Und auch, wenn ich mit dieser Meinung im Gegenwartsdiskurs sicherlich als altertümlich gelte: Ich gehe davon aus, dass mangelnder Sinn kein Merkmal von anzustrebender Intellektualität ist, sondern diese Intellektualität selbst nur ein Symptom von Entfremdung darstellt. Möglicherweise ist deshalb manches Kunstprodukt selbst nur der Versuch, sich künstlerisch, aber hilflos mit einer Umwelt auseinanderzusetzen, welche selbst als inkohärent, fragmentiert und entfremdet wahrgenommen wird. Ich persönlich denke, dass Teile der gegenwärtigen Kunstschaffenden genau an dieser vermeintlichen Herausforderung kranken, weil sie denken, es wäre unbedingt notwendig, diese Umweltbedingungen in ihrem Werk abbilden zu müssen.
Hallo Frodomir,
bin ein neugieriges Ding und möchte gern dazu ergänzende Besenfung liefern.
Dein Zitat oben ignoriert, dass jede Epoche ihre "unverständliche" Avantgarde hatte, die später kanonisiert wurde. "Mangelnden Sinn"
für wen? Die Annahme, dass Unverständlichkeit gleich Sinnlosigkeit sei, ist ein rezeptionsästhetischer Kurzschluss.
So, jetzt hole ich das Brotaufschmiermesser für eine Schicht Butter:
Unverständlichkeit ist zunächst ein relationaler Begriff... etwas ist unverständlich für jemanden in einem bestimmten Moment. Daraus auf Sinnlosigkeit zu schließen, verwechselt die Grenzen des eigenen Verstehens mit den Grenzen des Sinns selbst. Das wäre so, als würde ein Mensch ohne Chinesischkenntnisse behaupten, ein chinesischer Text sei sinnlos, weil er ihn nicht entschlüsseln kann.
Beethovens späte Streichquartette galten den Zeitgenossen als unverständlich-wirr, teilweise als Produkt seiner Taubheit, doch heute gelten sie als Gipfel der Kammermusik. Mallarmés Lyrik wurde als sinnentleerte Spielerei abgetan, bevor sie zur Grundlage moderner Poetik wurde. Schau in das 12. Jahrhundert Frankreich, da gab es wahrhaft große Wortakrobaten. Die Rezeptionsgeschichte zeigt systematisch, dass das Urteil "sinnlos" häufig nur die Latenz eines noch nicht entwickelten Verstehenshorizonts markiert. Das klingt erstmal arrogant, aber...
Nun könnte man einwenden: Dass Beethoven später verstanden wurde, beweist
gerade, dass dort tatsächlich Sinn war, der sich erschließen ließ. Das wäre dann kein Argument für beliebige Hermetik, sondern für das Gegenteil, echte Komplexität kann entschlüsselt werden. Die Frage wäre also, ob das für jedes zeitgenössische Werk gilt, das sich auf diese Genealogie beruft, oder ob manche schlicht die Geste der Unverständlichkeit imitieren, ohne den Gehalt. Davon abgespalten gibt es zu dem noch dieses "Ich-schreibe-was-ich-fühle-Ding" was beim Leser zu einem "Ich fühle xyz, was ich lese." führt. Und woher weiß derjenige, der fühlt, was es ist, was er fühlt? Wir haben also definitiv nicht nur das Argument des Intellektualisierens. Ein berechtigter Punkt. Aber wer entscheidet das und wann? Auch hier zeigt die Geschichte, dass dieses Urteil oft Jahrzehnte braucht. Der Zeitgenosse ist denkbar schlecht positioniert, um zwischen "noch nicht verstandenem Genie" und "leerer Pose" zu unterscheiden.
Und die Historie der Lyrik untermauert das auch: Es gab schon immer hyperrealistische Perfektionisten, die im Gottesehrfurchtsglauben Kunst betrieben haben, aber auch jene, die damit begonnen haben, dies zu verweigern. Ob die nun stark paranoid waren oder nicht, spielt ja erstmal keine Rolle (jakopo).
Nimm einen Schnürsenkel und führe den Senkel durch das für den Senkel vorgesehene Loch. Dieses Bildnis hast du sofort vor Augen und jetzt stelle dir das Bild in der vierten, fünften oder sechsten Dimension vor. Mathematisch könnte man das womöglich tatsächlich darstellen, für unsere Wahrnehmungsorgane und für unsere erlebte "Wirklichkeit" ist das aber, wie mir scheint, erstmal nicht wahrnehmbar. Oder mir hat ein Huhn die Augen ausgehackt. Oder unsere umfassende Wahrnehmung bestünde aus allen Dimensionen und nicht nur 3D

Ein Hai bspw. kennt den Geruch von Regen nicht. Nix Petrichor. Wir können jedoch
nicht auf 1000te Kilometer Blut riechen.
Um diese Tragweite, dieses Ausmaß von "Sinn" und "Unsinn" noch stärker zu verdeutlichen, können wir gern die Gauß-Glocke heranziehen. Und hier vielleicht ein super dolles Extrem (überspitzt): Der IQ. 100 ist der Durchschnitt. Vor vielen Jahren absolvierte ich ein Praktikum. Da waren Menschen zugegen, die Lernschwierigkeiten hatten, auch jene, deren IQ unter 70-85 lag. Ich liege im Durchschnitt und ich spürte deutlich, dass dem anderen im damaligen Praktikum etwas "fehlte" und diese Diskrepanz, die ich empfand, war enorm. Dann stellte ich mir die Frage: Was wäre, läge ich über 130? Wie fühlte sich also Hochbegabung an? Und würde ich selbst über 130 liegen, wie fühlte es sich an, mit dem Durchschnitt in Kommunikation zu treten? Fühlt sich der "Durchschnitt" für den Hochbegabten "intelligenzgemindert" an wie für den Durschnittlichen der "tatsächlich" Intelligenzgeminderte? Als mir das damals klar wurde, dachte ich mir "Heiliger Mist!". Ich bin froh, dass ich nicht so eine glaziale Glühbirne bin, dann wäre die Welt für mich möglicherweise noch viel dunkler.
Aber auch hier der mögliche Einwand: Das IQ-Beispiel zeigt doch gerade, dass es messbare Unterschiede gibt. Der Hochbegabte versteht den Durchschnitt sehr wohl... umgekehrt nicht. Wenn der Künstler also der Hochbegabte sein soll, müsste er in der Lage sein, seinen Sinn auch verständlich zu machen, wenn er wollte. Kann er das nicht, ist vielleicht gar kein Sinn da. Aber: Das setzt voraus, dass Vermittelbarkeit die Bedingung von Sinn ist. Manche Inhalte lassen sich vielleicht tatsächlich nicht "herunterbrechen", ohne sie zu verfälschen, so wie man gewisse mathematische Strukturen nicht ohne die Mathematik selbst erklären kann. (Conway Game of Life)
- Die Forderung nach universeller Zugänglichkeit könnte selbst eine Verkürzung sein. Oder? Im Grunde auch egal.
Also, ich denke, Sinn entsteht nicht durch passive Entnahme, sondern durch aktive Konstruktion im Zusammenspiel von Werk und Rezipient, aber auch ist es davon abhängig, wie viel Sinn ICH einer Sache abgewinnen kann. Diese Schwellen sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Wenn also Unsinn geliefert würde, wäre dieser Unsinn sinnvoll? Oder wäre es unsinniger Unsinn? Ich finde, man muss bei dem Benutzen dieser wichtigen Worte aufpassen, sonst wird man schnell zu einem Intelligenz-Rassisten.
Hier lauert natürlich der Relativismus-Vorwurf: Wenn alles potenziell sinnvoll ist, sobald nur der richtige Rezipient kommt, dann wäre der Begriff Sinn selbst entwertet. Dann wäre auch das Gekritzel eines Zweijährigen oder ein Zufallsgenerator-Output potenziell große Kunst... man müsste nur lange genug warten. Das ist keine Position, das ist Kapitulation vor dem Qualitätsurteil. Ich würde dem entgegnen: Nicht jede Offenheit ist Beliebigkeit. Es gibt Grade der Sinnhaftigkeit, kontextuelle Kriterien, intersubjektive Verständigung. Die Ablehnung eines
absoluten Sinnbegriffs bedeutet nicht, dass alle Unterscheidungen zusammenbrechen. Nehmen wir Albrecht Dürer Melencolia I - ein Bildnis der Deutungen, selbst jetzt, 500 Jahre später grübelt man noch ???? Ja nu, wie hat er es denn gemeint? Die Antwort könnte vielleicht bei seiner Mutter liegen oder er war ein narzisstischer Querulant, der jeden für blöd verkauft hat (was er aufgrund der pflege seiner mutter nicht gewesen sein konnte, er selbst behauptete, dass seine mutter "nur im tode lieblicher aussähe", 12 jahre lebte sie bei dürer...). Ist also Melencolia ein Werk über die Trauer? Die Trauer zur eigenen Mutter? Das Betrauern der eigenen Mutter? Andererseits war auch Naturwissenschaftler - who knows!
Ein Werk kann also Sinnpotentiale enthalten, die erst durch bestimmte Lektüreweisen, Kontextwissen oder wiederholte Auseinandersetzung aktualisiert werden. Die Behauptung der Sinnlosigkeit schließt diesen Prozess vorzeitig ab und verwechselt das Noch-nicht-Verstandene mit dem prinzipiell Unverständlichen.
Und umgekehrt gilt auch: Die Rezeptionsgeschichte zeigt Werke, die einst gefeiert wurden und heute als leere Posen gelten. Vielleicht ist das Hineinlesen von Sinn in absichtlich Sinnfreies selbst manchmal ein Symptom; der verzweifelte Versuch, Kohärenz zu finden, wo keine ist. Das ist wahr. Aber das spricht nicht gegen die Grundthese, sondern für Vorsicht in
beide Richtungen: weder vorschnell "sinnlos" noch vorschnell "genial" urteilen.
Was berechtigt also zur Annahme, dass "Sinn" im traditionellen Verständnis das Kriterium für gelungene Kunst sein muss? Diese Position setzt stillschweigend voraus, dass es eine objektiv "richtige" Form von Kohärenz gibt. Das ist selbst eine kulturhistorisch kontingente Annahme und keine universelle Wahrheit.
Mein längster Forenbeitrag, dabei wollte ich eine Pause machen. Hirn zu, Affe lebt. Den Post meine ich wohlwollend ergänzend. Und jetzt steige ich aus der Disku auch schon wieder aus.

Erschöpft wie eine nasse Nudel.
Maren