hat sie mich immer beschützt, wenn die großen Jungs auf uns losgingen, mich verteidigt, wenn Mutter wieder mal wegen meiner schlechten Noten schimpfte. „Nimm dir doch ein Beispiel an deiner Schwester!“ hieß es immer.
Wollte ich ja! Aber in der Schule war ich eben zu doof. Mein erster Job war super, aber die Firma ging pleite. Und dann hatte ich jobmäßig nur noch Pech. Klar, einmal war ich selbst schuld daran, dass ich meinen Job verlor! Musste ich mich denn ausgerechnet in Jochen, unseren Abteilungsleiter, verknallen? Mit seinen zweideutigen Bemerkungen brachte er mich so aus dem Konzept, dass ich nur noch Mist baute.
Männer haben mir ohnehin immer nur Unglück gebracht. Wenn ich nur an Rolf denke! Wie hingerissen er anfangs von mir war, von meiner Offenheit, meiner Fähigkeit mich hinzugeben... und dann hieß es plötzlich nur noch, ich sei klebrig und einengend.
Oder Walter: Sein Ruhepol sei ich, nur bei mir könne er sich von seinem anstrengenden Job erholen – bis ich erfuhr, dass er längst eine andere, wohl aufregendere Freundin hatte...
Verflixt, ich muss aufstehen und etwas gegen diese verdammten Kopfschmerzen schlucken! Musste ich denn gestern unbedingt die ganze Flasche Merlot trinken?
Ja, musste ich. Na und? Wen geht das etwas an? Ich bin für niemanden verantwortlich als für mich selbst!
Im Übrigen glaube ich, heute ist es soweit. Heute habe ich endlich den Mut, das zu tun, woran ich schon seit Monaten, nein Jahren denke:
Ich werde nicht mit der U-Bahn zu Irene fahren, sondern mit dem 35er zur Großfeldsiedlung. Bei einem der sechzehn- oder siebzehnstöckigen Häuser werde ich anläuten - irgendjemand wird mich schon ins Haus lassen. Mit dem Lift ins oberste Stockwerk hochfahren, das Gangfenster öffnen, aufs Fensterbrett klettern und...
Schnell muss es gehen, damit mich niemand mehr aufhalten kann! Hundertmal habe ich es mir schon überlegt, zweimal war ich sogar schon in einem der Häuser oben, habe aus dem Fenster geschaut und darüber nachgedacht, ob die Höhe wohl ausreichen würde. Wenn ich mir bei dem Sturz nun nur eine Querschnittlähmung zuzog? Aber es waren doch mindestens 35 Meter, und direkt vor dem Haus war keine Wiese, nur Asphalt.
Ja, es wird genügen, und es muss heute geschehen! Ich habe es endgültig satt, Tag für Tag zu funktionieren, habe es satt, die Leere in meinem Leben mit Arbeit, Alkohol und Heavy-Metal zu füllen, habe es satt, bei jeder Begegnung mit anderen Menschen diese unsichtbare Mauer zu spüren, die mich von ihnen trennt.
Satt, satt, satt!
Der Ekel, der während dieser Gedanken in mir hochgestiegen ist, der Zorn auf diese Frau, die hier kraftlos und verkatert im Bett in einer gesichtslosen Zweizimmerwohnung liegt, gibt mir endlich die Energie, die ich brauche, um aufzustehen und mich anzuziehen.
Irene:
So, die Torte ist fertig! Sieht lecker aus. Wäre das schön, jetzt eine halbe Stunde auf der Terrasse zu sitzen oder ein wenig mit Benni zu spielen!
Aber Günter und er brauchen mich ohnehin nicht. Was die beiden im Kinderzimmer wohl wieder anstellen? Günter ist ein wundervoller Vater... und doch wird Benni wohl unser einziges Kind bleiben. Wie ansteckend sein Lachen klingt! Beinahe muss ich mitlachen.
Dabei ist mir ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Schrecklich müde bin ich, und da ist auch wieder dieser stechende Schmerz.
Ich muss mich mit dem Huhn beeilen, sonst gibt’s vor eins sicher kein Mittagessen.
Manchmal wäre es mir ja lieber, Günter würde etwas weniger mit seinem Sohn spielen und stattdessen mir im Haushalt helfen! Er muss es ohnehin lernen, für den Fall, dass ich...
Quatsch, der Tumor ist doch früh entdeckt worden, ich werde bald operiert, wahrscheinlich brauche ich danach noch Therapien, aber dann wird wieder alles gut werden. Solange ich außer Gefecht bin, wird Mutter zu Hause für mich einspringen. Gut, dass sie endlich in Rente ist! Und in Günters Kanzlei wird’s wohl auch mal ein paar Wochen ohne mich gehen!
Aber heute muss ich es ihnen endlich sagen! In drei Wochen ist schon der OP-Termin. Klar ist so ein Kindergeburtstag nicht der günstigste Tag für solche Hiobsbotschaften! Doch heute sind wenigstens mal alle da. Mutter und Vater, Günters Eltern und sogar Sonja. Endlich sehe ich auch meine Schwester mal wieder! Da wohnen wir in derselben Stadt und treffen uns doch nur alle paar Monate. Am Telefon ist sie immer so einsilbig, dass ich meistens bald wieder auflege. Ich weiß, dass sie einsam und unzufrieden ist, aber wie soll ich ihr helfen? Oft habe ich beinahe ein schlechtes Gewissen, weil ich soviel mehr Glück habe als sie.
Glück hatte! Wer weiß...
Ich werde es ihnen erst sagen, wenn Benni im Bett ist. Benni wird zwar auch erfahren müssen, dass ich krank bin und operiert werden muss, aber dass es so etwas Ernstes ist, braucht er nicht zu wissen.
Hoffentlich bleiben am Abend alle lang genug hier! Na ja, zuerst Mittagessen, dann ein Spaziergang in den Park hinüber, hinterher Kaffee und Torte und dann die Geschenke für das Geburtstagskind. Danach wird Benni vielleicht mit seinen Freunden noch auf den Spielplatz gehen, und die Männer werden sich wohl im Fernsehen das Autorennen ansehen, während die beiden Omas Kochrezepte austauschen oder so.
Eigentlich sind mir diese vorhersehbaren biederen Familienfeiern in letzter Zeit schon gewaltig auf den Keks gegangen! Aber seit der Diagnose ist plötzlich alles anders...
Also: Sobald Benni im Bett ist, machen wir eine Flasche Wein auf und ich sage es ihnen, ganz emotionslos und sachlich. Ob ich das schaffe? Wie auch immer, heute müssen sie es erfahren!
Verdammt, es wird schon elf – das Huhn!
Verdammt, wer muss denn da draußen schon in aller Frühe so laut quatschen? Heute ist doch Sonntag!
Mensch, ist das heiß hier unter der Bettdecke! Und schwer ist die... Stöhnend schüttle ich sie ab. Aber obwohl ich nun nackt auf meinem Bett liege, ist mir noch immer heiß. Oh, mein Kopf! Kann ich denn nicht noch einmal einschlafen...
Während ich mich auf die andere Seite wälze, fällt mein Blick auf den Wecker. Was – schon halb elf? Mist, ich muss doch heute um zwölf bei Irene sein! Kindergeburtstag mit großem Familientreffen, Sonntagsbraten, Torte und allem Drum und Dran. Wie ich das hasse! Neffe Benjamin ist ja süß. Drei wird er nun schon... Wie ich Irene kenne, wird er auch bald ein Geschwisterchen bekommen.
Irene: wunderbare Mutter – unersetzlich als rechte Hand in der Anwaltskanzlei ihres Mannes – ungeheuer sportlich und gebildet - sicher auch im Bett eine Wucht....
Ach, was denke ich da schon wieder? Ich hab meine Schwester doch lieb! Früher hat sie mich immer beschützt, wenn die großen Jungs auf uns losgingen, mich verteidigt, wenn Mutter wieder mal wegen meiner schlechten Noten schimpfte. „Nimm dir doch ein Beispiel an deiner Schwester!“ hieß es immer.
Wollte ich ja! Aber in der Schule war ich eben zu doof. Mein erster Job war super, aber die Firma ging pleite. Und dann hatte ich jobmäßig nur noch Pech. Klar, einmal war ich selbst schuld daran, dass ich meinen Job verlor! Musste ich mich denn ausgerechnet in Jochen, unseren Abteilungsleiter, verknallen? Mit seinen zweideutigen Bemerkungen brachte er mich so aus dem Konzept, dass ich nur noch Mist baute.
Männer haben mir ohnehin immer nur Unglück gebracht. Wenn ich nur an Rolf denke! Wie hingerissen er anfangs von mir war, von meiner Offenheit, meiner Fähigkeit mich hinzugeben... und dann hieß es plötzlich nur noch, ich sei klebrig und einengend.
Oder Walter: Sein Ruhepol sei ich, nur bei mir könne er sich von seinem anstrengenden Job erholen – bis ich erfuhr, dass er längst eine andere, wohl aufregendere Freundin hatte...
Verflixt, ich muss aufstehen und etwas gegen diese verdammten Kopfschmerzen schlucken! Musste ich denn gestern unbedingt die ganze Flasche Merlot trinken?
Ja, musste ich. Na und? Wen geht das etwas an? Ich bin für niemanden verantwortlich als für mich selbst!
Im Übrigen glaube ich, heute ist es soweit. Heute habe ich endlich den Mut, das zu tun, woran ich schon seit Monaten, nein Jahren denke:
Ich werde nicht mit der U-Bahn zu Irene fahren, sondern mit dem 35er zur Großfeldsiedlung. Bei einem der sechzehn- oder siebzehnstöckigen Häuser werde ich anläuten - irgendjemand wird mich schon ins Haus lassen. Mit dem Lift ins oberste Stockwerk hochfahren, das Gangfenster öffnen, aufs Fensterbrett klettern und...
Schnell muss es gehen, damit mich niemand mehr aufhalten kann! Hundertmal habe ich es mir schon überlegt, zweimal war ich sogar schon in einem der Häuser oben, habe aus dem Fenster geschaut und darüber nachgedacht, ob die Höhe wohl ausreichen würde. Wenn ich mir bei dem Sturz nun nur eine Querschnittlähmung zuzog? Aber es waren doch mindestens 35 Meter, und direkt vor dem Haus war keine Wiese, nur Asphalt.
Ja, es wird genügen, und es muss heute geschehen! Ich habe es endgültig satt, Tag für Tag zu funktionieren, habe es satt, die Leere in meinem Leben mit Arbeit, Alkohol und Heavy-Metal zu füllen, habe es satt, bei jeder Begegnung mit anderen Menschen diese unsichtbare Mauer zu spüren, die mich von ihnen trennt.
Satt, satt, satt!
Der Ekel, der während dieser Gedanken in mir hochgestiegen ist, der Zorn auf diese Frau, die hier kraftlos und verkatert im Bett in einer gesichtslosen Zweizimmerwohnung liegt, gibt mir endlich die Energie, die ich brauche, um aufzustehen und mich anzuziehen.
Irene:
So, die Torte ist fertig! Sieht lecker aus. Wäre das schön, jetzt eine halbe Stunde auf der Terrasse zu sitzen oder ein wenig mit Benni zu spielen!
Aber Günter und er brauchen mich ohnehin nicht. Was die beiden im Kinderzimmer wohl wieder anstellen? Günter ist ein wundervoller Vater... und doch wird Benni wohl unser einziges Kind bleiben. Wie ansteckend sein Lachen klingt! Beinahe muss ich mitlachen.
Dabei ist mir ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Schrecklich müde bin ich, und da ist auch wieder dieser stechende Schmerz.
Ich muss mich mit dem Huhn beeilen, sonst gibt’s vor eins sicher kein Mittagessen.
Manchmal wäre es mir ja lieber, Günter würde etwas weniger mit seinem Sohn spielen und stattdessen mir im Haushalt helfen! Er muss es ohnehin lernen, für den Fall, dass ich...
Quatsch, der Tumor ist doch früh entdeckt worden, ich werde bald operiert, wahrscheinlich brauche ich danach noch Therapien, aber dann wird wieder alles gut werden. Solange ich außer Gefecht bin, wird Mutter zu Hause für mich einspringen. Gut, dass sie endlich in Rente ist! Und in Günters Kanzlei wird’s wohl auch mal ein paar Wochen ohne mich gehen!
Aber heute muss ich es ihnen endlich sagen! In drei Wochen ist schon der OP-Termin. Klar ist so ein Kindergeburtstag nicht der günstigste Tag für solche Hiobsbotschaften! Doch heute sind wenigstens mal alle da. Mutter und Vater, Günters Eltern und sogar Sonja. Endlich sehe ich auch meine Schwester mal wieder! Da wohnen wir in derselben Stadt und treffen uns doch nur alle paar Monate. Am Telefon ist sie immer so einsilbig, dass ich meistens bald wieder auflege. Ich weiß, dass sie einsam und unzufrieden ist, aber wie soll ich ihr helfen? Oft habe ich beinahe ein schlechtes Gewissen, weil ich soviel mehr Glück habe als sie.
Glück hatte! Wer weiß...
Ich werde es ihnen erst sagen, wenn Benni im Bett ist. Benni wird zwar auch erfahren müssen, dass ich krank bin und operiert werden muss, aber dass es so etwas Ernstes ist, braucht er nicht zu wissen.
Hoffentlich bleiben am Abend alle lang genug hier! Na ja, zuerst Mittagessen, dann ein Spaziergang in den Park hinüber, hinterher Kaffee und Torte und dann die Geschenke für das Geburtstagskind. Danach wird Benni vielleicht mit seinen Freunden noch auf den Spielplatz gehen, und die Männer werden sich wohl im Fernsehen das Autorennen ansehen, während die beiden Omas Kochrezepte austauschen oder so.
Eigentlich sind mir diese vorhersehbaren biederen Familienfeiern in letzter Zeit schon gewaltig auf den Keks gegangen! Aber seit der Diagnose ist plötzlich alles anders...
Also: Sobald Benni im Bett ist, machen wir eine Flasche Wein auf und ich sage es ihnen, ganz emotionslos und sachlich. Ob ich das schaffe? Wie auch immer, heute müssen sie es erfahren!
Verdammt, es wird schon elf – das Huhn!