Karl Feldkamp
Mitglied
Manchmal war Werner Halbert es richtig satt. Dennoch versicherte er seiner Erika nach über 40-jähriger Ehe immer häufiger: „Ich liebe dich!“ Frauen wollen das hören. Wenn er ehrlich war, bedeutet diese Liebeserklärung kaum mehr als das Kompliment „Schmeckt sehr gut!“ das er regelmäßig Erikas beachtlichen Kochkünsten widmete.
Und wenn sie, vom Friseur kommend, meinte, einen vollkommen neuen Haarschnitt zu präsentieren, der sich in der Regel kaum von der vorherigen unterschied, ließ er ein ziemlich begeistertes „Steht dir gut!“ vernehmen, da er ihre alte Frisur ohnehin für die beste hielt.
Das Gespräch zwischen ihnen war über all die Jahre dennoch nicht verstummt. Spätestens abends vor dem Einschlafen redeten sie immer noch darüber, was sie am Tage erlebten und was sie dabei fühlten.
In den letzten Wochen spürte Werner häufiger den Drang, mit sich allein sein zu wollen, versank mit Zeitung oder Buch im weichen Wohnzimmersessel, las nicht wirklich, da seine Gedanken auf der Suche nach Erkenntnissen über die Liebe abschweiften. Stets um kurze und knappe Einsichten bemüht, kam er zu dem Schluss, das Wichtigste im Leben sei die Liebe. Liebe könne nichts außer lieben. Und gäbe es überhaupt Göttliches, dann sie.
Kreuzworträtsel langweilten ihn. Dennoch löste er eines in der Zeitung, um die Wohnung zu verlassen und die Postkarte mit dem Lösungswort in den Briefkasten zu werfen. Einen Kleinwagen gab es zu gewinnen. Dann wäre er nicht mehr auf ihren gemeinsamen BMW angewiesen. Sie stritten häufig um ihn.
Unfrankiert steckte er die Karte in den gelben Kasten, schlenderte zur Bushaltestelle, und da gerade ein Bus kam, stieg er ein, fuhr zum Hauptbahnhof, durchsteifte ziellos die Bahnhofshalle, betrachtete desinteressiert Schaufenster-Auslagen, wich voran hastenden Reisenden aus, stieg zu den Bahnsteigen hinauf und wieder in die Halle hinunter, setzte sich schließlich in einer Kaffeebar an einen der hohen runden Tische, nachdem er sich zuvor bei einer tief dekolletierten Bardame einen Cappuccino geholt hatte.
Der kleine rote Zeiger der riesigen Uhr in der Bar hatte die Elf verlassen. Und während der große auf die Vier vorrückte, bohrte ihm plötzlich jemand einen spitzen Finger in den Rücken. „Ich mag nicht allein am Tisch sitzen!“ Erschrocken sah er sich um und in die dunklen, mit schwarzem Brauenstift umrandeten grünen Augen einer jungen Frau. Ihre kurzen tizianrot gefärbten Haare standen gleichmäßig von ihrem kleinen runden Kopf ab. Aus Sommersprossen besprengelten Wangen ragte eine spitze Nase hervor und die Lippen waren zum Kussmund geschminkt.
Seufzend kletterte sie auf den hohen Barhocker, nahm ihren Kopf in beide Hände und massierte sich die Schläfen. „Scheißkopfschmerzen!“ Sie roch aufdringlich nach dem Haarshampoon, das er vor Wochen noch benutzte. Sport stand als Duftnote auf der silbergrauen Plastikflasche. Inzwischen wechselte er zur Duftnote Klassik in schwarzen Flaschen.
Die kleine Rothaarige stieg noch einmal von ihrem Hocker, bestellte sich einen Milchkaffee, setzte sich an den Tisch zurück und sah ihn an. „Sie sehn aus, als wärn sie sehr allein.“
Nachdenklich schöpfte er mit dem Löffel Milchschaum aus der Tasse, während sie ihren Milchkaffee schlürfte, beim Schlucken leise schmatzte und zwischendurch immer wieder nervös an ihrem nicht sonderlich tief ausgeschnittenen grauen Angorapullover zupfte. „Leute, die sich um diese Zeit hier rumtreiben und nicht verreisen wollen, sind zumeist allein.“
„Das will ich sogar sein.“
Sie machte Anstalten, vom Hocker herabzusteigen.
Er bat sie zu bleiben, räusperte sich und trank einen Schluck Cappuccino. „Meine Heilpraktikerin sagt immer, Kopfschmerzen kommen von ungeweinten Tränen.“
Wortlos starrte sie eine Weile vor sich hin und sah ihn plötzlich wütend an. „Ich hasse Schweigen! Also, was is, wird das heute Abend was zwischen uns?“ Dabei schlug sie mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch.
„Was soll es denn werden?“
Sie legte ihre sorgfältig manikürte Hand auf seinen Arm und grinste. „Hab ne Art Vaterkomplex. Mag keine Milchbubis.“ Wieder begann sie sich die Schläfen zu massieren. „Angenommen, du wärst mein Vater….“
„Welcher Mann kann schon sicher sein, ob ich nicht irgendwo eine Tochter von ihm rum läuft. Damals gab es die Pille nicht. Und für Kondome war ich noch nie zu haben…!“
„Eveline heiß ich“. Sie rutschte näher und legte ihren Kopf an seinem Oberarm.
Als er von ihr abrückte, wäre sie beinahe von ihrem Hocker gefallen, kicherte und hob ihre Kaffeetasse. Sie war leer.
„Soll ich dir noch einen Milchkaffee ausgeben?“
Lächelnd ging sie zur Theke und tuschelte mit der Barfrau, die ihn verstohlen musterte.
Als sie zurückkam, stellte sie die volle Tasse auf den Tisch, blieb stehen und zeigte auf die Bardame. „Die hat dich hier noch nie gesehn!“
Werner grinste. „Als ich damals beim Bund war, habe ich auch Bardamen kennen gelernt. Allerdings nicht gerade in Kaffeebars. Doch das ist weit mehr Jahre her als du alt bist.“
Sie lachte, zog ihren Pullover am Hals zur Seite, entblößte ihre rechte Schulter, nahm seine Hand, legte sie darauf und hielt sie fest. „Ich wusste es. Du hast wunderbar warme Hände!“
Sie legte den Kopf an seine Hüfte und blieb regungslos stehen. Grinsend sah ihnen die Barfrau zu.
Als Eveline zu ihm aufsah, glitzerten ihre Augen feucht. „Gehen wir zu mir?“
Eigentlich hatte er nur ein kleines Zimmer mit einem breiten Bett erwartet. Aber Eveline bewohnte ein geräumiges Appartement mit Küche, Bad und einem kleinen Schlafzimmer mit einem schmalen Bett. Sie bot ihm den Platz auf dem einzigen Sessel an, brachte ihm einen Kognak, setzte sich auf ihre zweisitzige Couch, streifte ihre highheels ab, legte die kurzen Beine, die in hautengen Jeans steckten, hoch und lächelte ihn an.
Über der Couch hing das große Foto eines älteren grauhaarigen Mannes.
„Dein Derzeitiger?“ wollte Werner wissen.
Sie schüttelte den Kopf. „Hab das Foto gefunden und vergrößern lassen. Ich finde, du siehst ihm ähnlich.“
Sie lächelte. Musste plötzlich gähnen. Tränen traten aus ihren Augen. „Ich will ins Bett!“
Werner grinste. „Dann geh ich mich schon mal duschen!“
„Im Flur rechts!“ sagte sie knapp. „Kannst dirn Handtuch vom Regal nehmen.“
Werner nahm Shampoon aus der grauen Plastikflasche mit der Duftnote Sport, duschte lange und gründlich, nahm sich besonders viel Zeit dafür, seinen Penis zu reinigen, trocknete sich sorgfältig ab, zog Unterhose und T-Shirt wieder an und ging ins dunkle Wohnzimmer zurück. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Es brannte Licht dahinter. Leise klopfte er an, wartete, klopfte noch einmal. „Darf ich reinkommen?“
Eveline antwortete nicht. Vorsichtig schob er die Tür auf. Die Bettdecke war zurückgeschlagen. Auf dem großen roten Kopfkissen lag ein weißes Blatt Papier.
Mit einem breiten roten Filzstift hatte sie es in Druckbuchstaben geschrieben. „Ich bin wieder unterwegs und suche einen Vater“.
Und wenn sie, vom Friseur kommend, meinte, einen vollkommen neuen Haarschnitt zu präsentieren, der sich in der Regel kaum von der vorherigen unterschied, ließ er ein ziemlich begeistertes „Steht dir gut!“ vernehmen, da er ihre alte Frisur ohnehin für die beste hielt.
Das Gespräch zwischen ihnen war über all die Jahre dennoch nicht verstummt. Spätestens abends vor dem Einschlafen redeten sie immer noch darüber, was sie am Tage erlebten und was sie dabei fühlten.
In den letzten Wochen spürte Werner häufiger den Drang, mit sich allein sein zu wollen, versank mit Zeitung oder Buch im weichen Wohnzimmersessel, las nicht wirklich, da seine Gedanken auf der Suche nach Erkenntnissen über die Liebe abschweiften. Stets um kurze und knappe Einsichten bemüht, kam er zu dem Schluss, das Wichtigste im Leben sei die Liebe. Liebe könne nichts außer lieben. Und gäbe es überhaupt Göttliches, dann sie.
Kreuzworträtsel langweilten ihn. Dennoch löste er eines in der Zeitung, um die Wohnung zu verlassen und die Postkarte mit dem Lösungswort in den Briefkasten zu werfen. Einen Kleinwagen gab es zu gewinnen. Dann wäre er nicht mehr auf ihren gemeinsamen BMW angewiesen. Sie stritten häufig um ihn.
Unfrankiert steckte er die Karte in den gelben Kasten, schlenderte zur Bushaltestelle, und da gerade ein Bus kam, stieg er ein, fuhr zum Hauptbahnhof, durchsteifte ziellos die Bahnhofshalle, betrachtete desinteressiert Schaufenster-Auslagen, wich voran hastenden Reisenden aus, stieg zu den Bahnsteigen hinauf und wieder in die Halle hinunter, setzte sich schließlich in einer Kaffeebar an einen der hohen runden Tische, nachdem er sich zuvor bei einer tief dekolletierten Bardame einen Cappuccino geholt hatte.
Der kleine rote Zeiger der riesigen Uhr in der Bar hatte die Elf verlassen. Und während der große auf die Vier vorrückte, bohrte ihm plötzlich jemand einen spitzen Finger in den Rücken. „Ich mag nicht allein am Tisch sitzen!“ Erschrocken sah er sich um und in die dunklen, mit schwarzem Brauenstift umrandeten grünen Augen einer jungen Frau. Ihre kurzen tizianrot gefärbten Haare standen gleichmäßig von ihrem kleinen runden Kopf ab. Aus Sommersprossen besprengelten Wangen ragte eine spitze Nase hervor und die Lippen waren zum Kussmund geschminkt.
Seufzend kletterte sie auf den hohen Barhocker, nahm ihren Kopf in beide Hände und massierte sich die Schläfen. „Scheißkopfschmerzen!“ Sie roch aufdringlich nach dem Haarshampoon, das er vor Wochen noch benutzte. Sport stand als Duftnote auf der silbergrauen Plastikflasche. Inzwischen wechselte er zur Duftnote Klassik in schwarzen Flaschen.
Die kleine Rothaarige stieg noch einmal von ihrem Hocker, bestellte sich einen Milchkaffee, setzte sich an den Tisch zurück und sah ihn an. „Sie sehn aus, als wärn sie sehr allein.“
Nachdenklich schöpfte er mit dem Löffel Milchschaum aus der Tasse, während sie ihren Milchkaffee schlürfte, beim Schlucken leise schmatzte und zwischendurch immer wieder nervös an ihrem nicht sonderlich tief ausgeschnittenen grauen Angorapullover zupfte. „Leute, die sich um diese Zeit hier rumtreiben und nicht verreisen wollen, sind zumeist allein.“
„Das will ich sogar sein.“
Sie machte Anstalten, vom Hocker herabzusteigen.
Er bat sie zu bleiben, räusperte sich und trank einen Schluck Cappuccino. „Meine Heilpraktikerin sagt immer, Kopfschmerzen kommen von ungeweinten Tränen.“
Wortlos starrte sie eine Weile vor sich hin und sah ihn plötzlich wütend an. „Ich hasse Schweigen! Also, was is, wird das heute Abend was zwischen uns?“ Dabei schlug sie mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch.
„Was soll es denn werden?“
Sie legte ihre sorgfältig manikürte Hand auf seinen Arm und grinste. „Hab ne Art Vaterkomplex. Mag keine Milchbubis.“ Wieder begann sie sich die Schläfen zu massieren. „Angenommen, du wärst mein Vater….“
„Welcher Mann kann schon sicher sein, ob ich nicht irgendwo eine Tochter von ihm rum läuft. Damals gab es die Pille nicht. Und für Kondome war ich noch nie zu haben…!“
„Eveline heiß ich“. Sie rutschte näher und legte ihren Kopf an seinem Oberarm.
Als er von ihr abrückte, wäre sie beinahe von ihrem Hocker gefallen, kicherte und hob ihre Kaffeetasse. Sie war leer.
„Soll ich dir noch einen Milchkaffee ausgeben?“
Lächelnd ging sie zur Theke und tuschelte mit der Barfrau, die ihn verstohlen musterte.
Als sie zurückkam, stellte sie die volle Tasse auf den Tisch, blieb stehen und zeigte auf die Bardame. „Die hat dich hier noch nie gesehn!“
Werner grinste. „Als ich damals beim Bund war, habe ich auch Bardamen kennen gelernt. Allerdings nicht gerade in Kaffeebars. Doch das ist weit mehr Jahre her als du alt bist.“
Sie lachte, zog ihren Pullover am Hals zur Seite, entblößte ihre rechte Schulter, nahm seine Hand, legte sie darauf und hielt sie fest. „Ich wusste es. Du hast wunderbar warme Hände!“
Sie legte den Kopf an seine Hüfte und blieb regungslos stehen. Grinsend sah ihnen die Barfrau zu.
Als Eveline zu ihm aufsah, glitzerten ihre Augen feucht. „Gehen wir zu mir?“
Eigentlich hatte er nur ein kleines Zimmer mit einem breiten Bett erwartet. Aber Eveline bewohnte ein geräumiges Appartement mit Küche, Bad und einem kleinen Schlafzimmer mit einem schmalen Bett. Sie bot ihm den Platz auf dem einzigen Sessel an, brachte ihm einen Kognak, setzte sich auf ihre zweisitzige Couch, streifte ihre highheels ab, legte die kurzen Beine, die in hautengen Jeans steckten, hoch und lächelte ihn an.
Über der Couch hing das große Foto eines älteren grauhaarigen Mannes.
„Dein Derzeitiger?“ wollte Werner wissen.
Sie schüttelte den Kopf. „Hab das Foto gefunden und vergrößern lassen. Ich finde, du siehst ihm ähnlich.“
Sie lächelte. Musste plötzlich gähnen. Tränen traten aus ihren Augen. „Ich will ins Bett!“
Werner grinste. „Dann geh ich mich schon mal duschen!“
„Im Flur rechts!“ sagte sie knapp. „Kannst dirn Handtuch vom Regal nehmen.“
Werner nahm Shampoon aus der grauen Plastikflasche mit der Duftnote Sport, duschte lange und gründlich, nahm sich besonders viel Zeit dafür, seinen Penis zu reinigen, trocknete sich sorgfältig ab, zog Unterhose und T-Shirt wieder an und ging ins dunkle Wohnzimmer zurück. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Es brannte Licht dahinter. Leise klopfte er an, wartete, klopfte noch einmal. „Darf ich reinkommen?“
Eveline antwortete nicht. Vorsichtig schob er die Tür auf. Die Bettdecke war zurückgeschlagen. Auf dem großen roten Kopfkissen lag ein weißes Blatt Papier.
Mit einem breiten roten Filzstift hatte sie es in Druckbuchstaben geschrieben. „Ich bin wieder unterwegs und suche einen Vater“.