Wer war Tante Erna T.?

A

aligaga

Gast
Hier möchte der böhse @ali dem guhten @Mistralgitter mal beipflichten!

Korrekt bezeichnete man einen solchen Text als "Erinnerung", und es sollte der AutorIn völlig unbenommen sein, in welcher Schublade sie die hier ablegt - Erzählungen, Kurzgeschichten, Kurzprosa: Alles möglich und erlaubt. Ein klassischer Tagebucheintrag ist "es" am allerwenigsten.

Witzig die Behauptung des eifrigen Verschiebebahnhofsvorstehers:
Ich meine, deine Erinnerung an eine alte Frau, die dem Leser allerdings komplett fremd bleibt, ist in der Rubrik "Tagebuch" wesentlich besser aufgehoben.
Wie einem eine Omi komplett fremd bleiben kann, obwohl sie doch genau beschrieben wird (was für eine Stimme sie hat, was sie trägt, was sie kocht, wie sie sich in ihrer Einsamkeit arrangiert, welche Grundsätze sie hat und dass ihr der Adolf mal die Hand geküsste haben soll, sie diese dann eine Woche lang nicht abgewaschen habe, wie sie verschämt gesteht) - bezeichnender geht's kaum. Sehr schön der latente Ekel des lyrischen Ichs vor den Ess-, den Lebensgewohnheiten und den Lebensumständen der alten Dame.

Dass der übliche Verdächtige mit seinen Hülsenfrüchterln angehoppelt kommt und von einer Erbsenzählmaschine faselt, an der er baue, spielt keine Rolle - wenn ein Stückerl wie dieses (um die Zeit des Volkstrauertages) hilft, das Bedauern darüber erkennen zu lassen, dass uns demnächst die Zeitzeugen für die NS-Zeit ausgehen, macht es Sinn.

Nachdenklich sein ist so ziemlich das Sinnvollste, was man mit seiner Zeit anfangen kann, ne?

Heiter immer, immer weiter

aligaga
 

Mistralgitter

Mitglied
Füllwörter

Hallo Frank natürlich kann man sehr puristisch schreiben, kann sich auf wesentliche, aussagekräftige Worte beschränken. In manchen Fällen (vielen?) ist das durchaus angebracht. Ob es immer die richtige Option ist, wage ich zu bezweifeln.
Ich habe über das "völlig unbekannt" nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen
1. es entspricht meiner Sprechweise. Dieser Text ist eher einem einfachen Erzählstil zuzuordnen als einem hochgradig durchkomponierten Opus, bei dem es auf jedes einzelne Wort ankommt, das ausgezeichnet sitzen muss.
2. das "völlig" bedeutet eine Betonung des folgenden Wortes "unbekannt", keine Steigerung, die ja unsinnig ist.
Damit wird das Unbekanntsein nur unterstrichen und geht nicht unter. Aber sooooooo wesentlich ist dieser Sachverhalt doch aufs Ganze gesehen nicht - oder?
Danke für den link!
 

Mistralgitter

Mitglied
Wenn dir etwas gelungen ist an diesem Sonntag, ali, dann das:
Dass du mich "völlig" ( ;-) s.o.) und restlos und über alle Maßen ...
.
.
.
.
.
überrascht hast.
Damit hätte ich nun am allerwenigsten gerechnet, dass du zu irgendeinem meiner Texte etwas so Nettes schreiben könntest! Ich danke dir für deine Schützenhilfe und nehme es ganz unvoreingenommen als freundliche Geste von dir an.
Der Die Das Mistralgitte r ;-)
 

Mistralgitter

Mitglied
Sie war mir völlig unbekannt bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie auf Anweisung meiner Mutter ein einziges Mal am Bodensee besuchte. Man solle Familienbande pflegen, war die Devise meiner Mutter. Also meldete ich mich eines Tages vor über 40 Jahren bei Tante Erna an und wurde zum Mittagessen eingeladen.

Tante Erna wohnte allein in einem kleinen Häuschen mitten in einem verwunschenen Garten. Die Haustür stand offen, von drinnen rief sie mir mit dunkler, resoluter Stimme entgegen, ich solle ruhig hereinkommen. Sie hatte mich wohl kommen sehen. Ich fand sie in der Küche, eine große aufrechte Frau in schwarzem Kleid und weißem Spitzenkragen. Nachträglich schätze ich, dass sie damals fast 90 Jahre alt gewesen sein musste. Sie hatte eine Schürze umgebunden und stand vor dem Herd. Aus einer geöffneten Konserven-Dose ließ sie eine Pilzmischung in einen Topf hinausschlüpfen.

„Du magst doch Pilze? Das Haltbarkeitsdatum ist zwar abgelaufen, aber ich esse solche Sachen trotzdem immer. Man darf nichts umkommen lassen.“
Pilze mochte ich zwar, diese jedoch sahen so schleimig aus, dass mir der Appetit verging. Ich fürchtete mich jedenfalls davor. In meinen Augen war mit ziemlicher Sicherheit der "Tod im Topf". Eine alte Konservendose mit ebenso altem Inhalt – ich war mir nicht sicher, ob ich diese Dosenpilze unbeschadet würde essen können.
„Ja“, antwortete ich trotzdem höflich und tapfer.

Tante Erna öffnete einen Küchenschrank, nahm zwei Teller heraus und gab sie mir.
„Das sind Ella und Marlies.“
„Und die Kaffeekanne hier heißt Sophie, wie meine Mutter. Und dort unten stehen noch Margarethe und Friedrich und Karl, die Schüsseln.“
Sie lächelte, als sie meinen erstaunten Blick sah.
„Du musst wissen“, erklärte sie. „Ich lebe hier völlig vereinsamt und rede deshalb mit meinem Geschirr. Verrückt, nicht wahr? Aber bevor ich völlig verstumme oder verblöde…“

Tante Erna hatte sich offensichtlich in einer anderen Welt eingerichtet. Damals sagte ich nur die Worte „ich verstehe“, heute verstehe ich sie.

Ich deckte den Tisch nebenan im Esszimmer, das sich an die Küche anschloss.
„In der Tischschublade liegt übrigens das Besteck“, rief Tante Erna mir aus der Küche zu.
Es fanden sich für das heutige Empfinden ungewöhnlich große Silbergabeln, -löffel und -messer darin. Solches Besteck kannte ich auch von meinen Großeltern. Ich mochte es.
Tante Erna trug das Essen auf und wir setzten uns.
„Schön hast du es hier“, sagte ich anerkennend. „Mitten im Garten zu leben, das gefällt mir. Und dann die Kerze und die Blumen auf dem Tisch mit der weißen Tischdecke. Sehr festlich!“
„Machst du das nie?“, wollte sie wissen. „Ich decke mir jeden Tag den Tisch mit frischen Blumen, einer Kerze und weißer Tischdecke. Das gehört sich so.“
„Für mich allein mache ich es nicht, aber wenn Besuch kommt, dann schon“, antwortete ich.

Plötzlich flatterten ein Spatz und noch ein zweiter und dazu noch eine Amsel durchs offene Fenster herein. Sie wollten sich frech auf den Tisch setzen. Tante Erna verjagte sie mit ihrer Stoffserviette.
„Heute gibt’s hier nichts“, schalt sie die Vögel. „Heute habe ich schon Besuch. Ihr könnt morgen wiederkommen.“ Sie schloss das Fenster.

Jetzt sah ich auch, dass die Stühle, der Boden und andere Möbelstücke mit Vogelhinterlassenschaften bekleckert waren. Mir wurde leicht übel.
„Sie sind meine Hausgenossen und Freunde. Das waren Fritz, August und Wilhelm. Die leisten mir immer Gesellschaft.“
Eine sonderbare Gesellschaft, fand ich.

Wie sie von Mecklenburg hierher an den Bodensee gekommen war und ob ihr Mann mit dem berühmten Goethe-Maler verwandt sei, wollte ich wissen.
„Weitläufig“, antwortete sie, ging aber nicht näher darauf ein. Stattdessen erzählte sie unvermittelt etwas anderes.
„Stell dir vor, eines Tages begegnete ich Adolf Hitler. Und er gab mir einen Handkuss.“
Diese Eröffnung war mir unangenehm. Was sollte ich darauf antworten? Ratlos schwieg ich. Keinesfalls wollte ich etwas Verletzendes oder Kritisches sagen – das stand mir bei einem ersten Besuch nicht zu, fand ich.
„Ich habe mir dann eine Woche lang die rechte Hand nicht gewaschen.“ Sie lächelte verschämt.
„Ich dachte ja damals, dass er etwas für Deutschland tun könnte, und war stolz. Aber das änderte sich zusehends. Was man nicht alles so erlebt in einem langen Dasein…“ –

„Das mit dem Handkuss stimmt doch gar nicht“, protestierte meine Tochter, der ich die Geschichte erzählte. „Das war doch unsere Bekannte aus K., die von Hitler den Handkuss bekam.“ –

Ich bin inzwischen in einem Alter, in dem man durchaus etwas verwechseln kann. Auch wäre es ein entlastender Gedanke, wenn Hitler meiner Tante Erna k e i n e n Handkuss gegeben hätte. Wenn sie ihm aber doch begegnet ist? Wenn sie oder ihr Mann womöglich eine „Nazi-Vergangenheit“ hatten? Ich kann sie nicht mehr fragen. Und die noch lebenden „Alten" aus der Familie erzählen zwar von ihren damaligen Erlebnissen, haben aber anscheinend gelernt, über ihre Einstellung zu dem Ganzen zu schweigen.
„Es war eine andere Zeit“, antwortete meine Mutter immer, wenn ich bei ihr nachfragte.-

Ich bedaure heute, dass ich Tante Ernas Spur verloren habe. Nur diese merkwürdigen Erinnerungsfetzen aus diesem einzigen Besuch sind geblieben.
 



 
Oben Unten