Weltformel

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wirena

Mitglied
@sufnus - "bullshitten"? nicht doch sufnus - ich sag mir jeweils, "nun trümmelts mir im Kopf" - Zeit für Pausen, Beinehochlagern nicht vergessen :)
LG wirena
 

trivial

Mitglied
Lieber Sufnus,

ich habe den Eindruck, dass du mir gerade ein großes Stück entgegenkommst. Im Bezug auf "Stirb und Werde" war es vermutlich beides. Ich wollte die gemeinläufige Interpretation kritisieren und duch eine eigene ergänzen.

so, dass ein konsistentes (widerspruchsfreies ... kohärentes [???] ) "Schönheitssystem" (was ist das?) nur sehr "kleinräumig" (eng umgrenzt) vorstellbar ist und jede einigermaßen "umfassende" (???) Ästhetik (?) nur unter Inkaufnahme von inneren Widersprüchlichkeiten und Bruchlinien realisierbar sein kann.
Würdest du nicht das ganze System erblicken wollen, sondern aus ihm heraus nach vorne offen, würden dich die "Gödel-Bruchlinien" ;) nicht stören.
Kein abgeschlossenes System – weder logisch noch ästhetisch – kann seine eigene Konsistenz vollständig begründen.

Ich glaube, du siehst Bruchlinien, weil du von außen auf das System blickst. Von innen aus betrachtet wären es Potenziale. Doch der Blick neigt sich zurück, sucht Bedeutung hinter uns, obwohl sie vor uns liegt.

Unser Bewusstsein ist ohnehin ein nachträgliches Symptom. Wenn wir uns dann auch noch umdrehen, rückwärts in die Ewigkeit schreiten und im eigenen Inneren Halt suchen, schließen wir uns nur ein..

Mein lieber Sufnus, ich war jetzt philosophisch unempathisch in dem Sinne, dass ich nicht versucht habe, eine Gemeinsamkeit zu finden. Wie gesagt, ich hatte das Gefühl, du wärst mir sehr entgegengenommen – fast so, als wärst du kurz zu Besuch gewesen – und ich habe nicht oft Gäste ;) Da wollte ich dir etwas von meinen Innenhof zeigen.

Liebe Grüße
Rufus
 

Tula

Mitglied
Hallo sufnus
Ich bewundere die Ausdauer deinerseits und der Kollegen hier im Faden. Ich halte mich wie üblich kürzer: Ich las es sofort als herzhafte Satire auf das Dichtertum schlechthin, im Nacheifern der großen Ikonen genauso wie bei der dichterischen Suche nach der großen Formel. Diverse Fluchtversuche in vermeintlich unerforschtes Terrain enden nicht selten peinlich und bei den Neologismen kam meistens bereits ein Dichtergott vor uns auf dieselbe Idee. Da hilft auch kein Geschaukel in der Säbelwahnwiege.
Bei der Welt als Scheibe bin ich dann sofort wieder bei gewissen Blüten moderner politischer Forendichtung, hier weniger als anderswo.

In summa: ausgesprochen amüdant!

LG Tula
 
Zuletzt bearbeitet:

sufnus

Mitglied
Hey Ihr, wirena, rufus, Tula,
lieben Dank fürs gedankliche Weiterspinnen und die positiven Zurufe! :)
Dein Heraushören einer (dann selbstredend autoinklusiven) Lyrikkritik, lieber Tula, ist schon allein deshalb naheliegend, weil Poet*innen nach meiner Wahrnehmung wohl die artistische Unterzunft mit der größten Neigung zur Selbstzüchtigung darstellen ;)
Sich selbst ordentlich runterzumachen, kann dabei natürlich auch eine dialektisch-raffinierte (wenngleich in der Anwendung doch auch "nebenwirkungsreiche") Taktik sein, möglichen Kritiker*innen quasi mittels vorauseilenden Einwänden den Wind aus den Segeln zu nehmen.
LG!
S.
 

Frodomir

Mitglied
Hallo sufnus,

ich hatte noch keine Zeit gefunden, dir zu antworten. Das will ich jetzt nachholen.

Also zum Interpretationspunkt:
Nach meiner Ansicht sind Interpretationen auch bei ganz gegenwärtigen Gedichten der inkohärenten Art durchaus anwendbar (und sogar ganz besonders notwendige Bedingung für einen erweiterten Lesegenuss), wenn (!) (oder sogar: falls), sie mehr leisten können, als bloß eine Übersetzungshilfe "Poetisch - Unpoetisch" zu sein, die also nicht nur eine reine Übertragung vom Gedicht-Ton in einen Banal-Ton fabrizieren.
Das ist eine hehre Ansicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie praktisch umsetzbar ist. "Übersetzungshilfen", wie du es adäquat nennst, sind natürlich auch von mir nicht mit Interpretationen gemeint. Meiner Meinung nach bedeutet die Interpretation eines Werkes, dieses durch Historisierung und Kontextualisierung sowie außerdem durch dessen Analyse und das Aufzeigen seiner poetischen Qualität dem geneigten Leser mit Lektüremehrwert näher zu bringen. Und da bemerke ich seit längerer Zeit im Lyrikdiskurs eine Entwicklung, die ich persönlich als Verlust empfinde: Nämlich die Abkehr von der Interpretation und die Hinwendung zur, in der Regel auch deutlich kürzeren, Rezension. Gleiches ist übrigens auch in der bildenden Kunst festzustellen, eigentlich in den meisten Gebieten der Kulturproduktion. Die Interpretation ist beinahe tot.

Ich habe dafür zwei Hauptgründe ausgemacht: Einmal die kapitalistische Einbettung von Kunst als Kunstprodukt und zweitens die Beschaffenheit der Kunstwerke selbst. Der erste Grund ist selbsterklärend: Die Rezension ist ihrem Wesen nach ein Text, welcher als Verkaufsargument fungieren kann. Sie ist kurz genug, um gelesen zu werden und anfällig genug, der Marktlogik zu unterliegen und dem Werk als Werbung zu dienen. Die Interpretation sperrt sich durch ihre inhärente Tiefsinnigkeit diesem System.
Und die Beschaffenheit der Kunst selbst, und da bin ich anderer Meinung als du, hat durchaus einen Einfluss, wie man sich ihr nähern kann. Je inkohärenter ein Text oder ein Bild ist, desto mehr verschließt er bzw. es sich der Interpretation. Man kann das Produkt immer noch in einen historischen Kontext setzen oder es mit anderen Kunstwerken vergleichen, aber diese Mühe bleibt fragmentarisch, denn bei der Sinnerfassung des Textes oder des Bildes wird man zwangsläufig scheitern. Ich finde, dass deine und Marens Konversation unter deinem Gedicht Kind (etwas zurückgeblieben) ein Beispiel für dieses Fragmentarische ist. Es ist für den geneigten Leser durchaus interessant, diesen Dialog zu verfolgen und die Gebildetheit in euren Worten ist bemerkenswert. Aber letztlich verliert sich das Gespräch in der Kennzeichnung von Frames und erschafft keine wirkliche Tiefe mehr. Und auch der klassischen Interpretation könnte das bei dieser Art von Texten nicht gelingen: Sie ist ausgelegt auf Tiefe innerhalb des Textes und nicht auf performative Akte oder die Sinnerzeugung durch absichtliche Inkohärenz im Leser selbst. Deshalb sehe ich den interpretativen Ansatz dort wie hier scheitern.

Und auch, wenn ich mit dieser Meinung im Gegenwartsdiskurs sicherlich als altertümlich gelte: Ich gehe davon aus, dass mangelnder Sinn kein Merkmal von anzustrebender Intellektualität ist, sondern diese Intellektualität selbst nur ein Symptom von Entfremdung darstellt. Möglicherweise ist deshalb manches Kunstprodukt selbst nur der Versuch, sich künstlerisch, aber hilflos mit einer Umwelt auseinanderzusetzen, welche selbst als inkohärent, fragmentiert und entfremdet wahrgenommen wird. Ich persönlich denke, dass Teile der gegenwärtigen Kunstschaffenden genau an dieser vermeintlichen Herausforderung kranken, weil sie denken, es wäre unbedingt notwendig, diese Umweltbedingungen in ihrem Werk abbilden zu müssen.
Die Umwelt nicht mehr abzubilden, wäre zwar ebenfalls keine Lösung, aber meiner Meinung nach würde es gerade der Lyrik gut zu Gesicht stehen, trotz allem auch manchmal den Anker zu werfen und Tiefe im Text selbst sicht- und fühlbar zu machen.

Ich möchte wiederholen, dass diese Ansicht nur meine persönliche ist und keineswegs darauf ausgelegt sein soll, jemandem auf die Füße zu treten.

Und sicherheitshalber, um alle Missverständnisse auszuschließen, Deine Interpretationen sind ja gerade weitaus mehr als nur Übersetzungshilfen, sondern sie reichern das Gedicht sogar durch das "Auslesen" (!) von poetischen Zwischentönen in seiner Lyrizität noch weiter an. Oft genug zur Verwunderung (und Hocherfreunis) des Autors. Hier wäre halt nur einzuflechten, dass ich das jetzt nicht im Sinne einer billigen Schleimerei meine (oder zumindest nicht nur ;) ), sondern auch gerade diesen poetologischen "Mehrwert" bei Deinen Kommentaren finde, die der Irritation Ausdruck verleihen, wenn ein Gedicht sich Deinem Lesezugriff entzieht oder beim Druchdringungsversuch in seine Einzelteile zerfällt.
Wie ich versucht habe, darzulegen, sehe ich das Problem über unser Forum hinausgehend und die gesamte Kunstszene betreffend. Ich danke dir dennoch für deine Worte.

Uns zur Frage der Gegenwartslyrik und dem dort diagnostizierten Mangel an Kohärenz:
Hier glaube ich, dass eine Entwicklungslinie inkohärenter Lyrik sich im Nebel der frühesten literarischen Zeiten verliert und nie abgerissen ist. Der durchaus nachvollziehbare Eindruck, dass Gegenwartslyrik in besonderem Maße inkohärent ist, ergibt sich m. E. eher daraus, dass die entsprechenden gegenwertigen Beispiele die Inkohärenz nicht nur auf der Inhaltsebene aufweisen, sondern auch formal in der Art der Sprachhandhabung zeigen (in gewisser Weise besitzen diese Gedichte also eine Kohärenz von inhaltlicher und formaler Inkohärenz).
Mein Weltformelgedicht ist demgegenüber ja sprachlich und formal sehr konventionell gestaltet und seine Kohärenzsprünge merkt man erst, wenn man versucht, sich inhaltlich zu nähern. Das führt dann eben auch so ein bisschen zu einem (nicht intendierten) Gefühl, von dem Gedicht hereingelegt worden zu sein. Gedichte von der Art meiner Weltformel (und natürlich origineller und qualitativ wertiger durchgearbeitet) findet man bei zwar modernen aber doch keineswegs mehr gegenwärtigen Lyriker*innen wie Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann oder Wilhelm Lehmann.
Ein vielleicht schönes Beispiel ist das Gedicht von Bachmann "Was wahr ist" (google-findbar). Wenn man dieses so sprachschöne Gedicht flüchtig genug liest und vorschnell einige der angebotenen Bilder um das ergänzt, was uns die Denkkonventionen vorgeben, dann wird man leicht verpassen, wie sprunghaft und ja, auch inkohärent die in diesem Gedicht aufgefahrene Bildcollage eigentlich ist. Allzuleicht bleibt als Leseeindruck hängen: "Ja die Wahrheit ist schon eine dolle Sache, aber sie kann auch verletzten und irgendwie steht das auch alles schon in der Bibel - müsste ich mal wieder reingucken.". Ich will niemanden anprangern, der das so einfach und geradeheraus lesen möchte, aber ich glaube, dass das Bachmanngedicht eines der komplexesten und interpretatorisch anspruchsvollsten Midcentury-Gedichte in deutscher Sprache ist.
Also: Ich stimme Dir zu Frodomir, dass das Thema "Inkohärenz" in der zeitgenössischen Lyrik durchaus sehr stark zu finden ist, aber ich ergänze, dass dieses Phänomen als solches nicht neu ist und sich schon sehr frühe Gedichtbeispiele hierfür finden lassen (viel viel älter als die angesprochenen Beispiele aus den 50er und 60er Jahren).
Gewiss, lieber sufnus, die historische Einordnung ist ein valider Punkt deinerseits (du kannst dir übrigens aufgrund meiner Ausführungen vielleicht denken, mit welcher Vorfreude ich vorzeiten sämtliche Gedichte der Bachmann erwarb und mit welcher Enttäuschung ich sie wieder weglegte
). Aber wie dein letzter Absatz ja erwähnt, geht es weniger um einzelne Beispiele, sondern um eine Entwicklung, die sich spätestens seit den 1990er Jahren durchgesetzt hat. Manch Intellektueller wird sicherlich über meine Meinung nur die Nase rümpfen, aber ich denke, dass es der Lyrik nicht gut getan hat, sich in großen Teilen von jeglicher Metaphysik verabschiedet zu haben. Vielleicht wäre die Gattung Lyrik, zumindest in ihrer ernsthaften Form abseits der Freizeitdichtereien, keine Botschaft aus dem Elfenbeinturm, die kaum noch Leser findet, sondern ein literarischer Ort, an dem sich die Dinge vereinen in einer fluiden und fragementierten Umwelt.

Liebe Grüße
Frodomir
 

seefeldmaren

Mitglied
Und auch, wenn ich mit dieser Meinung im Gegenwartsdiskurs sicherlich als altertümlich gelte: Ich gehe davon aus, dass mangelnder Sinn kein Merkmal von anzustrebender Intellektualität ist, sondern diese Intellektualität selbst nur ein Symptom von Entfremdung darstellt. Möglicherweise ist deshalb manches Kunstprodukt selbst nur der Versuch, sich künstlerisch, aber hilflos mit einer Umwelt auseinanderzusetzen, welche selbst als inkohärent, fragmentiert und entfremdet wahrgenommen wird. Ich persönlich denke, dass Teile der gegenwärtigen Kunstschaffenden genau an dieser vermeintlichen Herausforderung kranken, weil sie denken, es wäre unbedingt notwendig, diese Umweltbedingungen in ihrem Werk abbilden zu müssen.
Hallo Frodomir,

bin ein neugieriges Ding und möchte gern dazu ergänzende Besenfung liefern.

Dein Zitat oben ignoriert, dass jede Epoche ihre "unverständliche" Avantgarde hatte, die später kanonisiert wurde. "Mangelnden Sinn" für wen? Die Annahme, dass Unverständlichkeit gleich Sinnlosigkeit sei, ist ein rezeptionsästhetischer Kurzschluss.

So, jetzt hole ich das Brotaufschmiermesser für eine Schicht Butter:

Unverständlichkeit ist zunächst ein relationaler Begriff... etwas ist unverständlich für jemanden in einem bestimmten Moment. Daraus auf Sinnlosigkeit zu schließen, verwechselt die Grenzen des eigenen Verstehens mit den Grenzen des Sinns selbst. Das wäre so, als würde ein Mensch ohne Chinesischkenntnisse behaupten, ein chinesischer Text sei sinnlos, weil er ihn nicht entschlüsseln kann.

Beethovens späte Streichquartette galten den Zeitgenossen als unverständlich-wirr, teilweise als Produkt seiner Taubheit, doch heute gelten sie als Gipfel der Kammermusik. Mallarmés Lyrik wurde als sinnentleerte Spielerei abgetan, bevor sie zur Grundlage moderner Poetik wurde. Schau in das 12. Jahrhundert Frankreich, da gab es wahrhaft große Wortakrobaten. Die Rezeptionsgeschichte zeigt systematisch, dass das Urteil "sinnlos" häufig nur die Latenz eines noch nicht entwickelten Verstehenshorizonts markiert. Das klingt erstmal arrogant, aber...

Nun könnte man einwenden: Dass Beethoven später verstanden wurde, beweist gerade, dass dort tatsächlich Sinn war, der sich erschließen ließ. Das wäre dann kein Argument für beliebige Hermetik, sondern für das Gegenteil, echte Komplexität kann entschlüsselt werden. Die Frage wäre also, ob das für jedes zeitgenössische Werk gilt, das sich auf diese Genealogie beruft, oder ob manche schlicht die Geste der Unverständlichkeit imitieren, ohne den Gehalt. Davon abgespalten gibt es zu dem noch dieses "Ich-schreibe-was-ich-fühle-Ding" was beim Leser zu einem "Ich fühle xyz, was ich lese." führt. Und woher weiß derjenige, der fühlt, was es ist, was er fühlt? Wir haben also definitiv nicht nur das Argument des Intellektualisierens. Ein berechtigter Punkt. Aber wer entscheidet das und wann? Auch hier zeigt die Geschichte, dass dieses Urteil oft Jahrzehnte braucht. Der Zeitgenosse ist denkbar schlecht positioniert, um zwischen "noch nicht verstandenem Genie" und "leerer Pose" zu unterscheiden.

Und die Historie der Lyrik untermauert das auch: Es gab schon immer hyperrealistische Perfektionisten, die im Gottesehrfurchtsglauben Kunst betrieben haben, aber auch jene, die damit begonnen haben, dies zu verweigern. Ob die nun stark paranoid waren oder nicht, spielt ja erstmal keine Rolle (jakopo).

Nimm einen Schnürsenkel und führe den Senkel durch das für den Senkel vorgesehene Loch. Dieses Bildnis hast du sofort vor Augen und jetzt stelle dir das Bild in der vierten, fünften oder sechsten Dimension vor. Mathematisch könnte man das womöglich tatsächlich darstellen, für unsere Wahrnehmungsorgane und für unsere erlebte "Wirklichkeit" ist das aber, wie mir scheint, erstmal nicht wahrnehmbar. Oder mir hat ein Huhn die Augen ausgehackt. Oder unsere umfassende Wahrnehmung bestünde aus allen Dimensionen und nicht nur 3D :) Ein Hai bspw. kennt den Geruch von Regen nicht. Nix Petrichor. Wir können jedoch nicht auf 1000te Kilometer Blut riechen.

Um diese Tragweite, dieses Ausmaß von "Sinn" und "Unsinn" noch stärker zu verdeutlichen, können wir gern die Gauß-Glocke heranziehen. Und hier vielleicht ein super dolles Extrem (überspitzt): Der IQ. 100 ist der Durchschnitt. Vor vielen Jahren absolvierte ich ein Praktikum. Da waren Menschen zugegen, die Lernschwierigkeiten hatten, auch jene, deren IQ unter 70-85 lag. Ich liege im Durchschnitt und ich spürte deutlich, dass dem anderen im damaligen Praktikum etwas "fehlte" und diese Diskrepanz, die ich empfand, war enorm. Dann stellte ich mir die Frage: Was wäre, läge ich über 130? Wie fühlte sich also Hochbegabung an? Und würde ich selbst über 130 liegen, wie fühlte es sich an, mit dem Durchschnitt in Kommunikation zu treten? Fühlt sich der "Durchschnitt" für den Hochbegabten "intelligenzgemindert" an wie für den Durschnittlichen der "tatsächlich" Intelligenzgeminderte? Als mir das damals klar wurde, dachte ich mir "Heiliger Mist!". Ich bin froh, dass ich nicht so eine glaziale Glühbirne bin, dann wäre die Welt für mich möglicherweise noch viel dunkler.

Aber auch hier der mögliche Einwand: Das IQ-Beispiel zeigt doch gerade, dass es messbare Unterschiede gibt. Der Hochbegabte versteht den Durchschnitt sehr wohl... umgekehrt nicht. Wenn der Künstler also der Hochbegabte sein soll, müsste er in der Lage sein, seinen Sinn auch verständlich zu machen, wenn er wollte. Kann er das nicht, ist vielleicht gar kein Sinn da. Aber: Das setzt voraus, dass Vermittelbarkeit die Bedingung von Sinn ist. Manche Inhalte lassen sich vielleicht tatsächlich nicht "herunterbrechen", ohne sie zu verfälschen, so wie man gewisse mathematische Strukturen nicht ohne die Mathematik selbst erklären kann. (Conway Game of Life)
- Die Forderung nach universeller Zugänglichkeit könnte selbst eine Verkürzung sein. Oder? Im Grunde auch egal.

Also, ich denke, Sinn entsteht nicht durch passive Entnahme, sondern durch aktive Konstruktion im Zusammenspiel von Werk und Rezipient, aber auch ist es davon abhängig, wie viel Sinn ICH einer Sache abgewinnen kann. Diese Schwellen sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Wenn also Unsinn geliefert würde, wäre dieser Unsinn sinnvoll? Oder wäre es unsinniger Unsinn? Ich finde, man muss bei dem Benutzen dieser wichtigen Worte aufpassen, sonst wird man schnell zu einem Intelligenz-Rassisten.

Hier lauert natürlich der Relativismus-Vorwurf: Wenn alles potenziell sinnvoll ist, sobald nur der richtige Rezipient kommt, dann wäre der Begriff Sinn selbst entwertet. Dann wäre auch das Gekritzel eines Zweijährigen oder ein Zufallsgenerator-Output potenziell große Kunst... man müsste nur lange genug warten. Das ist keine Position, das ist Kapitulation vor dem Qualitätsurteil. Ich würde dem entgegnen: Nicht jede Offenheit ist Beliebigkeit. Es gibt Grade der Sinnhaftigkeit, kontextuelle Kriterien, intersubjektive Verständigung. Die Ablehnung eines absoluten Sinnbegriffs bedeutet nicht, dass alle Unterscheidungen zusammenbrechen. Nehmen wir Albrecht Dürer Melencolia I - ein Bildnis der Deutungen, selbst jetzt, 500 Jahre später grübelt man noch ???? Ja nu, wie hat er es denn gemeint? Die Antwort könnte vielleicht bei seiner Mutter liegen oder er war ein narzisstischer Querulant, der jeden für blöd verkauft hat (was er aufgrund der pflege seiner mutter nicht gewesen sein konnte, er selbst behauptete, dass seine mutter "nur im tode lieblicher aussähe", 12 jahre lebte sie bei dürer...). Ist also Melencolia ein Werk über die Trauer? Die Trauer zur eigenen Mutter? Das Betrauern der eigenen Mutter? Andererseits war auch Naturwissenschaftler - who knows!

Ein Werk kann also Sinnpotentiale enthalten, die erst durch bestimmte Lektüreweisen, Kontextwissen oder wiederholte Auseinandersetzung aktualisiert werden. Die Behauptung der Sinnlosigkeit schließt diesen Prozess vorzeitig ab und verwechselt das Noch-nicht-Verstandene mit dem prinzipiell Unverständlichen.

Und umgekehrt gilt auch: Die Rezeptionsgeschichte zeigt Werke, die einst gefeiert wurden und heute als leere Posen gelten. Vielleicht ist das Hineinlesen von Sinn in absichtlich Sinnfreies selbst manchmal ein Symptom; der verzweifelte Versuch, Kohärenz zu finden, wo keine ist. Das ist wahr. Aber das spricht nicht gegen die Grundthese, sondern für Vorsicht in beide Richtungen: weder vorschnell "sinnlos" noch vorschnell "genial" urteilen.

Was berechtigt also zur Annahme, dass "Sinn" im traditionellen Verständnis das Kriterium für gelungene Kunst sein muss? Diese Position setzt stillschweigend voraus, dass es eine objektiv "richtige" Form von Kohärenz gibt. Das ist selbst eine kulturhistorisch kontingente Annahme und keine universelle Wahrheit.

Mein längster Forenbeitrag, dabei wollte ich eine Pause machen. Hirn zu, Affe lebt. Den Post meine ich wohlwollend ergänzend. Und jetzt steige ich aus der Disku auch schon wieder aus. :) Erschöpft wie eine nasse Nudel.

Maren
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Maren,

vielen Dank für deine intelligente und freundliche Antwort auf meinen Kommentar. Ich möchte darauf eingehen, doch zunächst scheint es mir sinnvoll, den Begriff Sinn nocheinmal näher zu betrachten. So schreibst du:

Dein Zitat oben ignoriert, dass jede Epoche ihre "unverständliche" Avantgarde hatte, die später kanonisiert wurde. "Mangelnden Sinn" für wen? Die Annahme, dass Unverständlichkeit gleich Sinnlosigkeit sei, ist ein rezeptionsästhetischer Kurzschluss.
und zudem

Die Ablehnung eines absoluten Sinnbegriffs bedeutet nicht, dass alle Unterscheidungen zusammenbrechen.
Ich sehe das genauso wie du und frage mich, ob ich mich vielleicht missverständlich ausgedrückt hatte. Unverständlichkeit bedeutet für mich nicht automatisch Sinnlosigkeit. Du hast ja dazu auch ausführlich erklärt, welche Rolle der Leser und seine Einbettung in die jeweilige Zeitgeschichte spielt. So würde es gewiss auch gegenwärtig zahlreiche Menschen geben, welche bei der Lektüre von Paul Celan absolute Sinnlosigkeit feststellen würden: Aber schlicht aus dem Grund heraus, dass sie keine Leseerfahrung und kein Vorwissen an die Texte anlegen können und nicht, weil die Texte an sich sinnlos wären.

Aber worüber reden wir, wenn wir von Sinn sprechen? Dieser Begriff ist derart abstrakt und aufgeladen mit Konnotationen, dass Missverständnisse quasi unausweichlich sind. Einigen könnte man sich aber bestimmt darauf, dass der Begriff auf der körperlichen Ebene das Ansprechen auf verschiedene Reize anspricht und damit die Merkmale des Lebendigen in sich trägt und dass er auf geistiger Ebene darauf ausgerichtet ist, die Frage nach einem Warum? zu beantworten.
Für mich persönlich ist der Sinnbegriff aber noch weiter gefasst, weil er das Wortfeld der Wahrheit berührt. Es ist gut möglich, dass unsere Ansichten an dieser Stelle auseinandergehen, aber ich benutze das Wort Sinn auch im Zusammenhang mit einer angenommenen bzw. von mir empfundenen und in Worten aber nicht wirklich auszudrückenden Metaphysik (vielleicht ähnlich wie bei Lao Tse: Die Wirksamkeit des Negativen). Das macht den Sinnbegriff aber nicht absolut, so als würde es nur sinnvoll oder sinnlos geben. Sondern es verbindet diesen Begriff mit den polaren Konnotationen von Erdung einerseits und universell andererseits. In diesem Verhältnis findet meiner Wahrnehmung und Überlegung nach der Sinnbegriff seine Bestimmung, sodass ich daraus auch meine Kritik ableite: Wenn diese Sphären in der Kunst nicht angesprochen oder mitgedacht, ja ihr auch nicht irgendwie kohärent zu Grunde liegen, dann entsteht Entfremdung von Sinn und die Kunst wird selbst zum Teil neoliberaler Beliebigkeitsästhetik (wie ich weiter oben schon erwähnte, möchte ich noch einmal separat darlegen, was diese Wirtschafts- und Herrschaftsform mit der Gegenwartsästhetik zu tun hat, ich kann das Thema hier nur kurz anteasern, weil es zu groß ist und eigentlich in ein Buch gehört).

Insofern reden wir möglicherweise aneinander vorbei, wenn du von Verständlichkeit und Unverständlichkeit sprichst, denn darum geht es mir gar nicht. Es geht mir viel mehr darum, was dem Kunstwerk im Kern eigen ist. Ist es auf Sinn (in der Art, wie ich ihn gerade versucht habe, zu beschreiben) ausgerichtet, oder auf Performanz, oder auf bloßes Design, oder auf Assoziation, oder auf politische Botschaften usw.? Die Liste ist lang und alles davon hat unbestritten seine Berechtigung. Mir geht es in meiner Gesamtbetrachtung aber darum, dass die Abwesenheit von Sinn im oben beschriebenen Kontext ein Merkmal gerade der zeitgenössischen Kunst ist, historisch vorbereitet und schon oft genug praktiziert gewiss, aber im gegenwärtigen Ausmaß nicht mehr avantgarde, sondern aktiver Teil, also Akteur einer Herrschaftsordnung, die auf die Auflösung von Identität und Verwurzelung ausgerichtet ist und von Entfremdung profitiert, da sie das Verlustempfinden mit Konsumerfahrungen beschwichtigen kann.

Ich hoffe, mich verständlicher gemacht zu haben und verbleibe mit freundlichen Grüßen
Frodomir
 



 
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