Wenn der Geist im Traum stirbt... (m)

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gnoebel

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Flüssiges Glas rann in breiten Strömen die Wände hinab und verteilte sich in tiefen, schimmernden Pfützen auf dem Fußboden. Geschmolzenes Gummi tropfte in dicken Tropfen aus den Fensterisolierungen und vermischte sich mit dem Glas, wobei die Flüssigkeiten ein bizarres Spiel aus Farben und Formen begannen.
Der Geruch von verbranntem Holz schwebte in dichten Wolken durch die Luft, suchte sich seinen Weg in die Wahrnehmung dessen, der diesem Schauspiel beiwohnen mußte. Der dunkle Rauch brannte sich erbarmungslos in seine vor Angst geweiteten Augen und nahm ihm die Luft zum Atmen. Wieviel Zeit würde ihnen noch bleiben, bis sie endgültig ersticken mußten? Wie lange würden sie die Hitze noch ertragen können?
Das Feuer fraß sich durch die hölzernen Bodendielen, versengte die Vorhänge, zerstörte alles um sie herum. Die Hitze begann, an ihrer Haut zu zehren und sie langsam aber sicher aufzufressen.

Durch die grelle Flammenhölle glaubt er, den dunklen Schatten einer unwirklichen Gestalt erkennen zu können. Sie trat gemessenen Schrittes quer durch das lodernde Feuer und verschwand in der Dunkelheit.

...

„Mach doch bitte den Fernseher aus, Schatz.“
„Aber es ist gerade so spannend...“
„Es ist Schlafenszeit.“
„Oh... bitte, nur noch zehn Minuten.“
„Fünf.“
„Na gut. Fünf.“
„Aber dann ab ins Bett!“
„Jaja...“ Franz haßte diese ewige Bevormundung. Wäre sie nicht seine Mutter gewesen, dann... naja... was hätte er schon tun können, ein Junge von gerade mal elf Jahren. Er starrte gebannt auf die Mattscheibe. Es lief eine dieser Vorabendserien, in der gerade eine Autoverfolgung stattfand. In schnellen Schnitten wurde zwischen den beiden Fahrern der Wagen hin und her geschaltet. Eine nahegelegene Baustelle mit einem Kieshaufen kam kurz ins Bild.
Gleich würde eines der Autos über den Berg fahren und mehrere Meter durch die Luft fliegen. In Zeitlupe erklommen die Vorderreifen den Kies und dann... wurde es dunkel auf dem Schirm.
„Jetzt ist aber Schluß, Franz!“ Seine Mutter hatte den Fernseher ausgeschaltet. Ausgerechnet jetzt. Mit hängendem Kopf machte sich Franz auf den Weg ins Bett.

...

„Kommissar Mertens! Gut, daß Sie da sind, das werden Sie mir nicht glauben.“
„Ich glaube, daß ich erstmal einen Kaffee brauche, Hansen.“
Der Kommissar folgte dem jungen Polizisten in die Ruine. Es war nicht mehr viel übrig. Der Gestank von verbranntem Holz und Fleisch hing in der Luft. Überall lagen verkohlte Überreste von etwas, das einmal Möbel gewesen sein mochten.
„Das ist eigenartig.“ sagte Mertens.
„Was meinen sie?“
„Hat die Feuerwehr den Brand nicht gelöscht? Es ist alles trocken.“
„Das ist der Grund, aus dem ich Sie habe holen lassen. Es gab gar keinen Brand.“
„Kein Feuer? Hier ist doch alles so verkohlt, wie der Hackbraten, den meine Frau immer macht.“
„Das mag sein, ich kenne Ihre Frau nicht. Aber es gab hier definitiv kein Feuer. Die Nachbarn haben das jedenfalls einstimmig ausgesagt.“
„Menschen neigen dazu, unangenehme Dinge nicht mitzubekommen.“ Anstelle einer Antwort blätterte Hansen ein wenig nervös in einem Notizblock. Es schien ihm nicht zu gefallen, daß der Kommissar ihm keinen Glauben schenkte. Dann endlich fand er die Information, die er gesucht hatte und gab sie seinem Vorgesetzten.
Die Zeugen hatten übereinstimmend ausgesagt, kein Feuer gesehen zu haben. Heute Morgen gegen acht Uhr kam der Frührentner Horst Holstrup mit seinem Hund Jobst beim Brötchenholen der Ruine vorbei und benachrichtigte sofort Polizei und Feuerwehr. Es hatte ganz den Anschein, als hätte das Gebäude von einem Moment auf den anderen seinen Zustand vollkommen verändert. Das war um so erstaunlicher, da das Haus mitten in einem Wohngebiet stand.
„Wir haben zwei Leichen gefunden, Herr Kommissar.“, schloß Hansen seinen Bericht.
„Das habe ich mir schon gedacht. Wäre seltsam, wenn das Haus die Nacht über leer gestanden hätte. Hat man schon feststellen können, wer sie waren?“
„Sie sind beide zur Unkenntlichkeit verbrannt. Haben Sie schon eine Idee?“
„Ja, wir sollten auf der Stelle jemanden beauftragen, mir endlich den Kaffee zu holen.“

...

„...Und wie dann der Wagen über den Kieshaufen geflogen ist, einfach Wahnsinn!“
„Das habe ich schon nicht mehr gesehen.“, sagte Franz.
„Och, hat deine Mami dich wieder ins Bettchen geschickt?“
„Natürlich nicht! Ich... ich war einfach müde... ja genau, müde war ich.“
Der Schulgong ertönte und bedeutete für alle Schüler, daß der Unterricht weiterging, aber Martin und Franz hatten es nicht weit in ihre Klasse. Sie würden ihren Lehrer schon rechtzeitig sehen, bevor er den Raum betritt.
„Hey Wolfgang, rate mal, wer gestern Abend wieder früh ins Bett mußte! Der kleine Fran...“ begann Martin, seinem Freund entgegenzurufen, aber er stoppte, als er dessen Gesichtsausdruck sah. Noch vollkommen außer Atem, begann Wolfgang zu erzählen.
„Leute, ihr... ihr werdet es nicht... nicht glauben, was der Peter aus der siebten Klasse eben er... erzählt hat!“
„Erzähl schon!“
„Der Walther aus der Nachbarklasse, den kennt ihr doch, oder?“
„War das der, der auf Klassenfahrt nicht am Lagerfeuer sitzen wollte?“
„Genau der.“
„Was ist denn mit dem?“
„Also, der... der Peter hat gesagt, der Walther ist gestern mit seinem Vater zusammen in seinem Haus verbrannt.“
„Was? Das hast du dir ausgedacht!“
„Hey, ich schwör, daß das wahr ist, der Peter hats erzählt!“
Inzwischen war ihr Mathelehrer am Klassenzimmer angekommen. „Ich würde mich sehr freuen, die Herren Poller, Mertens und Schmitz auch in meinem Unterricht begrüßen zu dürfen. Los jetzt, rein in die Klasse.“


...

Kommissar Mertens saß zurückgelehnt an seinem Schreibtisch, starrte die Decke an und dachte nach. Das machte er immer so, nur so konnten die Gedanken am besten fließen, sagte er gerne. Seine Kollegen machten darüber ihre Scherze, einmal hatte jemand einen Zettel an die Decke über seinen Schreibtisch geklebt. „Sie sollten jetzt eigentlich Arbeiten“ stand dort.
Mertens Blick fuhr an den mit grüner Farbe gemalten Buchstaben entlang und seine Gedanken schweiften unwillkürlich ab. Er bewunderte den leuchtenden Ton des Grüns, die klare Linineführung und die sicher sehr gute Verarbeitung des Papiers, das war bestimmt... er schüttelte den Kopf. Konzentration war angesagt.
Es klopfte an der Tür und Mulder betrat den Raum. Sein wirklicher Name war Carsten Gröll, aber er war für die meisten Kollegen nur ein Träumer mit einer starken Affinität zum Übernatürlichen, daher der Spitzname.
„Kann ich Sie kurz sprechen?“
„Mulder! Was wollen Sie denn? Ist Ihnen ein UFO abhanden gekommen und ich soll es suchen?“
„Machen Sie keine Scherze über meine Arbeit. Irgendwann werde ich ihre Existenz beweisen.“
„Na gut, was kann ich denn nun für Sie tun?“, sagte Mertens, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Sie bearbeiten doch diesen Feuerfall, oder?“
„Hat Ihnen das Ihre Kristallkugel gesagt?“
„Der Amtsleiter hat es mir gesagt und mich zu Ihnen geschickt. Ich habe einige wichtige Informationen für Sie.“
„Das sagt meine Frau auch immer, wenn die einen neuen Deichmann-Prospekt rausbringen.“
„Hier geht es nicht um Schuhe, Herr Mertens. Schon mal sowas gesehen?“

...

Seichter Wind brandete auf und lud die Wassermassen zu einem sanften Spiel mit der Schwerkraft ein. Die Wellenkuppen hoben sich langsam und majestätisch dem Himmel entgegen, als wollten sie in der Endlosigkeit des Universums Halt suchen. Wolken verdunkelten den Himmel, die letzten Sonnenstrahlen bedeckten ihr Gesicht, während Tränen der Angst und des Schreckens ihre Augen verließen und sich in den endlosen Weiten des Ozeans verloren.
Wie lange schwamm sie jetzt schon? Minuten, Stunden, Tage? Hatte sie jemals etwas anderes getan? Der Wind wurde stärker und aus seichten Wellenkuppen wurden riesige, reißende Wellenberge, die sie unerbittlich unter die wogende Wasseroberfläche zu ziehen suchten. Die Luft brannte in ihrer Lunge, sie konnte nicht mehr atmen, Erschöpfung nahm ihr den Willen. Sie wollte aufgeben, sich fallen lassen, es einfach geschehen lassen.
Weit in der Ferne, am Horizont, wo sich Ozean und der Himmel berühren, sah sie eine schwarze Gestalt, die sich von ihr abwandte und langsam verschwand.

...

„Was soll das denn sein?“
„Das sind Fotos einer seltsamen Todesserie, die sich vor einigen Jahren in den USA zutrugen.“
Kommissar Mertens sah sich die Fotos eher oberflächlich und mit mäßigem Interesse an. Er hielt nicht viel von den ewigen Spinnereien seines Gegenübers. Dann stockte er. Das Bild zeigte eine ausgebrannte Häuserruine. Keine Asche war zu sehen, keine Zeichen eines Feuers.
„Sehen Sie, was ich meine?“
„Hat Ähnlichkeiten mit dem Brand von heute Morgen. Was wissen Sie über diesen Fall?“
„Nicht viel. Das meiste sind Spekulationen. Aber Fakt ist, es gab damals vier Todesfälle. Verbrennen, Ertrinken, Ersticken und ein Sturz aus großer Höhe. Feuer, Wasser, Luft und Erde.“
„Aha. Und weiter?“
„Wir sind beim jetzt Feuer.“
„Wollen Sie mir sagen, daß sich diese mysteriöse Serie gerade wiederholt?“
„Genau das will ich Ihnen sagen.“, antwortete Gröll, der den spöttischen Tonfall seines Gegenübers ignorierte.
„Wissen Sie was, Mulder?“
„Nennen Sie mich nicht so!“
„Nun Mulder, ich glaube langsam, Sie haben ernsthaft einen an der Wa...“ In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und ein Kollege stürmte das Büro.
„Das müssen Sie sich ansehen!“

...

„Gut, daß Sie da sind, Kommissar Mertens.“
„Hansen! Sie zu sehen, ist eine echte Freude.“
„Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit, Herr Kommi...“
„Jaja, das reicht. Fast so schlimm, wie meine Frau. Also, was haben wir?“
„Eine tote Frau, ungefähr siebenunddreißig Jahre alt. Sie ist ertrunken.“
„Und warum haben Sie mich gerufen? Ich bearbeite einen ganz anderen Fall.“
„Ich denke, die beiden haben etwas miteinander zu tun, Kommissar. Heute Morgen fanden wir bei der Verbrennung keinen Hinweis auf ein Feuer, wie sie wissen und jetzt ist jemand ertrunken und... naja... wir haben keine Ahnung, wie sie das angestellt hat.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Gröll, der seinen Kollegen unbedingt an den Tatort begleiten wollte.
„Naja, wir haben nirgendwo im Haus Wasser gefunden, nur eben in ihrer Lunge.“
„Und wie ist es dorthin gekommen?“
„Nun, wir denken...“
„Kommissar Mertens, ich möchte Sie unter vier Augen sprechen.“, sagte Gröll.
„Ich bin gerade beschäftigt.“
„Kommen Sie bitte mit in meine Wohnung! Ich weiß, was hier vorgeht.“
„Und das können Sie mir nicht hier erzählen?“
„Nein, die müssen mitkommen. Ich habe die Beweise zu Hause!“ Mit diesen Worten zerrte Gröll seinen überraschten Vorgesetzten in den Dienstwagen.

...

Der Unterricht begann. Mathe war für Franz so ziemlich das schlimmste - nach Rotkohl natürlich. Während der Lehrer vorne an der Tafel irgendwelcher Zahlen an die Tafel schrieb, fielen Franz langsam die Augen zu.

...

Der Wagen hielt vor einem kleinen Häuschen am Rande der Stadt. Es war eine recht edle Gegend, befand Mertens. Die Nachbargrundstücke sahen sehr gepflegt aus, Gartenzwerge blickten gelangweilt in den Himmel, Rosen säumten die Wege zu den Haustüren, Hecken waren mit dieser ganz besonderen Akribie geschnitten, die man nur in diesen Vorstädten vorfindet.
Dagegen fiel das Grundstück, vor dem sie jetzt standen, doch sehr ab. Der Rasen im Vorgarten schien seit Ewigkeiten nicht mehr gemäht worden zu sein, Moos und Unkraut wucherten zwischen den Gehwegplatten empor und das eigentliche Haus sah von außen nicht besser aus. Blinde Scheiben, eine verwitterte Holztür und kaputte Dachziegel bestimmten das Antlitz des Gebäudes.
„Hier wohnen Sie?“
„Meine Oma hat mir das Haus nach ihrem Tod vermacht.“
„Aber Gartenarbeit ist nicht so Ihr Ding, oder? Soll ich Ihnen mal meine Frau vorbeischicken? Die zupft gerne Unkraut.“
„Lassen Sie uns reingehen, wir haben etwas zu besprechen.“, sagte Gröll, als er den Schlüssel drehte und die Holztür aufschwang, was die rostigen Scharniere mit einem lauten Quietschen kommentierten.
„Sie sollten das mal dringend ölen, Mul...“, begann Kommissar Mertens, doch dann schaltete Mulder das Licht an und er sah zum ersten Mal die Inneneinrichtung.
Die ganze Wohnung glich beinahe einer Rumpelkammer. Überall standen Kartons und Kisten voller Papier, die Wände waren tapeziert mit Zeitungsauschnitten und bedeckt von Regalreihen, auf denen wiederum Modelle von UFOs und einige Star-Trek-Sammelfiguren standen. Weitere, zum Teil zerschnittene, Zeitungen lagen verstreut auf dem Fußboden standen in Regalen.
„Das ist mein Büro. Ich habe jeden Artikel der letzten Jahre gesammelt, der sich mit übernatürlichen Phänomenen befaßt. Loch Ness, der Yeti, UFO-Sichtungen, Area 51, was Sie wollen.“
„Yeti... meinen Sie dieses haarige, große Vieh, das immer rumbrüllt? Das ist nicht übernatürlich, sondern bei mir zuhause und bügelt hoffentlich in diesem Moment meine Hemden.“
„Bitte? Ach so... nun, ich sammle jeden Hinweis auf diese Vorgänge. Es gibt eine Welt da draußen, die wir nicht verstehen können. Da muß es einfach mehr geben, verstehen Sie mich?“
„Kein Stück, aber fahren Sie ruhig fort.“
„Was unseren Fall angeht... ich bin der Meinung, wir haben es hier mit einer Sache zu tun, die wir auf normalem Wege nicht bekämpfen können. Erinnern Sie sich an die Mordserie, von der ich Ihnen vorhin erzählte? Es gibt sichere Quellen, die aussagen, daß die Menschen in ihren Träumen starben.“
„Sichere Quellen? Sie meinen sicher die Bild-Zeitung, oder?“
„Die Menschen träumten, sie würden verbrennen, ertrinken oder was auch immer. Und dann starben sie auch in der Realität. Es gibt nur eine Möglichkeit, das aufzuhalten. Sie müssen das Wesen in ihren Träumen bekämpfen.“
„Ich glaube langsam, Sie haben Ihren Bezug zur Realität verloren, Mulder. Lassen Sie uns gehen.“
„Erst sollten Sie sich schlafen legen.“, sagte Gröll und schlug den Kommissar mit einem Aktenordner nieder.

...

Der Wagen rollte auf der endlosen Autobahn dahin, verfolgt von einem schwarzen Mercedes, der unerbittlich näher kam. Der Fahrer des Wagens gab Gas und drängelte sich am laufenden Verkehr vorbei, bis plötzlich die Baustelle auftauchte.
Franz Mertens schloß vor Schreck die Augen und bekam kaum mit, wie die Vorderräder seines Wagens langsam den Kiesberg erklommen und danach Bodenkontakt verloren. Wie in Zeitlupe hob der Wagen ab und gewann langsam immer mehr an Höhe. Die Zeit dehnte sich ins Unendliche, der Flug schien kein Ende zu nehmen, kein erlösender Aufprall beendete die brodelnde Stille. Franz öffnete die Augen und sah hinaus. Der Wagen stieg immer noch, die anderen Autos auf der Straße waren kaum noch zu erkennen, er konnte weit in die Ferne sehen, sah eine schwarze Gestalt auf der Motorhaube, die sich langsam auflöste.
„Franz!“
„Papa? Was machst du denn hier?“
„Ich... ich habe keine Ahnung... dieser bescheuerte Mulder hat mich KO... Moment, wo sind wir hier?“
„Ich weiß nicht? Eben saß ich noch in der Schule und dann...“
„Bist du etwa eingeschlafen?“
„Nein, natürlich nicht... doch... bin ich...“
„Habe ich dir nicht immer gesagt, du sollst in der Schule aufpassen? Jetzt siehst du, was passieren kann.“ Die Standpauke war mehr ein Reflex als ein ernstgemeinter Appell an die Ehre seines Sohnes. Kommissar Mertens war im Augenblick nicht fähig, klar zu denken. Konnte Mulder tatsächlich Recht gehabt haben? Konnte diese vollkommen Irre Theorie wahr sein? Das war doch absloluter Unsinn! Andererseits saß er jetzt in diesem Wagen, der den Scheitelpunkt seines Fluges inzwischen erreicht hatte und sich nun wieder langsam senkte. Mertens nahm den Sicherheitsgurt und schnallte sich an.
Franz saß auf dem Fahrersitz gekauert und hatte die Hände vor die Augen gelegt. Leise zitternd wartete er auf das Unvermeidbare. Sein Vater beugte sich hinüber und versuchte, ihn zu trösten, aber das war ein sinnloses Unterfangen. Die Sekunden zogen sich zu einer Ewigkeit, das Schicksal würde seinen Lauf nehmen. Jetzt, in diesem Moment, würden sie sterben. Vielleicht nur in einem Traum, vielleicht aber auch...
„Verdammt! Das ist nur ein Traum!“ Diese Erkenntnis traf den Kommissar wie ein Blitz. „Ich muß nur aufwachen.“

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, löste sich der Wagen, und alles um die beiden Insassen herum, in Luft auf. Unsanft landete Franz Mertens auf seinem Stuhl in der Schulklasse. Der Lehrer schrieb immer noch Zahlen an die Tafel und drehte sich erst um, als er die Stimme des Kommissars vernahm, der seinem Sohn wenig später folgte.
„Verdammte Schei... oh, hallo Kinder...“
„Was machen Sie denn hier?“
„Das würden Sie mir sicher nicht glauben. Ich glaube es ja selber nicht.“
„Vielleicht erklären Sie es mir doch.“, sagte der Lehrer und der Himmel verdunkelte sich. Der Mann an der Tafel veränderte seine Gestalt und verlor immer mehr an Farbe, bis er nur noch einem schwarzen Schatten glich. Der Alptraum war noch nicht vorbei.
„Stirb“, hauchte die Gestalt und Kommissar Mertens spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte und das Atmen ihm immer schwerer fiel. Jedes Sauerstoffatom schien sich einzeln mühsam seinen Weg in die Lungen suchen zu müssen. Langsam sank Mertens zu Boden und kurz bevor ihm schwarz vor Augen wurde, sah er, daß es den Kindern genauso erging.
„Luft... ich brauche Luft...“, krächzte er. Dann verlor er das Bewußtsein.

Wenn der Geist im Traum stirbt, wacht der Körper einfach auf. Wenn der Körper im Schlaf stirbt, hat der Geist im Traum keine Chance, zu überleben.

...

Walther Mertens schlug die Augen auf. Er lag noch immer in der Wohnung seines Kollegen, war aber zu schwach, um aufzustehen, denn nach wie vor hatte er Atemprobleme. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Mulder schien es genauso zu gehen. Sein Körper sank auf den harten Dielenboden und blieb direkt neben Mertens liegen.
Das war alles. Schon im nächsten Moment bemerkte der Kommissar die dichten Rauchschwaden, die sich ihren Weg durch den Hausflur suchten. Hustend und würgend brach er endgültig zusammen.

Flüssiges Glas rann in breiten Strömen die Wände hinab und verteilte sich in tiefen, schimmernden Pfützen auf dem Fußboden. Geschmolzenes Gummi tropfte in dicken Tropfen aus den Fensterisolierungen und vermischte sich mit dem Glas, wobei die Flüssigkeiten ein bizarres Spiel aus Farben und Formen begannen.
Der Geruch von verbranntem Holz schwebte in dichten Wolken durch die Luft, suchte sich seinen Weg in die Wahrnehmung dessen, der diesem Schauspiel beiwohnen mußte. Der dunkle Rauch brannte sich erbarmungslos in seine vor Angst geweiteten Augen und nahm ihm die Luft zum Atmen. Wieviel Zeit würde ihnen bleiben, bis sie endgültig ersticken mußten? Wie lange würden sie die Hitze noch ertragen können?

Das Feuer fraß sich durch die hölzernen Bodendielen, versengte die Vorhänge, zerstörte alles um sie herum. Die Hitze begann, an ihrer Haut zu zehren und sie langsam aber sicher aufzufressen.
 

jon

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Teammitglied
Abgesehen davon, dass ich Mystik nicht wirklich mag, finde ich die Sache recht gut gemacht. Der eingestreute Humor gefällt mir und sogar der penetrant brubbelnde Ton des Kommissars und seine ständigen unnetten Anspielungen auf seine Gattin störten mich nicht literarisch sondern nur menschlich. Ich habe es jedenfalls mit einigem Vergnügen gelesen…


Anmerkungen:
***Am Anfang störte mich der Wechsel vom „er“ zur „sie“ (ich las es als weibliches Pronomen und nicht, wie der nachfolgene Text nahelegt, als Mehrzahl). Vielleicht sörte es mich wegen der Struktur: Beschreibung des Brandes – er leidet – weitere Beschreibung des Brandes – plötzlich leidet eine sie, obwohl ich hoffte, zu erfahren, wer er eigentlich ist.
***Die Wiederholung "es hatte wirklich niemand ein Feuer gesehen", empfand ich als störend (das steht ja eigentlich schon im ersten Satz des Absatzes – fällt dem Kommissar also schon beim bloßen drüberschauen über die Notizen auf. Vorschlag: „Am gestrigen Abend, so hatten die Zeugen ausgesagt, sei alles noch wie immer gewesen. Heute Morgen gegen acht Uhr war der Frührentner Horst Holstrup mit seinem Hund Jobst beim Brötchen holen der Ruine vorbei gekommen und hatte sofort Polizei und Feuerwehr benachrichtigt. Irgendwann dazwischen musste das Gebäude seinen Zustand vollkommen verändert haben, offenbar von einem Moment auf den anderen und völlig licht- und lautlos, denn niemand hatte etwas von diesem Vorgang bemerkt. Das war um so erstaunlicher, da das Haus mitten in einem Wohngebiet stand.“ (oder so…)
***„Natürlich nicht, Martin!..." –– Der Name sollte irgendwie anders eingeführt werden, denn m.E. würde Franz ihn nicht an dieser sehr emotionalen Stelle (wenn überhaupt) anhängen. (Bei "Hey Wolfgang, rate mal…" stimmt es wieder, denn auf die (noch) große Entfernung muss ja klargestellt werden, an wen der Ruf gerichtet ist…)
***„Seine Kollegen machten daraus ihre Scherze...“ müsste wohl eher heißen „Seine Kollegen machten darüber ihre Scherze/Witze..."
***„Sein wirklicher Name war Carsten Gröll, aber er hatte eine starke Affinität zum Übernatürlichen. Die meisten seiner Kollegen hielten ihn für einen verrückten Träumer, daher der Spitzname.“__Da stimmt meines Erachtens der Bezug nicht recht: Man nennt doch nicht einen verrückten Träumer „Mulder", sondern einen, der an Ufos &Co. glaubt. Ich würde es reduzieren auf „Sein wirklicher Name war Carsten Gröll. Er hatte eine starke Affinität zum Übernatürlichen, daher der Spitzname."
***„Die Luft brannte in ihrer Lunge,...“–– Ich bin noch nie ertrunken (nur mal fast), aber etwas in mir streikt bei dem Bild, dass dabei Luft in der Lunge brennen soll…
***„In diesem Moment wurde die Tür ohne anzuklopfen aufgerissen und ein Kollege stürmte das Büro.“––– Wer klopft nicht an? Grammatikalisch hat die Tür dies unterlassen! Nein im Ernst: Dieser Einschub ist nicht nur grammatikalisch unsauber, es macht vor allem den Satz irgendwie sperrig. Wenn die Tür „plötzlich aufgerissen“ wird, geschieht dies ohnehin meist, ohne dass vorher jemand klopfte. (Kopft vorher jemand, wird die höchstens "aufgerissen".)
***„Kommen Sie bitte mit in meine Wohnung! Ich weiß, was hier vorgeht.“ Der eindringliche Tonfall seines Gegenübers ließ Mertens nachgeben. Er stieg mit seinem Kollegen in den Dienstwagen.––– Hier hat der Kommissar für meinen Geschmack etwas sehr schnell nachgegeben. Ein, zwei Argumente mehr sollte Gröll schon auf Lager haben…
***....doch dann schaltete Mulder das Licht an und er sah zum ersten Mal die Inneneinrichtung der Wohnung. Durch die blinden Scheiben drang kaum Tageslicht nach innen.–––Der Blinde-Scheiben-Satz wirkt nachgeliefert – er zerstört die Wirkung und ist, glaub ich, auch gar nicht nötig, denn wenn man in einem alten (klein-fenstrigen), verlotterten {ungesputzt-fenstrigen) Haus eintritt, ist es (laut Klischee und wahrscheinlich auch tatsächlich) immer so dämmrig, dass man nicht sofort erkennt, sondern erst, wenn Licht gemacht wird oder man sich an das Dämmern gewöhnt hat. (Außerdem ist der dann folgende Absatz vermutlich ein Versehen…)
***„Wenn der Geist im Traum stirbt, wacht der Körper einfach auf. Wenn der Körper im Schlaf stirbt, hat der Geist im Traum keine Chance, zu überleben.“ --- Das störte mich. Erstens, weil ich mich fragte, wie der Geist sterben kann (aber da fordert wohl der Nicht-Mystiker seinen Tribut) , dann, als ich mich fragte, worin im Traum der Unterschied zwischen Tod des Geistes und Tod des Körper bestehen mag, und schließlich und vor allem, weil es so gar nicht zu dem sonst so konkreten Text passt (, der seine Mystik ja nicht aus den Formulierungen sondern aus der Handlung bezieht.)
***In der letzten Szene sinkt Mulder auf dem Betonboden nieder, das Feuer aber frisst den Dielenboden…
 

gnoebel

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Hallo jon,

Ich möchte mich erstmal kurz für das ausführliche Feedback bedanken. Deine Anmerkungen machen Sinn und ich werde einiges davon umsetzen, wenn ich wieder ein bissel mehr Zeit habe. Werde dann auch noch mal ausführlicher antworten.
 

gnoebel

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So, jetzt die richtige Antwort:

***Am Anfang störte mich der Wechsel vom „er“ zur „sie“ (ich las es als weibliches Pronomen und nicht, wie der nachfolgene Text nahelegt, als Mehrzahl). Vielleicht sörte es mich wegen der Struktur: Beschreibung des Brandes – er leidet – weitere Beschreibung des Brandes – plötzlich leidet eine sie, obwohl ich hoffte, zu erfahren, wer er eigentlich ist.

Das ist schon in etwa so beabschichtigt. Manchmal ist halt nur Mertens gemeint (er röchelt), manchmal beide (beide werden von den Flammen verschlungen). Ich habe beim Schreiben gar nicht dran gedacht, daß das „sie“ hier auch für eine weibliche Person stehen kann (ich alter Macho...). Da werde ich mich noch mal drum kümmern. Danke für den Hinweis. Aber „er“ und „sie beide“ schreiben möchte ich eigentlich nicht, da das die Szene mMn zu konkret macht.

*** Man nennt doch nicht einen verrückten Träumer „Mulder", sondern einen, der an Ufos &Co. glaubt. Ich würde es reduzieren auf „Sein wirklicher Name war Carsten Gröll. Er hatte eine starke Affinität zum Übernatürlichen, daher der Spitzname."

Ich kenne die Serie nicht wirklich gut, muß ich gestehen. Aber Mulder ist doch derjenige, der an die UFOs glaubt und von seiner Kollegin oft als Spinner/Träumer abgetan wird, oder?

***„Kommen Sie bitte mit in meine Wohnung! Ich weiß, was hier vorgeht.“ Der eindringliche Tonfall seines Gegenübers ließ Mertens nachgeben. Er stieg mit seinem Kollegen in den Dienstwagen.––– Hier hat der Kommissar für meinen Geschmack etwas sehr schnell nachgegeben. Ein, zwei Argumente mehr sollte Gröll schon auf Lager haben...

Ja, da hast du natürlich recht, das geht zu schnell. Aber ich denke, wenn ich die beiden jetzt noch ne Weile diskutieren lasse, würde das den Text unnötig in die Länge ziehen. Ich habe jetzt mal eine Kompromißlösung probiert. Vielleicht ist die besser.

***„Wenn der Geist im Traum stirbt, wacht der Körper einfach auf. Wenn der Körper im Schlaf stirbt, hat der Geist im Traum keine Chance, zu überleben.“ --- Das störte mich

Dieser Satz bedeutet einfach folgendes. Wenn ich davon träume, zu sterben, dann wache ich schweißgebadet auf (Alptraum halt) aber sonst passiert mir nicht viel (es sei denn, meine Frau verprügelt mich, weil ich sie geweckt habe ...). Wenn ich aber während des Schlafens wirklich sterbe (wenn zB mein Bett brennt), dann bin ich wirklich tot. Natürlich klingt der Satz ein wenig übertrieben mystisch, aber ich mag ihn einfach.

***In der letzten Szene sinkt Mulder auf dem Betonboden nieder, das Feuer aber frisst den Dielenboden

Ja, das sind die schlimmsten Fehler. Dumme Logikfehler, gegen die kann man als Autor häufig nichts machen. Vielen Dank.

Die anderen Anmerkungen habe ich eingebaut, da hattest du Recht. Vielen Dank nochmal für deinen ausführlichen Kommentar, das hat mir wirklich geholfen.
 

jon

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Teammitglied
Hi gnoebel,

die Lösung, wie Mulder Mertens zum Mitgehen bringt, gefällt mir ausnehmend gut – sie ist sehr glaubwürdig.

[ 3]Sicher war Mulder "der Spinner" in Akte X , trotzdem ist die Passage um die mE entscheidende Nuance falsch sortiert: „Gröll glaubt an Ufos. Die Kollegen halten ihn für einen Spinner und nennen ihn deshalb Mulder." Bei dieser Konstruktion denke ich, dass man statt UFO auch Manitu, El Dorado oder Grüner Daumen sagen könnte, ohne dass der zweite Satz dadurch "beschädigt" würde. (Die Figur Gröll würde allerdings stark „beschädigt“ - es wäre halt ein ganz anderer...) Es ist andersrum sortiert einfach die „richtigere Kausalität“: „Sein wirklicher Name war Carsten Gröll. Die meisten seiner Kollegen hielten ihn für einen verrückten Träumer wegen seiner starke Affinität zum Übernatürlichen – daher der Spitzname.“

[ 3]Jetzt versteh ich den Satz mit dem „Sterben im Traum“. Er wäre "realer" formuliert aber tatsächlich nicht passend – eben weil hier der Grenzfall vorliegt, dass man das Sterben träumt und eben nicht aufwacht…

[ 3]Ob du eine Lösung für das Sie-Problem am Anfang findest, darauf bin ich selbst gespannt – mir erscheint das kaum möglich ohne die runde Struktur, die Rhythmik des Abschnittes erheblich zu beeinträchtigen.
[ 3]Die einzige Idee, die ich hätte, wäre: „Der dunkle Rauch brannte sich erbarmungslos in seine vor Angst geweiteten Augen und nahm ihm die Luft zum Atmen.
[blue]ABSATZ[/blue]Wieviel Zeit würde [blue]ihnen[/blue] bleiben, bis [blue]sie[/blue] endgültig ersticken [blue]mußten[/blue]? Wie lange [blue]würden sie[/blue] die Hitze noch ertragen können?
Das Feuer fraß sich durch die hölzernen Bodendielen, versengte die Vorhänge, zerstörte alles um sie herum. Die Hitze begann, an ihrer Haut zu zehren und sie langsam aber sicher aufzufressen.“
[ 3]Das ist nicht wirklich adäquat zum Original, denn es setzt voraus, dass ER im Grunde seines Herzens ein sehr sozialer Typ ist, dem in dieser Situation bewusst ist, dass es außer ihm noch einen trifft… Wenn ER Mertens ist, halte ich das aber für sehr gut möglich. Ich bin ehrlich gesagt (im Schlussbild) sowieso nicht auf die Idee gekommen, ER könne Gröll sein – dazu war die Reaktion zu normal, ja geradezu sympathisch…
 

gnoebel

Mitglied
Nochmal vielen Dank für deine Mühe.
Ich weiß jetzt, was du mit der Mulder-Stelle meintest und habe das dahingehend ausgebessert. Auch den ersten Absatz habe ich nach deinem Vorschlag ausgebaut. Das habe ich schon gemacht, bevor ich deinen Vorschlag gelesen hab und es ist mMn auch die beste Lösung.
Der Absatz wird dadurch nicht im Rhytmus gestört, es wird deutlicher, was ich meinte und ist plausibel eingebaut.

Eine Frage noch. Heißt das "m" hinter dem Titel der Geschichte Mystery? Ich hab beim Posten nicht dran gedacht, daß die Rubrik hier SciFi&Fantasy heißt und ich den Text hätte besser klassifizieren sollen. Tut mir leid, beim nächstem Mal mach ichs selber gleich beim Posten.
 

jon

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Teammitglied
Die Kennzeichnung F(antasy), SF oder M(ystery) oder Fan(Fiction) soll eigentlich jeder Autor selbst in die Titelzeile eintragen – die wenigsten tun das. Leider. Bei (relativ) kurzen Texten können gilmon oder ich nach Querlesen die Kategorie ergänzen, bei langen Texten ist es (mir gelegentlich) zu zeitaufwendig. Ich freue mich über jeden Autor, der uns da ein wenig entlastet.
 



 
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