Wenn es Nacht wird, 2. Kapitel, Teil 1

Senerva

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Wenn es Nacht wird ...

Prolog

1. Kapitel

- Dunkelheit
- Das Versprechen (1. + 2. Rückblick)
- Gefühleshauch (3. Rückblick)

2. Kapitel

- Klein Pariser Massaker (4. Rückblick)

* * *
Klein Pariser Massaker
[Überarbeitet am: 14.02.2004]

Es knackte verdächtig in Vincents Nacken. Ein heißeres Stöhnen folgte – Andriel kümmerte es nicht. Sein Blick war fest auf Vincents Gesicht gerichtet, das, gezeichnet vor Schmerz, im Schatten der Hauswand lag.
„Ich weiß nicht, wovon Du redest, Andriel … Kumpel“, brachte er irgendwie zwischen den Sekunden hervor, in denen er nach Luft schnappte.
„Ich rede davon, dass Du … sagen wir … unschuldige Frauen quälst“, meinte Andriel leise.
Unglaublich – Andriel rang sich ein Lächeln ab. Der Druck, der auf Vincents Kehle lastete, wuchs für einen Augenblick. Dann glitt Andriels Hand fort, zurück in die Manteltasche.
„Unschuldige Frauen?“
Vincent hustete kurz und fasste sich an die Kehle – mit leichtem Druck betastete er jene.
„Wovon redest Du überhaupt, mh?“
Ja, wovon redete er da überhaupt? Er fasste sich an den Kopf, versuchend, nicht den Verstand zu verlieren. Er wusste nicht einmal ihren Namen! Und er hatte sie alleine gelassen! Alleine, in seiner Wohnung, wo tagein tagaus Vampire hereinspazierten.
„Wenn Du Charlotte meinst … ich habe sie nicht angefasst!“
Andriel schnaubte leise und wandte sich um. Er vergeudete seine Zeit; das merkte er.
„Wirklich! Hey!“
Vincents Hand schnellte nach vorne und krallte sich an Andriels Ärmel fest.
„Jetzt sag doch etwas …“
„Charlotte? War sie bei Dir?“
„Ja, natürlich. Ich mein … sie hat mir einige Dinge erzählt, die ich ihr jedoch nicht glauben kann“, meinte er nun, etwas leiser werdend.
In Andriel kochte der Zorn. Er ballte die Hand zur Faust und rief sich, wirklich im letzten Moment, zur Vernunft.
„Was glaubst Du ihr nicht?“
„Dass Du eine Frau aufgenommen hast … eine Menschenfrau.“ Vincent klang angewidert. Andriel quittierte dies mit einem weiteren Schnauben.
„Es ist also wahr?“, stammelte er plötzlich. Seine Hand sank hinab, wurde von der Dunkelheit verschlungen.
„Ja, vielleicht. Ich würde Dir jedenfalls raten, in naher Zukunft nicht mehr in ihre Nähe zu kommen. Okay?“
Er sah ein leichtes Nicken von Vincent. Andriel war von sich selbst überrascht – er hätte nie gedacht, dass solch eine … Sterbliche sein Leben für immer, momentan jedoch nur für einige Augenblicke, verändern konnte.
„Gut. Wir sehen uns.“
Er machte einen Wink mit der Hand. Er schlug seinen Mantelkragen hinauf, steckte die andere Hand ebenfalls in die Manteltasche und ging los – seine Schritte verklangen in der Dunkelheit.

* * *
Es war das erste Mal, dass Ramanca zur vereinbarten Zeit nicht zu Hause war.
Andriel hörte seinen Vater leise fluchen – Clarice hatte einen Kochtopf fallen gelassen, als die Uhr 9 schlug.
Andriel senkte den Blick. Seit geraumer Zeit saß er nun auf der Treppe, die hinauf zu den Schlafgemächern führte, und wartete auf die Rückkehr von Ramanca, seiner Schwester. Doch … nichts.
Die Dunkelheit legte sich bedrohlich langsam, gleich einem schwarzen Tuch, über die Welt. Er lauschte. Wieder ein unterdrücktes Fluchen von seinem Vater. Dann … Schritte, die sich der Küchentür näherten. Andriels Herz pochte wild, als die Tür aufgeschlagen wurde und sein Vater dort stand, der nun, da er Andriel erkannte, überrascht blinzelte.
„Andriel … Du, du sollst doch schlafen“, murmelte er.
„Wo ist Ramanca?“, fragte Andriel unvermittelt und blickte zu seinem Vater auf.
Stephan schien innerlich mit sich zu ringen. Einerseits wusste er wohl, dass Andriel bemerkt hatte, dass Ramanca nicht nach Hause gekommen war, doch andererseits …
Er machte eine Bewegung mit der Hand und lächelte gequält.
„Es stürmt draußen. Sicher ist es schwer für sie, gegen den Wind zu kämpfen.“ Stephans Stimme klang nicht ganz so überzeugt. Andriel erhob sich betont langsam – mittlerweile hatte er die Gestalt eines 14-jährigen Jungens angenommen.
„Wir müssen sie suchen!“
Bevor Stephan antworten konnte, war Clarice hinter ihm aufgetaucht, die abwechselnd Stephan und Andriel ansah.
„Andriel. Geh ins Bett.“
Andriel wandte den Blick von seinem Vater fort und richtete ihn auf seine Mutter. Er schien einen Augenblick zu überlegen.
„Nein“, stieß er hervor und sprang die letzte Stufe hinunter. Clarice hob langsam die Hand, als wolle sie zum Schlage ausholen, doch Stephan bedachte sie mit einem strengen Blick.
„Er macht sich Sorgen. Schließlich ist sie seine Schwester!“
Clarice nickte leicht, doch senkte sie die Hand nicht.
„Er hat Recht. Wir müssen sie suchen.“
Andriel wandte sich um und ging mit zügigen Schritten Richtung Garderobe.
„Nein, Andriel. Du bleibst hier – falls sie nach Hause kommt“, setzte Stephan hastig hinzu, als Andriel beleidigt drein schaute.

Der Sturm legte sich keinesfalls. Andriel drückte die Nase dicht an das Fensterglas und beobachtete die verschwommenen Gestalten seiner Eltern. Sie hatten die Tür verriegelt, das wusste er – doch, er wusste auch, wie diese wieder … nun ja … zu entriegeln war. Dieser schwache Gedanke zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.
Ein Blitz erhellte die Szenerie – wenige Sekunden später donnerte es. Andriel blickte auf. Die Haare auf den Unterarmen standen ihm zu Berge. Es war eine Nacht, die er nicht mehr so schnell vergessen würde. Nur, warum? Es polterte. Jemand schlug gegen die Türe!
Andriel zog schnell das Gesicht vom Fenster fort, rutschte hinüber und drückte sich eng an die Wand. Wieder polterte es. Er hörte, wie etwas zu splittern drohte. Stumme Gebete fanden ihren Weg, als das Poltern verebbte. Schritte – dann Stille. Andriel atmete tief ein und kniff die Augen für einen Moment zusammen. Dann, als er sie öffnete, und hoffte, sehnlichst hoffte, dass all das nur ein schlimmer Alpraum sein konnte, durchbrach ein Donnern die Luft. Andriel sackte zusammen.
Der Kerzenleuchter auf dem Tisch in der kleinen Bibliothek, die sein Vater sich über die Jahre aufgebaut hatte, flackerte. Sie warf wundersame Schatten an die Wand, die Andriel in ihren Bann zogen. Er folgte ihnen. Er war ihnen auf der Lauer. Er spürte keine Angst, nein, sondern Neugier. Er streckte die Hand nach ihnen aus – und erstarrte. Ein markerschütternder Schrei hallte durch die Luft. Andriel wusste, woher er kam. Er kam von dem angrenzenden Wald … und er kam aus dem Mund seiner Mutter.

* * *
Dunkelheit legte sich über die Welt und begrub alle Geräusche des vergangenen Tages.
Andriel stand, mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt, in dem Schatten eines alten Schuppens. Tief atmete er ein und hob den Kopf, um einen Blick in den nächtlichen Himmel zu riskieren. Er hörte Schritte, die zuerst auf ihn zukamen, sich jedoch dann schneller entfernten. Er vergrub die Hände in seiner Tasche und suchte nach einer Zigarette. Leise seufzte er, als er merkte, dass er diese auf dem Tisch in seiner Wohnung vergessen hatte.
„Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, murmelte er leise vor sich hin, ehe er sich leicht mit dem Fuß von der Wand abstieß und den Weg zu seiner Wohnung suchte.

Gerade dachte sie, sie hätte für wenige Stunden Ruhe von Andriel, doch dann hörte sie, wie die Wohnungstür geöffnet wurde und ein paar Sekunden später ins Schloss fiel. Ein Schlüssel raschelte – dann war da nur noch Stille.
Tief sog sie die Luft ein und krabbelte ein Stück unter ihre Decke. Sie spielte mit dem Gedanken, sich einfach schlafen zu stellen, als die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde.
„Ich will hier raus“, sagte sie unvermittelt, als Andriel sich ihr gegenüber an die Wand lehnte. Tat er dies mit Absicht? Er stand so, dass der Schein der Kerze ihn nicht erreichen konnte.
„Du kannst hier nicht raus.“
Er lächelte, was sie nicht sah.
„Warum nicht?“, murmelte sie trotzig und schlug die Decke zurück, um ihre Beine schließlich über die Bettkante zu schwingen.
„Weil ich es sage“, meinte er nur. Es überraschte ihn wohl, dass sie so schnell auf den Beinen war und zu ihm kam, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Ach, Du sagst es? Toll, super toll. Wie schön. Ich will trotzdem hier raus.“
Sie wackelte leicht mit der Nase und wagte einen Schritt Richtung Tür. Seine Hände umklammerten ihre Oberarme plötzlich wie ein Schraubstock.
„Noch ein Schritt und ich werde Dir zeigen, was es heißt, sich mit einem wirklichen Vampir anzulegen, meine Liebe.“
Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch zog er in ihren Kopf gleichsam einem eiskalten Hauch. Er spürte, wie sie zitterte, und verstärkte den Druck, der auf ihren Armen lastete, für einen Moment.
„Du willst wie sie werden?“
„Ich bin sie.“
Er ließ sie langsam los und griff nach der Türklinke.
„Ich denke, Du wirst Dein Temperament in nächster Zeit zügeln. Ich halte das, was ich sage, und meine es auch so.“
Sie starrte ihn an – er wich ihrem Blick aus, öffnete die Tür und verließ das Schlafzimmer.
Von draußen hörte sie ihn jedoch murmeln:
„Dein Name?“
„Sheila“, sagte sie und wandte sich ab.

Sheila drehte sich diese Nacht von der einen auf die andere Seite. Gleich, wie müde sie war, sie konnte einfach nicht schlafen. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt liegen konnte, wo sie dies doch die ganzen letzten Tage über getan hatte.
Sie gähnte leise und erhob sich. Von draußen hörte sie nichts. Inständig hoffte sie, dass er gegangen war. Einfach fort von hier. Vielleicht war er auch da und lauschte in jenem Moment an der Türe, was sie in seinem Schlafzimmer trieb.
Nun ja, er hätte sicher nichts dagegen einzuwenden, wenn sie sich ein wenig die Beine im Zimmer vertrat. Und dies tat sie auch eine gute halbe Stunde lang, nach der sie merkte, dass aus ihren Beinen endlich das Gefühl der Taubheit wich.
Sie hielt inne und streckte sich. In diesem Moment, als sie die Arme sinken ließ, fiel ihr Blick auf den überfüllten Schreibtisch. Sie sah einmal auf die Tür und horchte – nichts. Auf den Zehenspitzen schlich sie nun zu dem Tisch, blieb stehen und streckte die Hand nach einem sehr alten Papier aus, auf dem schon der Staub haftete. Sie blies einmal kräftig darüber und kleine Staubkörner erhoben sich in die Luft und nahmen ihr somit für einen Augenblick die Sicht. Doch dann, als dieser Spuk vorbei war, senkte sie ihren Blick auf das Blatt nieder und las:
-

Klein Pariser Massaker

Schwer trommelte der Regen auf die Dächer der Häuser. Es blitzte – wenige Sekunden später donnerte es. Eine Nacht, um grausame Morde zu begehen?
Die französischer Polizei (>>Policier<<) ist geschockt. Gestern, am 01 März 1866, wurden blutrünstige Morde begangen, zu denen, so ist die Polizei sich sicher, kein menschliches Wesen fähig gewesen sein konnte.
Außerhalb von Paris, im angrenzenden Wald Grande Guerre, fanden Spaziergänger in der Morgendämmerung zwei Leichen, sie so übel zugerichtet waren, dass man erst durch mehrere Befragungen und Vergleiche von den Vermisstenlisten innerhalb dieser Stadt feststellen konnte, um wen es sich handelt: das Ehepaar Vice.
Stephan Vice, dessen Architektur als Wunder angesehen wird und somit das 19. Jahrhundert prägt, und dessen Ehefrau Clarice Vice, die durch ihren Roman „Das Leben bin ich“ (wochenlang das meistverkaufte Buch in der Mittelschicht) bekannt wurde und deren neustes Buch „Schatten der Sinne“ am Ende dieses Jahres erscheinen sollte.
Die Kinder der Beiden, Andriel, der vor zwei Wochen seinen 14. Geburtstag feierte, und Ramanca, die in wenigen Tagen ihr Studium antreten wollte, bleiben seit gestern Abend vermisst.
Die Polizei hat die Suche mittlerweile ausgeweitet und „wird nicht eher ruhen, bis die beiden Kinder wohlauf in Sicherheit gebracht worden sind“ (Zitat: Polizeichef Distens)
Wer zu diesem Mord fähig war und warum die Vice’ umgebracht wurden, ist momentan noch unklar.
Ich werde sie jedoch weiterhin auf dem Laufenden halten.

-

Sheila blinzelte leicht. Sie ließ das Blatt langsam aus ihrer Hand auf den Tisch zurückgleiten, drehte sich um und krabbelte unter ihre Bettdecke.
Schnell fand sie Schlaf, der jedoch von blutrünstigen Träumen immer wieder unterbrochen wurde.
 



 
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