Wenn der Schmerz, das Einzige ist, was bleibt.

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John Goodman

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»Warnung! Druckverlust. Außenhülle der Ebene Dreizehn beschädigt«, ertönte aus den Lautsprechern eine Ansage in regelmäßiger Abfolge. Schnelle Schritte hallten durch einen leeren, breiten, endlosen Korridor. Die dürftige Notbeleuchtung der roten Warnlichter warfen blasse Schatten von ihm an die Wand. Dicht an seiner Brust hielt er ein Bündel in den Armen, aus dem ein kleines Gesicht lugte. Er roch den süßen Duft des Neugeborenen, den der beißende Gestank von Desinfektionsmittel nicht überdecken konnte, der in der medizinischen Sektion herrschte.



Das Baby schlief. Wovon sie wohl träumte? Sein Blick ruhte auf den winzigen Lippen, die zu lächeln schienen. Ab und an zuckte ein Mundwinkel nach oben. Auch wenn die Gesichtszüge eines Neugeborenen, mit dem eines Erwachsenen wenig gemein hatten, war ihm das schiefe Lächeln vertraut. Sie kam ganz nach ihrer Mutter. Der friedvolle Anblick raubte ihm den Atem, stach ihm ins Herz und setzte einen Schwall von Erinnerungen frei, die ihn wie eine Flutwelle erdrückten. Er hatte den Gedanken an sie zu den anderen Gefühlen tief in sich verschlossen. Gefühle, die er sich verbot, um daran nicht zu zerbrechen. Er konnte sie nicht retten! Dafür hasste er sich, für so vieles und noch viel mehr.



Er unterbrach den Gedanken, als er sie wieder vor seinem Inneren sah. Ihre langen brauen Haare zu einem Zopf geflochten und blaue Augen, die nur für ihn funkelten. Dieses Bild wich den letzten Sekunden, als er an ihrem Krankenbett saß und sich ihre kalte Hand kraftlos an seine schmiegte. Er strich ihr feuchte Strähnen aus dem Gesicht. In ihren Augen lag eine unergründliche Traurigkeit, aber auch Zuversicht und Wärme, die sagten, dass es schon okay war. Ein Blick, den er ohne Worte verstand. Sie bewegte ihre Lippen, versuchte etwas zusagen, aber er hörte nur einzelne Silben. »Ihr Na-me. Han-nah«, wiederholte sie, als schöpfe sie daraus Kraft. »Hannah.« Sprach er leise aus, als er begriff, was sie auf den Lippen trug. Sie überreichte ihm den Namen wie einen kostbaren Schatz und er vermochte bloß zu nicken. Doch es war viel mehr als eine einfache Körperbewegung und viel mehr als er imstande war zu sagen. Es war ein stummes Versprechen, dass er ihr gab. Sie legte alle ihre Hoffnungen, Wünsche und Träume in seine Hände. Es war jetzt an ihm, ihre gemeinsame Tochter zu beschützen. Sie war die Stärkere. Sie hatte es akzeptiert und er war nicht stark genug, das zu ertragen.



Die Sicht auf das Kind an seiner Brust verschwamm und seine Unterlippe bebte. Brennende Tränen sammelten sich, die er gewaltsam verdrängte. Eine Einzelne fand ihre Bahn die Wange entlang zu den Bartstoppeln und verschwand unter dem Kinn. Es wäre alles umsonst, wenn er jetzt seine Fassung verlor. Behutsam strich er der Kleinen mit dem Daumen über das rosige Bäckchen und richtete seine Aufmerksamkeit zum Ende des Ganges, wo sich eine Abzweigung bildete. Auf die Monitore achtete er nicht, an denen er vorbeilief, und die ihm die verschiedenen Ebenen und ausgewiesene Notausgänge zeigten. Denn er wusste, wo er war. Er verlangsamte seine Schritte und stoppte, als er die Biegung erreichte. Obwohl er sich sicher war, dass ihm hier oben keiner begegnete, spähte er vorsichtig um die Ecke. Der Weg vor ihm, der zum Lastenaufzug führte, lag im Dunkeln. Außerdem hatten nur höherrangige Mitarbeiter zutritt und die nahmen an einer Krisensitzung teil, der er eigentlich auch beiwohnen musste. Als Sicherheitsbeauftragter war er für die Koordination solcher Einsätze zuständig. Die Ironie dahinter war nicht zu verkennen. Den Schaden an der Außenhülle konnte er nur erahnen und die vielen Toten. Er unterschätzte die Wirkung des Sprengstoffes. Vielleicht war das alles ein Fehler. Die Dinge könnten weiterlaufen wie bisher. Es wäre so einfach, die Augen vor dem ganzen kranken Scheiß zu verschließen. Aber er durfte sie nicht weiter machen lassen, nicht nachdem, was er gesehen hatte und wozu sie ihn zwangen. Wozu er sich selbst gezwungen hatte, in dem Glauben das Richtige zu tun. Denn der einzige Grund, warum er noch lebte, war das warme Bündel in seinen Armen.




Erleichtert, keinen vorzufinden, nahm es ein wenig seiner Anspannung. Er setzte einen Schritt vorwärts, als es irgendwo hinter ihm polterte und krachte. Dann donnerte es. Er zuckte zusammen und riss den Kopf herum, dass ihm die Halswirbel knackten. Dem folgte ein schriller Schrei, wie der einer Kreissäge, wenn die sich durch Stahl fräst. Erschrocken sprang er hinter die Ecke und lugte aus dieser hervor, wo das Licht der Notfallbeleuchtung ihn nicht erreichte. In der Ferne sprühten Funken aus der Sicherheitsschleuse und zogen einen schmalen hellen Streifen.


Dass der Verdacht früher oder später auf ihn fällt, war nicht zu verhindern. Doch das hier durfte nicht wahr sein, es lagen nicht einmal zwei Stunden dazwischen. Wie haben die ihn ausfindig gemacht? Er hatte alle Spuren beseitigt, die unmittelbar auf ihn schließen konnten. Vielleicht waren die nicht seinetwegen hier, vielleicht waren das außerplanmäßige Wartungsarbeiten. Immerhin war der medizinische Sektor ein wichtiger Bereich. Der musste im Katastrophenfall stets zugänglich sein. Das hätte er sich auch vorher denken können. Und warum überhaupt stand er noch hier. Er verlor wertvolle Zeit.



Plötzlich war es still und der Funkenregen erlosch. Irgendetwas regte sich in seinen Armen. Er schaute hinab und blickte in hellblaue Augen, die von einem Lächeln umspielt waren und ihm dunkler als sonst erschienen. Er lächelte unfreiwillig zurück. Ein Knall peitschte durch den Flur, pochte schmerzvoll an seinem Trommelfell und warf ihn aus diesem Moment. Der Boden unter ihm vibrierte. Instinktiv drückte er das Kind schützend an seine Halsbeuge, das anfing bitterlich zu weinen. Er sah Flammenzungen aus der Sicherheitsschleuse schießen, mit einem weiteren Knall barst das schwere Metall und schleuderte Splitter und größere Brocken in den Gang. Sein Herzschlag beschleunigte. Er setzte zum Sprint an.



Aus dem Augenwinkel sah er neblige Rauchschwaden aufsteigen, aus dem sich ein bewaffneter Trupp schälte, deren Umrisse er noch erkannte. Mehrere Lichtkegel suchten hektisch die Umgebung ab. Er hörte Stimmen, die sich Befehle zuwarfen, von denen er nur Wortfetzen verstand. Wie war er so dämlich zu glauben, er könnte entkommen. Hatte er wirklich ein Detail übersehen, einen Hinweis zurückgelassen? Denn das war kein Wartungstrupp. Er stürzte in den dunklen Flur hinein. Die Gefahr zu stolpern, hielt ihn nicht davon ab, seine Beinmuskulatur bis an den Rand zu treiben. Heißes Blut pumpte durch seinen bebenden Körper, er atmete stoßweise. Das setzte dem Baby zu, es wand sich in seinen Armen und schrie herzzerreißend. Er musste nur schnell genug den Hangar erreichen! Nach einigen Biegungen sah er endlich die Schemen der Aufzugtüren näherrücken und das Eingabefeld, das ihm schwach entgegen leuchtete.




Keuchend blieb er vor dem Display stehen, beugte sich vornüber und ließ seine Atmung etwas entspannen. Kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn. Er richtete sich wieder auf. Sanft wiegte er das schreiende Bündel an seiner Schulter und summte ihr beruhigende Laute ins Ohr. Mit der anderen Hand tippte er hastig seinen Sicherheitscode ins Zahlenfeld und drückte auf die Eingabetaste. Ein Ladekreis erschien und gab nach kurzer Prüfung einen Warnton von sich.

Falsch? Nein, er musste sich vertippt haben. Diesmal tippte er den Code langsamer ein. Das Kind verfiel in einen Schluckauf und begann zu niesen und zu schluchzen. Ihr kleiner Körper erschauderte und wäre ihm beinahe aus dem Arm gefallen, als sich seine Hand rechtzeitig um sie schloss. Dafür rutschte sein Finger am Zahlenfeld ab und traf auf die Eingabetaste, bevor er den Code vervollständigte. Erneut ertönte ein Warnsignal mit einem Hinweisfenster, das ihm einen Versuch übrig ließ.



Verzweifelt sah er in ihre angsterfüllten Augen.
»Du machst es mir nicht einfach, kleines. Ich vermisse sie doch auch.« Er wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und schmiegte sie eng an seine Brust. Die Zuwendung hatte sie benötigt, sie schnappte einige Male nach Luft und wimmerte dann leise in seine Armbeuge. Weit im Gang hinter sich hörte er tosende Schritte näher kommen. Seine Hand zitterte, als er den Code eingab. Er mahnte sich zur Ruhe, überflog nochmals die Ziffern und bestätigte die Eingabetaste. Der Ladekreis schob sich vor das Zahlenfeld. Seine Augen folgten gebannt der kreisenden Bewegung. Die ersehnte Erlösung kam, als der Ladekreis verschwand und der Warnton ausblieb. Sein Herz sprang einen Salto.


Dann erst bemerkte er, dass es nicht vor Freude sprang und stattdessen in den bodenlosen Abgrund stürzte. »Zugriff gesperrt!« Leuchtete ihm in roten Buchstaben entgegen. »Verdammte Scheiße«, stieß er mit zusammengepressten Zähnen aus und trat gegen die stählerne Aufzugtür. Ein dumpfer Klang löste sich. Das schreckte das Kind auf. Es starrte ihn mit großen Augen an, die Mundwinkel nach unten gezogen, bereit für die nächste Schreiattacke. »Nein, bitte nicht weinen«, er schloss seine Arme enger um sie. »Es tut mir Leid.«


Wie konnte das sein? Der Zugangscode stimmte.


Als die harte Erkenntnis seine Denkblockade durchbrach, verlor er seinen Halt und stützte sich an der Wand ab. Sie sperrten ihm seinen Zugangscode. Er hatte sich bereits das erste Mal nicht vertippt. Natürlich. Sie haben erfahren, was er getan hatte. Warum sonst, jagte ihm ein Sicherheitstrupp hinterher. Von den vielen Fehlern, die er begangen hatte, war das vermutlich sein letzter. Er musste etwas übersehen haben. Irgendwo zwischen dem Anbringen des Sprengsatzes, dem Löschen sämtlicher Aufzeichnungen und seiner Flucht. Was es auch war, das war jetzt egal. Es war zu spät. Selbst wenn es noch einen Notausgang gab, so führte sie dieser nur tiefer in das Innere der Basis und dafür musste er an den Wachen vorbei.


Hoffnungslos.


Ihn zerfraß die Angst um das Kind in seinen Armen und das Versprechen, dass er nicht halten konnte. Es endete, bevor er sah, wie sie heranwuchs und die Schönheit der Welt und der Natur mit eigenen Augen erblicken durfte. Niemals bekäme sie den blauen Himmel zu Gesicht und niemals das funkelnde Firmament bei Nacht. Und niemals würde sie das wärmende Licht der Sonne und den kühlen Wind auf ihrer Haut spüren. Es bliebe ihr immer verborgen, dass sie unendlich geliebt wurde. Er sank auf die Knie, legte dem Bündel eine Hand in den Nacken und drückte ihre Wange an seine. Ihr inzwischen regelmäßiger Herzschlag, ihre sanfte Atmung und ihr Duft umhüllten ihn wie ein Deckmantel. Aber was, wenn er …, nein, der Gedanke war zu absurd, um ihn weiterzudenken. Wie könnte er verantworten, sie den Fängen zu überlassen, aus deren er versuchte sich zu befreien. Noch so ein absurder Gedanke. Freiheit. Wie sollte er das überhaupt anstellen? Etwa inbrünstig um Gnade flehen und darauf vertrauen, dass sie die Strafe für seinen Verrat nicht an dem Kind ausließen? Ihr junges Leben hing an seinem. Sie war ohne ihn verloren und ohne sie, war sein Leben wertlos.


In der dunklen Ferne sah er den Schein ihrer Lichtwerfer näher kommen. Gleich war es soweit und sie kämen um die Ecke gebogen. Er hörte donnernde Schritte durch den Flur hallen und aggressive Kommandos, die unmissverständlich klarmachten, dass ihm kein Ausweg blieb, als einfach nur die Augen zu schließen und den Tod mit offenen Armen zu empfangen.
 
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John Goodman

Mitglied
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, meine noch nicht abgeschlossene Story zu lesen. Ich halte mich bewusst zurück mit überflüssigen Infodump.
Die Hintergründe werden sich im weiteren Handlungsverlauf ergeben.

Aber ich kann deine Kritik, in der Annahme, die Geschichte sei bereits fertig, durchaus verstehen. Doch statt eines banalen und unbefriedigten Ende mündet die Geschichte lediglich in einem Cliffhanger. Viel spannender ist hier die Frage, inwieweit du meinen Schreibstil bewertest und ob an der einen oder anderen Stelle der Spannungsbogen zu knapp kommt. Besonders in Hinblick auf das "Show dont Tell-Prinzip".

PS: Habe die Geschichte in feinen Nuancen überarbeitet und zum Ende hin ist noch ein weiterer Absatz dazugekommen.



Gruß

JG
 
S

Susanne Evers

Gast
Hallo John,

Dein Werk hat mir bis zum Ende des Textes inhaltlich gut gefallen.
Hoffe auf baldige Fortsetzung.
Herzliche Grüße
SuE
 

John Goodman

Mitglied
Ich freue mich, dass dir die Story zugesagt hat.
Tatsächlich steht die Fortsetzung bereits in den Startlöchern.
Es fehlt nur noch der Feinschliff, bevor die Raketen losgehen und das Buchstabenfeuerwerk den Nachthimmel erstrahlen lässt.
Ich wünsche im voraus frohe und besinnliche Festtage.
Wie schnell das Jahr schon wieder rum ist.


Gruß

JG
 



 
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