Wenn ein Kind nervt

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Seine Eltern rufen ihn Nepo. Er ist sechs oder sieben Jahre alt. Es bleibt offen, ob er schon zur Schule geht. Von ihr ist nicht die Rede. Nepo ist ein lebhaftes, doch nicht hyperaktives Kind. Er ist weder ausgesprochen hübsch noch geradezu hässlich – ein recht durchschnittliches Kind, so scheint es, als sie an einem Sonntagabend das Restaurant betreten. Sie wählen einen Tisch in einer ruhigen Ecke. In ihrer Nähe sitzt nur ein einzelner Gast.

Seine schlanke und ernsthafte Mutter hat dominante Züge, eine Personifizierung des Begriffs treibende Kraft. Im Gespräch mit Nepos Vater gibt sie die Stichworte. Er geht gewöhnlich darauf ein, doch manchmal mit Anzeichen leichter Erschöpfung. Ihr Alter ist kaum zu bestimmen. Er scheint Anfang dreißig zu sein, hat früher Sport getrieben, doch jetzt lassen Beruf und Familie dafür keine Zeit mehr übrig. Da ist schon eine gewisse Schwerfälligkeit.

Sie schauen kaum in die Karte, bestellen gleich. Darüber, was man essen möchte, wird nicht diskutiert, auch nicht mit Nepo. Sie wissen es alle schon. Als der Wirt sich mit den Menükarten vom Tisch entfernt, steht Nepo auf und beginnt, in der Gaststube herumzuwandern. Er beschränkt sich dabei auf die nähere Umgebung. Da sind zwei Stufen, die zu einer Balustrade führen. Nepo läuft hinauf, läuft hinunter. Er übt Weitsprung.
„Nepo!“ schallt es aus dem väterlichen Mund. „Du kommst sofort zurück an den Tisch!“ Nepo reagiert wie ein Hund, der, wenn er ausgeführt wird, auf einer Wiese anfängt, ein Loch zu buddeln, tiefer und immer tiefer. Herrchen hinterherlaufen, das kann er immer noch. Nepo läuft jetzt auf der Balustrade um einen Tisch herum und probiert, wie schnell er das tun kann, ohne hinzustürzen.
„Nepo!“ Es hört sich schon sehr gereizt an. Nepos Mutter sagt: „Ach, lass ihn doch.“ Dann reden sie weiter über das Geschäft. Sie reden hier nur über das Geschäft. Nepos Vater ist ein kleiner Selbständiger in der Baubranche, ein Subunternehmer, er verlegt Fußböden. Er wartet auf kurzfristige Aufträge und wenn er einen bekommt, stellt er schnell einen Arbeiter dafür ein. Seine Frau hat alle Daten im Kopf. Sie sagt ihm, wann er wo anfangen muss und bis wann er fertig zu sein hat. Sie kennt die in der nächsten Woche auszuführenden Arbeiten. Sie sagt ihm, wen er jetzt gleich anrufen muss. Nepos Vater führt ein, zwei, drei Gespräche. Er verabredet sich mit einem Gesellen, sagt ihm, wo er ihn am Dienstag abholen wird. Sein Tonfall ist jetzt viel verbindlicher, freundlicher geworden. Er gibt sich Mühe im Beruf, mehr als im Familienleben. Vielleicht ist er auch davon erschöpft.
Es ist sozusagen ein Arbeitsessen. Und Nepo springt im Lokal herum, fällt einmal hin und steht sofort wieder auf, ohne zu brüllen – ein richtiger kleiner Mann. Inzwischen ist seiner Mutter etwas eingefallen: „Du musst ihm noch …“ sagt sie. Der Vater ruft den Arbeiter sofort wieder an und seine Stimme nimmt im Gespräch erneut diese freundliche Färbung an, die man sonst an ihm vermisst. Nepo arrangiert jetzt auf der Balustrade den Blumenschmuck neu.
„Nepo, Nepo!“ – „Ach, lass ihn doch.“
Nepo hat plötzlich seinen Fußball in der Hand und schmeißt ihn in Richtung des Butzenscheibenfensters. Der Ball springt zurück und Nepo schießt ihn auf die Balustrade, jagt dem Ball hinterher. Da sind sich seine Eltern einmal einig: „Ball spielen läuft hier nicht. Hierher, setz dich hin“, sagt die Mutter. Nepo gehorcht.

„Bist du müde, Nepo?“ fragt seine Mutter jetzt. Wie kommt sie darauf, das würde ihr so passen. Übrigens bleibt es die einzige Frage, die sie hier an ihn stellt. Und Nepos Vater trinkt Bier und schweigt. Hoffentlich kommt das Essen bald. Nepo dreht sich um und kniet sich auf die Sitzbank und schaut durch die Gitterstäbe der Rückenlehne auf den einzelnen Gast am Nachbartisch. Sie mustern sich. Nepo schneidet keine Grimassen dabei, er ist nur neugierig.
Die Gerichte werden serviert. Dann essen alle drei. Jetzt ist es ein einträchtig und schweigend verzehrender kleiner Familienverband, so wie man es von den meisten Arten der Säugetiere kennt.
 
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Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo Arno Abendschön,

ich finde, das ist eine sehr traurige Kurzprosa, welche Mitleid mit dem Kind erzeugt und Abscheu gegen die Eltern. Dies spricht für die Qualität des Textes, da er einen nicht unberührt lässt.

Dennoch habe ich an einigen kleinen Stellen gedacht, dass der Text noch Verbesserungspotential besitzt. Da wäre zum einen die Form. Es fehlen meiner Meinung nach mindestens zwei klare Absätze mit einer ganzen Leerzeile, da das Schriftbild sonst erschlagend wirkt. Ich würde sogar noch mehr Absätze machen:

Seine Eltern rufen ihn Nepo. Er ist sechs oder sieben Jahre alt. Es bleibt offen, ob er schon zur Schule geht. Von ihr ist nicht die Rede. Nepo ist ein lebhaftes, doch nicht hyperaktives Kind. Er ist weder ausgesprochen hübsch noch geradezu hässlich – ein recht durchschnittliches Kind, so scheint es, als sie an einem Sonntagabend das Restaurant betreten. Sie wählen einen Tisch in einer ruhigen Ecke. In ihrer Nähe sitzt nur ein einzelner Gast.

Seine schlanke und ernsthafte Mutter hat dominante Züge, eine Personifizierung des Begriffs treibende Kraft. Im Gespräch mit Nepos Vater gibt sie die Stichworte. Er geht gewöhnlich darauf ein, doch manchmal mit Anzeichen leichter Erschöpfung. Ihr Alter ist kaum zu bestimmen. Er scheint Anfang dreißig zu sein, hat früher Sport getrieben, doch jetzt lassen Beruf und Familie dafür keine Zeit mehr übrig. Da ist schon eine gewisse Schwerfälligkeit.

Sie schauen kaum in die Karte, bestellen gleich. Darüber, was man essen möchte, wird nicht diskutiert, auch nicht mit Nepo. Sie wissen es alle schon. Als der Wirt sich mit den Menükarten vom Tisch entfernt, steht Nepo auf und beginnt, in der Gaststube herumzuwandern. Er beschränkt sich dabei auf die nähere Umgebung. Da sind zwei Stufen, die zu einer Balustrade führen. Nepo läuft hinauf, läuft hinunter. Er übt Weitsprung.
„Nepo!“ schallt es aus dem väterlichen Mund. „Du kommst sofort zurück an den Tisch!“ Nepo reagiert wie ein Hund, der, wenn er ausgeführt wird, auf einer Wiese anfängt, ein Loch zu buddeln, tiefer und immer tiefer. Herrchen hinterherlaufen, das kann er immer noch. Nepo läuft jetzt auf der Balustrade um einen Tisch herum und probiert, wie schnell er das tun kann, ohne hinzustürzen.
„Nepo!“ Es hört sich schon sehr gereizt an. Nepos Mutter sagt: „Ach, lass ihn doch.“ Dann reden sie weiter über das Geschäft. Sie reden hier nur über das Geschäft. Nepos Vater ist ein kleiner Selbständiger in der Baubranche, ein Subunternehmer, er verlegt Fußböden. Er wartet auf kurzfristige Aufträge und wenn er einen bekommt, stellt er schnell einen Arbeiter dafür ein. Seine Frau hat alle Daten im Kopf. Sie sagt ihm, wann er wo anfangen muss und bis wann er fertig zu sein hat. Sie kennt die in der nächsten Woche auszuführenden Arbeiten. Sie sagt ihm, wen er jetzt gleich anrufen muss. Nepos Vater führt ein, zwei, drei Gespräche. Er verabredet sich mit einem Gesellen, sagt ihm, wo er ihn am Dienstag abholen wird. Sein Tonfall ist jetzt viel verbindlicher, freundlicher geworden. Er gibt sich Mühe im Beruf, mehr als im Familienleben. Vielleicht ist er auch davon erschöpft.
Es ist sozusagen ein Arbeitsessen. Und Nepo springt im Lokal herum, fällt einmal hin und steht sofort wieder auf, ohne zu brüllen – ein richtiger kleiner Mann. Inzwischen ist seiner Mutter etwas eingefallen: „Du musst ihm noch …“ sagt sie. Der Vater ruft den Arbeiter sofort wieder an und seine Stimme nimmt im Gespräch erneut diese freundliche Färbung an, die man sonst an ihm vermisst. Nepo arrangiert jetzt auf der Balustrade den Blumenschmuck neu.
„Nepo, Nepo!“ – „Ach, lass ihn doch.“
Nepo hat plötzlich seinen Fußball in der Hand und schmeißt ihn in Richtung des Butzenscheibenfensters. Der Ball springt zurück und Nepo schießt ihn auf die Balustrade, jagt dem Ball hinterher. Da sind sich seine Eltern einmal einig: „Ball spielen läuft hier nicht. Hierher, setz dich hin“, sagt die Mutter. Nepo gehorcht.

„Bist du müde, Nepo?“ fragt seine Mutter jetzt. Wie kommt sie darauf, das würde ihr so passen. Übrigens bleibt es die einzige Frage, die sie hier an ihn stellt. Und Nepos Vater trinkt Bier und schweigt. Hoffentlich kommt das Essen bald. Nepo dreht sich um und kniet sich auf die Sitzbank und schaut durch die Gitterstäbe der Rückenlehne auf den einzelnen Gast am Nachbartisch. Sie mustern sich. Nepo schneidet keine Grimassen dabei, er ist nur neugierig.
Die Gerichte werden serviert. Dann essen alle drei. Jetzt ist es ein einträchtig und schweigend verzehrender kleiner Familienverband, so wie man es von den meisten Arten der Säugetiere kennt.
Ein weiterer Punkt ist der Titel Wenn ein Kind nervt. Meiner Meinung nach erklärt dieser schon zu viel und ist auch nicht besonders literarisch. Er wirkt eher wie ein Arbeitstitel. Es gibt sicherlich viele Alternativen für den Titel, ein Beispiel wäre einfach nur Nepo - dann wäre das gesamte Augenmerk auf das Kind gerichtet, was zugleich auf eine Wertschätzung gegenüber dem Kind hinweisen würde, welche die Eltern in der Geschichte diesem nicht geben können oder wollen.

Und der letzte Punkt ist das Ende. Meiner Ansicht nach ist der Bezug auf die Säugetiere nicht nötig. Das wirkt wie eine philosophische Einordnung, welche dem Leser aus der Emotion bringt, welche er dem Text gegenüber entwickelt hat. Das würde ich nicht empfehlen, weil das ein unnötig abrupter Perspektivwechsel ist, der zudem das Schicksal des Jungen in der Familie, welches der Text ja als ein bedauernswertes zeichnet, relativiert. Somit konterkariert das Ende alle Bemühungen, die der Text in die Charakterentwicklung der Familienangehörigen investiert hat. Es gibt vielleicht auch noch andere Lesarten des Endes, aber zumindest meine Interpretation ging in diese Richtung.

Richtig stark finde ich übrigens folgenden Satz:

Nepo dreht sich um und kniet sich auf die Sitzbank und schaut durch die Gitterstäbe der Rückenlehne auf den einzelnen Gast am Nachbartisch.
Der Fremde als Fluchtpunkt des Kindes, der Fremde als Möglichkeit einer freundlicheren Bezugsperson - aber das Kind bleibt im Gefängnis der eigenen Familie ("Gitterstäbe"). Irgendwann kann es lernen, dass es einfach vom Stuhl aufstehen kann, diese Gitterstäbe werden es nicht aufhalten. Deswegen steckt in diesem Satz auch schon die Hoffnung des Erwachsenwerdens.

Soweit meine Interpretation.

Liebe Grüße
Frodomir
 
Herzlichen Dank, Frodomir, für die Mühe, die du dir gegeben hast. Dein Kommentar zeugt auch von tieferem Leseverständnis. Ich gehe gerne auf deine Punkte ein:

1. Tatsächlich weist meine Textvorlage (Word-Dokument) eine ganze Reihe von Absätzen mit Leerzeilen auf, auch an den Stellen, an denen du sie empfiehlst. Ich habe sie erst heute Mittag eigens für die Leselupe beseitigt, da Absätze mittels Leerzeilen hier sehr oft kritisiert werden. Leider kann man hier keine Absätze durch Einrückung gestalten. Ich werde jedoch anschließend im Sinne einer Kompromisslösung die von dir vorgeschlagenen Leerzeilen einfügen.

2. Der Titel ist wohl problematisch. Vielleicht habe ich ihn gewählt, um mehr Leser anzulocken?

3. Ja, der Schlusssatz mit den Säugetieren fällt aus dem vorherigen Rahmen heraus. Es sollte nur ein kleiner Scherz sein, gewissermaßen ein "Rausschmeißer".

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Mit der jetzigen Formatierung sieht es meiner Meinung nach viel besser aus.

Zu Punkt 2: Wenn sich das negativ auf die Qualität des Titels auswirkt, halte ich das für keine so gute Idee. Aber das ist natürlich deine Entscheidung.

Liebe Grüße
Frodomir
 
Frodomir, tatsächlich grübelte ich heute vor Veröffentlichung über einen besseren Titel. In der Eile - Mittagessen stand bevor - fiel mir nichts Rechtes ein. Jetzt würde ich titeln "Mit Nepo schön essen gehen". ("Nepo" allein scheint mir zu wenig auszusagen.) Aber ich will den Redakteur mit einer derartigen Geringfügigkeit wie nachträglicher Titeländerung nicht belästigen.

Bei dieser Gelegenheit meinen Dank an Keram und Ji Rina für die für mich sehr erfreulichen Wertungen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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