Nicht gerade wenige Dichter und Dichterinnen begehen den aus meiner Sicht kapitalen Fehler zu erwarten, dass der Leser das Gedicht genauso interpretiert, wie ist der Autor oder die Autorin haben möchte. Damit haben Sie aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Hm. Ich mag aber den Umkehrschluss, der sich daraus ergibt, auch nicht zu hundert Prozent: nämlich, dass man sich als Autor von Lyrik selbst stets komplett - oder zumindest sehr weit - zurücknehmen müsste, um es einer Leserschaft recht zu machen. Da bleibt dann - außer man ist wirklich ein extremes Ausnahmetalent, das mit Können und einem eigenen Stil heraussticht und sich daher auch ein großes Maß an Persönlichem leisten kann - nur noch Lyrik zum Tagesgeschehen oder zu Allgemeinplätzen und das war's dann mit jeglicher Authentizität.
Das kann's ja nicht sein. Künstler, die abstrakte Gemälde malen zum Beispiel, hätten dann jegliche Daseinsberechtigung verloren. Akademisches Handwerk gut und schön - aber das berührt doch nur an der Oberfläche, wenn man es genau nimmt. Ja, klar - da gibt es immer die, die sagen, mir sind solche Werke lieber, denn da erkenne ich, worum es geht. Ein Haus ist ein Haus und eine Frau ist eine Frau (und ich muss mir nicht aus ungegenständlichem Gekritzel etwas mühsam zusammenklauben, von dem ich dann nicht weiß, ob ich richtig liege oder nicht) ...aber das hat ja mit künstlerischem Ausdruck und dem Bedürfnis eines künstlerisch denkenden Menschen, den das Bedürfnis leitet, etwas aus inneren Tiefen zu Gestalt zu machen (ob jetzt bildlich oder in Worten oder Klängen etc), nichts zu tun.
Ich persönlich versuche, bei jedem neuen Gedicht, das ich lese, die Intention des Autors zu erspüren oder -lesen. Und dann "pole" ich mich quasi fürs nochmalige - diesmal dem Gedicht hoffentlich gerecht werdende - Lesen entsprechend. Und wenn ich dann das Gefühl bekomme, da hat mir jemand etwas sehr Persönliches von sich gezeigt, und auch noch auf seine ganz persönliche Art - also authentisch - , dann mag ich das. Egal, ob ich dieses Thema ganz anders angegangen wäre oder ähnlich oder ob es technisch vielleicht nicht hundertpro sitzt.
Zum konkreten Gedicht hier: für mich hat es - vielleicht auch mit Beteiligung meiner aktuellen Stimmung beim Lesen - sehr gepasst und ich konnte mit quasi jeder Formulierung etwas anfangen, weil ich darin etwas gespürt habe, das ich auch mal so empfunden habe. Gut möglich, dass, wäre ich an einem anderen Tag mit ganz anderer Stimmung auf diesen Text gestoßen, mich das Gedicht nicht so sehr gepackt hätte wie es hier und in dem Moment der Fall war.
Das habe ich immer im Hinterkopf, wenn es um Bewertungen geht - dementsprechend nehme ich auch Bewertungen anderer wahr. Sehr subjektiv und definitiv auch immer tagesverfassungsabhängig (zumindest zum Teil). Der künstlerische Dialog, der auch der Lyrik innewohnt, wird nie exakt gleich entstehen. Und das ist es doch, was Lyrik spannend macht. Also für mich zumindest.
Ich wollte hier auch gar keine Diskussion ins Rollen bringen, sondern empfand es als notwendig, zu erklären, warum ich den Text so gut bewertet habe. Dass er für jemand anderen eben nicht diesen Dialog erzeugt, ist nur logisch. Ich behaupte, man kann gar kein Gedicht schreiben, das allen oder einer Mehrheit so richtig gut gefällt. Das liegt gar nicht im Wesen der Sache.
LG,
fee