Weitsicht

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Tula

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Weitsicht

Als ich gestern in die Ferne sah,
schien mir diese plötzlich seltsam nah.
Näher noch – ich weiß, das klingt jetzt dumm,
als der leere Raum um mich herum.

Dieser Raum, gefüllt mit lauer Luft,
die mir dauernd in die Seele pufft;
diese schnöde Enge ganz aus Nichts,
die Garotte meines Gleichgewichts.

Dieses ungreifbare Nichts-Substrat,
licht- und schattenarme Wechselbad;
dieses körperlose Hindernis,
steter Zwang, im Ausgang – ungewiss.

Als mir, wie schon oben angeführt,
diese Ferne jäh im Innern rührt,
fand ich darin eine tiefen Sinn:
Manchmal will der Mensch woanders hin.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Die Pointe kommt wie eine herbeigesehnte Ohrfeige.
Grüße KK
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
oder wie das schnappatmen nach dem auftauchen
ganz ausgezeichnet

gun.
 
G

Gelöschtes Mitglied 13736

Gast
Moin,
die 3. Strophe ist genial!
LG
Oscarchen
 
Hallo Tula,

besonders interessant in deinem Gedicht finde ich das "Garotte"-Bild:

Dieser Raum, gefüllt mit lauer Luft,
die mir dauernd in die Seele pufft;
diese schnöde Enge ganz aus Nichts,
die Garotte meines Gleichgewichts.
Es ist schon ein sehr eindringlicher Vergleich, war die Garotte doch eine besonders grausame Hinrichtungsform, vor allem in Spanien bis zur Herrschaft Francos. Der spanische Maler Francisco de Goya hat in seinen Grafiken Desastres de la Guerra zur Zeit Napoleons aus eigener Anschauung einige realistische Illustrationen dazu angefertigt ... Wie dem auch sei, das unerbittliche Abschnüren der Luft verdeutlicht hier anschaulich in den Versen, wie sehr die (beengende Situation) dem lyrischen Ich zu schaffen macht.

Die Auflösung am Schluss gefällt mir auch sehr gut, ebenso der vordergründig heitere Ton kombiniert mit ernstem Inhalt.

Gruß,
Artbeck
 

Tula

Mitglied
Hallo
Mein Dank in die Runde, für Kommentare, Sternchen und herbeigesehnte Ohrfeigen ;)
Ja Klaus, manchmal braucht der Mensch etwas Schmerz, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen.

Hein, da hilft nur Schreiben, schreiben ... und hin und wieder ein fester Griff ans Glas!

Gunnar, der Vergleich passt ausgezeichnet! Trifft auch die Idee der Garotte (siehe weiter unten)

Oscarchen, eigentlich wollte ich mit einem Ferne-Herne Reim antworten. Ob ich da jetzt wirklich hin will, hängt von der Schneelage ab. Den (Schnee) gibt es hier mittlerweile ebenso, natürlich nur in höheren Gebieten.

Lieber Artbeck, Danke für den ausführlichen Kommentar. In der Tat dachte ich bei der Garotte an das sprichwörtliche 'keine Luft zum Atmen haben', d.h. in seelischer Hinsicht. Und ja, Humor ohne ernsthafte Gedanken artet in Albernheit aus, die zwar auch wichtig ist, aber weniger reizvoll für ein Gedicht.

Euch allen einen schönen Sonntag
Tula
 
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