Hey Tula!
Ich werd jetzt bei so viel voll verdientem Lob sicher nicht den Dissidenten geben, sondern stimme im Prinzip in die Begeisterung ein.
Oje. Er hat "im Prinzip" geschrieben.
Also gut. Bringen wirs hinter uns. Was hat der sufnus jetzt wieder für ein Problem:
Ja. Ähem. Stotter.
… ich wollt eigentlich nur sagen, dass ich da beim Lesen eine etwas seltsame Erfahrung gemacht habe - deshalb die eingängliche Einschränkungsschwingung: Einerseits habe ich tatsächlich nicht die geringste Befindlichkeitsstörung bei der Lektüre dieses Gedichts erlebt und viele Momente ehrlichen beifälligen Kopfnickens, andererseits hab ich mich dann gewundert, warum ich trotz völliger Fehlerfreiheit nicht in die gänzlich uneingeschränkte Begeisterungssphäre katapultiert wurde.
Hm.
Dazu fallen mir jetzt zwei Dinge ein.
Erstens: Einige französische Weintester, welche die Güte eines Rebentrunks prüfen, haben ein System am Start, das ein bisschen anders funktioniert als die wohlbekannten 100-Punkte-Bewertungen von Herrn Parker. Der gallische Unter-die-Lupe-Nehmer schaut nämlich bei der Prüfung des Glasinhalts nur auf das, was an selbigem verkehrt ist. Atypische Färbung? Gar Trübungen, die da nicht hingehören? Irgendwelche Fehltöne im Geruch? Zu schwerer Körper? Zu leichter Körper? Zu viel Säure? Zu wenig Säure? Die falsche Säure? Abgang zu kurz? Unsauber? usw. Für alles, was bei der Prüfung unvorteilhaft auffällt, wird dann ein mehr oder weniger drastischer Punktabzug vorgenommen. Das Endergebnis ist, dass bei diesem System die platonische Idee eines Jahrtausendtropfens 0 Punkte bekommt und jeder reale Wein dieser so unvollkommenen Welt einen negativen Punktwert erhält. Ein Wein mit, sagen wir mal, Minus-drei-Punkten wäre dann schon ein echtes Knallergetränk.
Man kann sich aber irgendwie schon vorstellen, dass ein 0-Punkte-Wein, wenn es ihn denn gäbe, eher auf der Ebene von "angenehmen Gefühlen" als im unsachlichen Begeisterungsolymp unterwegs wäre. Und damit zu
Zweitens: In einer der allerersten Folgen des literarischen Quartetts von Marcel Reich-Ranicki (die Älteren unter uns erinnern sich noch), war Jürgen Busche noch im Quartett-Team mitmischend und der bemerkte bei der Lyrik von Ulla Hahn, dass diese ihm "angenehme Gefühle" beschere, woraufhin Sigrid Löffler urteilte, dies sei ja wohl das Vernichtendste, was man über einen literarischen Text äußern könne. Dies wiederum brachte Busche in schwere Rage, der es als eine der uneingeschränkt positivsten Leistungen von Literatur bewertete, wenn sie das Gemüt des Rezipienten in einen habitablen Mittelbereich zwischen tiefem Absturz und hysterischem Überschwang lenke.
Vielleicht ist es so, dass man sich an Perfektion nicht berauschen kann, sie aber heilsame Gelindwirkungen zu entfalten vermag. Woran erinnert mich das nur? Vielleicht an einen schönen Tag am Meer.
Also. Wo ist jetzt eigentlich mein Problem?
Weg isses. Atlantisch gelöst.
LG!
S.