Hallo Vera-Lena
ein interessanter Text. Beim ersten Lesen recht eingängig und homogen, zeigen sich bei genauerem Hinsehen doch verschiedene Sinn-Fragmente:
> Nimm meinen Schutzengel mit,
> dann hast du zwei.
Ein perfekter Einstieg mit "Ohrwurm"-Charakter. Ein fast kindlich wirkendes Ansinnen. Rührend. Ernst. Ohne Pathos. Schön.
> Denk dran, Salz lindert den Durst.
Ein abrupter Wechsel ins eher mütterlich Fürsorgende. Diese 3 Zeilen für sich verweisen auf eine Verabschiedungs-Szenerie: Jemand geht, einer bleibt zurück.
> Warum können wir nicht als zwei Niemande
> in ein Niemandsland gehen?
Hier erhält man einen Einblick in die Gedankenwelt des "Hinterbliebenen" - ein Perspektivenwechsel, der etwas unmotiviert wirkt. Bleibt man bei dem eben noch von außen betrachteten Verabschiedungsmotiv, könnte man fragen, warum sich der Gedanke nicht auf das Unmittelbare, Naheliegende konzentriert ... den Gehenden dazubehalten bzw. zu begleiten, wie es die daran anschließenden Zeilen tun. In der Niemandsland-Metapher scheint sich eine gewisse Sehnsucht nach vermeintlich unerreichbarer Entgrenzung auszudrücken; nach einer Welt, in der es überhaupt keine Verabschiedungen/ Zertrennungen mehr geben kann/ wird. Dieser verständliche Wunsch steht jedoch in einem spürbaren Widerspruch hierzu:
> Ich bin der Wind,
> der dein Haar scheitelt.
> Über Horizonte bin ich ausgespannt,
> dass dein Seufzen mich streift.
Das lyrische Ich wird hier in einen Zustand universaler Entgrenztheit versetzt: >Über Horizonte [...] ausgespannt<, kann/könnte allein durch die Kraft seiner Imagination den Gehenden überall hin begleiten. Und nicht nur das: >Wind, der dein Haar scheitelt< beinhaltet nach meinem Empfinden in sich bereits etwas Beschützendes, Wachsames ... einen Schutzengel? Ein ungemein starkes, tröstliches Bild, das einen durchaus interessanten Rückbezug zum Anfang ergibt.
> Wenn es keine Brücken mehr gibt,
> will auch ich in einen Fluss stürzen.
> Alle Sekunden tragen deinen Namen.
Hier wechselt die Perspektive vom schwebenden, begleitenden Prinzip zurück zum Wartenden, einem Menschen mit Verlustängsten, der sich über Sekunden hinwegtrösten muss (darf?).
Damit ist in diesem kleinen Text die gesamte Bandbreite menschlichen Wünschens und Sehnens ausgedrückt worden. Das macht ihn so beeindruckend, nachvollziehbar. Ich persönlich hätte mir eine konsequentere Fortsetzung der in den ersten 3 Zeilen angedeuteten Atmosphäre und Sichtweise gewünscht, kann aber leider keine konkreten Vorschläge machen, weil sich der Text ingesamt in eine andere Richtung entwickelt hat.
Viele Grüße
Martin