Wenn du dich aufregst und gleich wieder auflegst

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Du wirst sagen, dass ich selber schuld bin. Wie oft habe ich das schon gehört. Nicht direkt gehört, es ist zwischen den Zeilen durchgedrungen. Mitleidige Blicke, eine verkniffene Mimik und ich weiß schon, was sich in deren Kopf abspielt. Du hast längst den Blick abgewandt, während ich dir von meiner ausweglosen Situation erzähle. Vielleicht rede ich auch schon zu lange. Mein Herz ist voll, meine Stimme ist brüchig. Ich bin den Tränen nahe.


Wann ruft sie endlich an? Als würde es etwas nützen, behalte ich mein Handy ständig im Blick. Wenn das Display nicht mehr leuchtet, drücke ich einen Knopf, um es wieder zu aktivieren. Seit dem frühen Abend warte ich darauf, dass sie sich meldet, und jetzt ist es zwei Uhr in der Nacht. Natürlich habe ich versucht, sie zu erreichen, bin aber nur in der Mailbox gelandet. Immerhin hat sie den Text selbst aufgesprochen, was heißt aufgesprochen, sie trägt einen Rap vor, einen eigenen, irgendwas mit „Wozu rufst du mich an, wenn ich nicht abheben kann. Wenn du dich aufregst und gleich wieder auflegst, kann es nicht so wichtig sein…“. Na ja, mein Geschmack ist es nicht. Andere Generation. Schließlich bin ich ihre Mutter, noch dazu eine sehr späte. In zwei Jahren könnte ich in Pension gehen. Endlich nicht mehr in die Schule müssen, seit dreißig Jahren unterrichte ich am selben Gymnasium Deutsch und Englisch. Ach was, in Pension gehen. Das kann ich mir nicht leisten. Meine Tochter kostet zu viel, ein Drittel meines Gehalts geht nur für sie auf. Und manchmal ist es mehr, wenn ich etwas ausbügeln muss, was sie angerichtet hat.


Mit Männern habe ich nie Glück gehabt. Das Kapitel habe ich schon lange abgeschlossen. Naja, sag niemals nie. Vielleicht läuft mir doch noch der Traumprinz über den Weg. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Meine wenigen Beziehungen waren kurz und schmerzvoll. Den Wunsch nach Kindern hatte ich ohnehin nicht, bis, ja, bis ich den Bericht über ausgesetzte Kinder in Somalia gelesen habe. Da hat es mich gepackt. Ein Kind retten, was könnte man Sinnvolleres in seinem Leben tun? Es war dann einfacher, als ich gedacht hatte. Die Mutter hatte Alanna, diesen Namen habe ich ihr gegeben, in ein Waisenheim gebracht, weil sie nicht für sie sorgen konnte. So ein Kinderheim ist in Somalia eine Aufbewahrungsstätte. Die Kinder haben ständig Hunger, bekommen aber immerhin einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Sie sind weitgehend sich selbst überlassen. Alanna war damals zwei Jahre alt. Vielleicht war sie aber auch schon drei.


Ich konnte mein Glück nicht fassen, als ich meine süße Tochter in ihr Kinderzimmer brachte. In der Schule hatte ich mich freistellen lassen. Am liebsten hätte ich gänzlich zu arbeiten aufgehört, um mich nur meiner Alanna widmen zu können. Keine Sekunde wollte ich verpassen. Jeder Tag ist unwiederbringlich, davon bin ich noch heute überzeugt. Die meisten meiner Freundinnen und Bekannten wandten sich ab. Gut so, dachte ich. So trennt sich die Spreu vom Weizen. Einige hatte ich in Verdacht, dass sie es nur taten, weil Alanna schwarz ist. Es war bitter, den alltäglichen Rassismus erleben zu müssen. Nun ist Alanna die größte Rassistin. Sie hasst weiße Menschen, außer natürlich mich.


Jedes Schuljahr war und ist ein Spießrutenlauf. Meine Tochter ist sehr klug, aber leider noch fauler als klug. Vielleicht bin ich ungerecht. Es ist nicht leicht für sie, in eine Schule zu gehen, in der fast alle Schüler und alle Lehrer weiß sind. Womit wir wieder beim mehr oder minder subtilen Rassismus wären. Viele Male bin ich zur Direktorin gerannt, um mich zu beschweren. Alanna hat mich später gebeten, es nicht mehr zu tun. Es würde nichts helfen, im Gegenteil. Jedenfalls hat sie das vergangene Schuljahr mit zwei Fünfern beendet. Bis zur Nachprüfung ist es noch ein gutes Monat Zeit. Bisher hat sie es immer noch geschafft, irgendwie mit viel Glück die Kurve gekratzt. Aber dieses Mal sehe ich schwarz. Darf man das überhaupt noch so sagen? Sie treibt sich nächtelang herum. Wenn sie nach Hause kommt, schläft sie. Und kaum ist sie wach, schlingt sie schnell etwas hinunter, verlangt Geld von mir und ist schon wieder dahin.


Drei Uhr. Ich lege mich ins Bett. An Schlaf ist nicht zu denken. Warum tut sie mir das an? All meine Liebe habe ich ihr geschenkt. Und sie? Ihr scheint es egal zu sein, wenn ich wie ein Hund leide. Wenn ich sie darauf anspreche, reagiert sie manchmal so umwerfend süß. Sie umarmt mich dann und flüstert mir ins Ohr, dass sie mich über alles liebt. Sie brauche nur ihre Freiheit. In der Gegenwart wolle sie leben, nicht daran denken, was in fünf Jahren sein wird.


Ich muss eingenickt sein. Im Halbschlaf höre ich ein Pochen an meiner Wohnungstür. Es wird immer lauter. Ich stehe auf und öffne die Tür. Gott sei Dank kommt sie nach Hause, denke ich. Aber hinter ihr drängt auch ihr Freund in die Wohnung. Er ist Nigerianer und siebzehn Jahre alt. Das hat mir Alanna erzählt. Der Gestank, den sie verströmen, ist kaum auszuhalten. Beide torkeln in die Wohnung, Alanna kommt zu Sturz. Ich will ihr aufhelfen, doch sie wehrt mich ab. Er kann nicht hier schlafen, sage ich. Beide oder keiner, zischt sie. Aber warum? Er hat doch eine kleine Wohnung in der Seestadt. Und wie soll er jetzt noch dorthin kommen?


Das ist passiert, bevor ich dich am nächsten Morgen angerufen habe. Schon lange hatten wir unser Treffen im Café Korb vereinbart. Geht leider nicht. Meine Tochter schläft sich ihren Rausch aus, mitsamt ihrem Freund. Ich muss warten, bis sie aufwachen. Ja, du hast Recht. Ich lege mir die Fesseln selbst an, aber was würdest du an meiner Stelle tun? Sie rauswerfen, sie gar nicht erst in die Wohnung lassen, wenn sie in diesem Zustand ist, ihrem Freund Hausverbot geben? Und wenn sie dann nie wieder kommt? Wenn ich sie gänzlich verliere? Ach ja, kein Taschengeld mehr. Habe ich mir auch schon oft gedacht. Nur, was wird sie dann machen? Betteln, stehlen, noch tiefer ins Unglück stürzen? Ach was. Schauen wir nach vorne. Wie wäre es morgen um die gleiche Zeit? Geht bei dir nicht. Schade!


Es ist schon nach zehn. Aus Alannas Zimmer dringt kein Laut. Ich öffne vorsichtig die Tür. Ein Geruch wie aus einem Pissoir schlägt mir entgegen. Alanna liegt angezogen auf dem Bett, ihr Freund halb auf ihr, seine Hose ist runtergelassen. Ich trete etwas näher. Aus einem offenen Koffer stinkt es nach Urin. Der Typ muss hinein gepinkelt haben. Im Koffer steht eine Lacke.

Der Zorn packt mich. Ich zerre an dem Freund. Er soll sofort verschwinden, er hat Hausverbot. Aber vorher soll er noch den Koffer reinigen. Alanna öffnet die Augen. Was machst du in meinem Zimmer? Sofort raus. Dein Freund hat in den Koffer gepisst. Riechst du das nicht? Wir bringen es später in Ordnung. Verschwinde jetzt.


Alanna ist weg, mit ihrem Freund. Der angepisste Koffer liegt immer noch in ihrem Zimmer. Sie wollte hundert Euro von mir. Wofür? Ist doch egal. Ich habe ihr fünfzig gegeben. Nie wieder. Das werde ich nie wieder tun. Ab heute werde ich konsequent sein. Wenn sie sich nicht an die einfachsten Regeln hält, kann sie nichts von mir erwarten. Von mir aus soll sie am Abend weggehen. Wenn sie erst spät oder gar erst am nächsten Tag nach Hause kommt, muss sie mir Bescheid geben. Ich muss wissen, wo sie ist. Und ab sofort muss sie jeden Tag drei Stunden für die Nachprüfung lernen. Die Nachhilfe zahle ich aber nur, wenn sie auch hingeht. Das ist ihr Job und nur dafür bekommt sie Taschengeld. Schluss, Aus, Basta. Ich schenke mir ein Glas Prosecco ein und rufe dich an. Du hebst nicht ab. Natürlich. Meine Probleme nerven dich. Ich kann das verstehen, sie nerven auch mich. Aber du bist meine beste Freundin. Du bist mir als einzige geblieben.


Nach dem zweiten Glas Prosecco muss ich eingeschlafen sein. Es ist neun Uhr abends, als ich wieder erwache. Ich gehe in Alannas Zimmer und versuche den Koffer unter Einsatz einer Küchenrolle trocken zu bekommen. Zumindest so trocken, dass es nicht tropft, wenn ich ihn im Restmüll entsorge. Wieder in der Wohnung, schenke ich mir ein weiteres Glas Prosecco ein. Das letzte für heute, sage ich zu mir. Ich nehme einen Schluck und spucke ihn im Waschbecken aus. Das Gesöff ist warm geworden, absolut untrinkbar. Auf meinem Handy ist kein Anruf, weder von Alanna noch von dir. Ich versuche es bei Alanna und spreche den Text mit: Wenn du dich aufregst und gleich wieder auflegst, kann es nicht so wichtig sein.
 



 
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