lietzensee
Mitglied
Wendenfrau
Wendenfrau? Wendenfrau? Niemand kennt die Wendenfrau. In den niedrigen Häusern von Bitterburg hat man diesen Namen nie gehört. Er ist unbekannt im Döner Palace am Marktplatz. Manchmal vielleicht, wenn der alte Peter sich dort trunken über Mustafas Theke lehnt, dann mag er von der Wendenfrau stammeln. Vielleicht raunt er auch von vier Eichen im Wald. Aber Peter ist ein Trunkenbold, da sind sich alle einig, wenn der Novemberwind vor dem Fenster des kleinen Dönerladens bläst. Sie blicken dann schweigend auf die Skyline von Istanbul, die Mustafa an der Wand gerahmt hat.
Du siehst es jetzt selbst, es sind mehr als nur vier Eichen. Ganz Bitterburg ist vom Wald umgeben, auch wenn die trockenen Sommer ihm arg zugesetzt haben. Das große Schloss am Rande des Ortes umringen die Bäume von zwei Seiten, an den zwei übrigen nagt der bitterburger See. Nur ein schmaler Damm führt in den Ort hinüber. Der Wald ist durchsetzt mit verfallenen Kirchlein und Gedenksteinen, die die alten Herren von Bitterburg setzen ließen. "Gnädige Maria Hilf!", bröckelt als Inschrift vom falschen Marmor.
Die Brücke über den Schwarzenbach ist morsch. Zwischen Ziegeltrümmern ragt ein Mühlstein aus dem dunklen Wasser. Dich warnt der Ruf der Krähen. Aber du steigst den Hang hinauf. Vom Wächterberg kann man hinüber bis zum Radweg sehen. Im Sommer drängen sich dort die Touristen gen Mecklenburg. Lange schaust du dich um. Du denkst nach. Dann läufst du hinab zum See, am Ufer entlang und auf den kleinen Hügel. Hier ist der Wald verfilzt. Die alten Treppensteine geben unter deinen Füßen nach. Wilder Wein umschnürt die Birken und ein paar Kiefern stehen schräg im Sand. Auf der flachen Kuppe aber ragen vier Eichen aus dem Gestrüpp. Sie bilden ein Quadrat.
Die Herren von Bitterburg haben hier getanzt. Sie nannten es den Festplatz, auch wenn ihre adligen Gäste nie verstanden, was sie an diesen verlassenen Ort zog. Lampions zwischen den vier Eichen gespannt, Fidelspieler und Likör, in kurzen Sommernächten rauschten hier bunte Seidenkleider. Damen kicherten, berauscht von Alkohol und geraunten Warnungen, dass man bei den vier Eichen nie allein bleiben sollte. Die Wendenfrau. Die Wendenfrau. Abseits der Lampen und ins weiche Laub verkroch man sich darum immer zu zweit. Jetzt stehst du allein im Kreis der Bäume. Tote Äste liegen auf dem Tanzplatz. Ein Flüstern? Es ist der Wind, der oben in den Kronen rauscht.
Es gab Gerüchte nach diesen Tänzen. Man flüsterte abends in den Fischerkaten und auf dem Heimweg von der Kirche. Dann fanden Bauern den unehelichen Sohn des Herrn von Bitterburg. Er lag tot zwischen vier Eichen und seine Beine endeten in blutigen Stümpfen. Man vergrub ihn außen an der Friedhofsmauer, denn, so sprach der Küster leise, man müsse von einem Selbstmord ausgehen.
Die Herren von Bitterburg waren ein altes Geschlecht. Es hieß, Albrecht der Bär selbst habe ihnen die Seen und Wälder geschenkt. Ihre Herrschschaft endete nach dem Weltkrieg durch eine Demonstration mit Pappschildern: Junkerland in Bauernhand. Ein LKW brachte Familie von Bitterburg nach Wuppertal. Ihr Schloss, einige Möbel und ihre Geschichte blieben in dem Ort, der ihren Namen trägt.
Du hast auch die Kapelle im Unterholz gesehen, verfallenes Dach, blutrote Ziegel. Die Witwe Anna Emilia ließ sie in Gedenken an ihren Gemahl Guido Dietloff erbauen. Schon als Junge wanderte der mit seinen drei Brüdern am liebsten zur Aussicht über den See. Noch heute steht eine steinerne Bank am Vier-Brüder-Platz. Als Mann jagte Guido dann besessen die Rehe in seinem Wald. Vor dem Tanzplatz stürzte er dabei vom Pferd, so sagte man. Er aber sagte es anders. Guido stammelte von einer schrecklichen Frau mit bösen Augen und verfilztem Haar. Gehüllt in einen langen Umhang saß die Frau in den Bäumen. Aus diesem Umhang rann Blut. Guido blickte hinauf und sie stürzte sich hinab. Natürlich ließen seine Verletzungen ihn das nur fantasieren. Diener brachten ihn ins Schloss. Anne Emilia bettete ihn auf weiche Kissen und jeder Diener der Guido sah, sprach ein stilles Gebet. Er verblutete noch in derselben Nacht, weil der Sturz vom Pferd ihm irgendwie beide Hände abgerissen hatte. Du hast davon gehört, wenn auch vor langer Zeit. Jetzt stehst du auf dem Tanzplatz und blickst in die Kronen. Ein Specht klopft im Totholz. Das Tageslicht schwindet und der Wind frischt auf.
Du hast Bankkaufmann gelernt und in einer Bluegrass Band gespielt. Als die Band dann einen Namen für ihr erstes Album suchte, hast du sofort "Wendenfrau" gerufen. Alle Bandmitglieder haben dich angestarrt. Was läuft falsch bei dir? Du trittst gegen einen der Eichenstämme und morsches Holz knackt.
Die Herren von Bitterburg stammten von Christian Bitter ab, einem armen Pfarrer aus Schwaben. Aber Albrecht der Bär hatte wenig Fragen gestellt, wenn jemand die Heiden missionieren wollte - und geschickt mit dem Schwert war. Bitter durfte einen Trupp Bewaffnete in die dunklen Wälder führen. Zwischen den Bäumen hörten sie schaurige Geräusche und drei Nächte durchwachten sie mit dem Rücken zum Lagerfeuer. Dann stießen sie am Ufer eines Sees auf Fischerhütten. Die Wenden! Fremde schrien in einer unverständlichen Sprache und das Gefecht begann. Bitters Männer schlugen. Sie stachen. Blut spritzte. "Heil Christus, dem Erlöser!" Mitten im Kampf hörte Pfarrer Bitter eine Stimme. Sie lockte ihn am Ufer entlang und auf den Hügel. Dessen flache Kuppe war gerodet und in der Mitte tanzte eine Frau. Anmutig sang sie heidnische Lieder. Ihre Brüste waren nackt und ihre Hände und Füße schmückten die Köpfe frisch geschlachteter Tauben. Jeder ihrer Schritte war reizend und verspritzte Taubenblut. Dem Pfarrer stockte der Atem.
Du ahnst all diese Dinge. Aus Archiven hast du Andeutungen herausgesucht und Lücken in alten Berichten zu Theorien verknüpft. Du willst nun wissen, was wahr ist. "Wendenfrau!" zwischen den vier Eichen klingt deine Stimme dünn und heiser. "Wendenfrau!" Der Wind trägt die Worte davon. Das letzte Tageslicht schwindet und du schlägst deine Faust gegen Eichenholz. Was tust du hier?
Es rauscht in den Kronen. Äste knacken. Dann, hoch oben, öffnen sich zwei Augen. Die Augen sind groß. Die krummen Äste sind kein Holz. Sie sind Gliedmaßen. Du blickst hinauf und über dir hockt sie. Jedes ihrer Glieder ruht in einer Krone der vier Eichen.
"Wendenfrau", sprichst du ein letztes Mal. Du siehst, dass ihre Arme und Beine in Stümpfen enden. Du siehst das Blut, das aus den Baumkronen tropft und den Schmerz, der in ihren Augen brennt. Sie gleitet hinab. Du rufst: "Vergib!"
Verfilztes Haar streift deine Wangen. "Was?", es ist eine Stimme wie raschelndes Laub.
"Wendenfrau, vergib, was meine Familie dir angetan hat!" Du, Bankkaufmann aus Wuppertal, stehst allein im dunklen Wald. Letzter Spross der Familie von Bitterburg, Erster, der darüber sprechen will, was andere verschwiegen. Unter der Stadt ruht das alte Wenden-Dorf. Unter den vier Eichen aber findet die Heiden-Priesterin noch immer keine Ruhe. Der arme Pfarrer Bitter, Verkünder von Trost und Erlösung, konnte seinen Zorn nicht bändigen, als er ihren heidnischen Kultplatz entdeckte. Gotteslästerung! Noch erhitzt vom Kampf, hackte er der Frau ihre geschmückten Hände und Füße ab. Er verscharrte ihre Glieder auf dem Kultplatz. Verstohlen pflanzte er später über jedes einen Baum.
Kann Schuld sich vererben? Endet sie mit dem Tod und wenn ja, mit wessen Tod? Du brauchst endlich Gewissheit. Der Wind peitscht sich zum Sturm auf.
"Was knallt denn da?", lallt Peter.
"Ich habe keinen Knall gehört." Mustafa schneidet Tomaten und blickt auf die Skyline von Istanbul.
"Nicht ein Knall, du Ölauge. Vier Mal hat es geknallt. Es dröhnt in meinen Ohren!"
Die trockenen Sommer haben dem Wald arg zugesetzt und der Sturm stürzt in dieser Nacht vier Eichen. Ein Stamm knallt zu Boden, die drei anderen darüber. Sie bilden nun ein Kreuz und darunter begraben liegst du. Laub raschelt, dass dir vergeben ist. Die vier hochgerissenen Wurzelteller aber haben Knochenreste ans Licht gebracht. Plötzlich legt sich der Sturm. Zart und zerbrechlich schimmern alte Knöchel im Sternenlicht.