Friedrichshainerin
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Die Nachricht war ein Donnerschlag. „Alles abgeblasen“, sagt mir Don Pepino am Telefon. „Ich hätte dich schon eher informiert, doch ich musste das erst mal verarbeiten. Drei Tage habe ich flach gelegen", erzählte er, der schon seit ein paar Jahren gesundheitliche Probleme hatte, mir. Was war geschehen? Jemandem, der im Verein was zu sagen hatte, gefielen seine Texte nicht.
Don Pepino schreibt in einem Pop-Art-Stil, der nicht jedermanns Sache ist. "Meine Freundin hat mir schon geraten, ich soll meiner Phantasie Zügel anlegen", sagte er. Ich fand, dass meine Beiträge, von denen ich selbst einige als ein bisschen hausbacken bezeichnen würde - soviel Selbstkritik muss sein - und seine, die in einer experimentellen, fast dadaistischen Schreibweise verfasst wurden, ein gutes Gespann bildeten.
Das sahen nicht alle so. Man forderte ihn auf, Änderungen vorzunehmen. „Das hätte meinen Text zerstört“, sagte er mir. Außerdem gefiel ihnen „Mein Herz brennt“ nicht, und er sollte ihn, der in seinen Augen der wertvollste Text war, unter den Tisch fallen lassen. Darauf wollte er sich nicht einlassen. Er gab die Leitung ab, und der Schreibblog war Geschichte.
Nicht mein Lieblingsgetränk hat Pate gestanden, als ich hier nach einer passenden Überschrift suchte, sondern der erste Bürgermeister von Groß-Berlin hieß so. Ein Name, der haften bleibt.
Viele wissen nicht, dass manche der Bezirke erst seit 1920 zur Stadt gehören. Ich ahnte vorher gar nichts davon, dass Charlottenburg einmal nicht auf Berliner Gebiet lag.
Das Projekt, bei dem ich vor einiger Zeit mitmischte, nannte sich „Hundert Jahre Groß-Berlin“. „Oh Gott, dass ist ja auch schon wieder fünf Jahre her“, geht mir gerade durch den Kopf. "Mensch, wie die Zeit vergeht".
Unserem Chef, ein Künstlertyp, der sich Don Pepino nannte, kam die Idee einen Schreibblog ins Leben zu rufen. Er, der ebenfalls schriftstellerte, wollte auch drei Storys beisteuern. Er war übrigens der einzige echte Berliner bei uns im Team.
Jeder, der schon etwas in der Schublade zu liegen hatte oder auch Neulinge auf dem Gebiet, sollten den Mut zusammennehmen und die Produkte ihrer schöpferischen Mühen einsenden. Der Haken war, dass die Geschichten in Friedrichshain-Kreuzberg spielen mussten, da wir hier stationiert waren und vom Bezirk gefördert wurden.
Ich verfasste eine Vorrede für den Blog. Sie gefiel aber Don Pepino nicht. Dafür kann man sie hier nachlesen.
Natürlich steht es felsenfest fest, dass jeder, der in Berlin im Literaturbetrieb irgendwie ein Bein auf den Boden kriegen will, darauf angewiesen ist, bei unserm Blog mitzumachen. Es hat sich schon rumgesprochen, dass am 100 Jahre Berlin Blog vom ... kein Weg vorbeiführt. Wir fischen die Straßen dieser Stadt mit dem Schleppnetz nach unentdeckten Talenten ab, und niemand entkommt uns. Wer auch nur irgendwie den kahlen Baum vor seinem Fenster gefällig beschreiben kann, melde sich bei uns. Garcia Marquez, Hesse und Karl May sollen sich warm anziehen, jetzt kommen wir.
Leute schreibt Geschichten für unseren Block. Sonst gefährdet ihr den Erfolg der Resozialisierung von unserem Chef Don Pepino, der gerade nachdem er eine empfindliche Haftstrafe wegen Erschleichung von Beförderungsleistungen abgesessen hat - in Wirklichkeit ist er noch mal mit einem blauen Auge davongekommen -, wieder in die Freiheit entlassen worden ist.
Das Verhängnis fing an, als er sich auf Filzsohlen, leise wie eine Katze, in einen grauen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Mantelkragen gehüllt, ohne Ticket in eine Straßenbahn schlich und hoffte übersehen zu werden.
Da hatte er aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. An der nächsten Haltestelle stieg der Kontrolleur zu und erkannte mit geübtem Menschenkennerblick seinen Pappenheimer.
Don Pepino wurde in Handschellen aus der Straßenbahn gebracht und einem Schnellrichter zugeführt. Von der standrechtlichen Erschießung, die ich für angemessener gehalten hätte, sah man aber ab und transportierte ihn stattdessen in ein Gefängnis, weit weg von Berlin, im tiefsten Westdeutschland.
Hier war er auf Zelle mit Willy, dem Frauenmörder. Vor 50 Jahren hatte Willy mal fast alle rothaarigen Frauen im Umkreis von 10 Meilen gekillt und alles nur, weil seine rothaarige Schwester ihm immer früher die Weihnachtssüßigkeiten weggegessen hatte. Don Pepino wurde einer Arbeitskolone zugeteilt, die mit der Spitzhacke im Steinbruch Steine klopfte. Übrigens, die historischen Pflastersteine auf dem Marktplatz in einem Städtchen in der Pfalz, über den früher eine stark befahrene Schnellstraße führte, die aber nach einem Volksentscheid wieder denaturiert wurde, sind von ihm.
Seine besten Kumpels bzw. Spanner wurden der grimmige Achmed, der ein herzensguter Mensch sein konnte, außer wenn er seine Momente hatte, und die hatte er meistens, Nikolai, der Russe, Joe, genannt der Dicke Joe, der ein paar Mädels am Laufen hatte und ein schweigsamer Kroate namens Dragan.
Das Verhängnis wollte es, das sich ein Ex DDR Bürger, ein ehemaliger Schulküchenleiter, mit List und Tücke die Stelle des Knastkochs erschlichen hatte. Doppelbödigkeit und ein Talent zur Schmeichlei hafteten ihm noch aus seiner Zeit als Führungsoffizier an.
In seiner Kochkunst machte er da weiter, wo er in der DDR aufgehört hatte. Das heißt es gab immer abwechselnd Lugenhaschee und Saure Nierchen. Der Dicke Joe nahm in 6 Wochen 28 Kilo ab und verdiente seinen Beinamen nicht mehr. Alle beneideten Don Pepino , dem die Kost nichts ausmachte.
Er war aus seiner Zeit in der Schulküche, der Werkskantine und der NVA, wo ihm die Geschmacksnerven kräftig abgestumpft wurden, Schlimmeres gewöhnt. Neidisch beobachtete Joe, der jetzt nicht mehr der Dicke hieß, als sie gerade bei einem Teller durchgedrehtem Gekröse in der Knastkantine saßen, wie Don Pepino, ein Schweinsauge, das ihm vom Löffel geflutscht war, seelenruhig im zweiten Anlauf in seinen Mund beförderte und ohne Anzeichen von Ekel durchkaute. Das hätte ein verwöhnter Wessi nicht drauf gehabt.
Der Don erzählt heute noch mit leuchtenden Augen von den Brotweinpartys im Knast, wobei ja ein besonderer Geschmackseffekt entstehen soll, wenn der Scheuerlappen, der als Tarnung über dem Brotweineimer liegt, in den Wein fällt.
Während der letzten Monate, die er absitzen musste, hat Don Pepino die Knastbibliothek unter sich gehabt. Ihm gelang es doch tatsächlich, Achmed, Nikolai, Dragan und den nichtmehrdicken Joe in Leseratten zu verwandeln.
Heute zieren Gesamtausgaben von Kafka, Dostjewski, Garcia Marquez und Thomas Mann in türkisch, russisch und kroatisch die Wohnwände seiner Kumpels. Achmed streitet sich mit Fatima, der Lieblingsfrau unter seinen drei Frauen darüber, ob „Die Dämonen“ oder „Der Idiot“ als das größte Werk von Dostojewski anzusehen sind. Fatima, die selber eine schwere Kindheit hatte, ist für den „Idioten“, weil ihr das traurige Schicksal von Nastasja Fillipowa nahegeht.
Die Mädchen von Joe, der jetzt wieder der Dicke Joe heißt, lesen außerhalb der Stoßzeiten „Sitte und Sexus der Frau“ von Simone de Beauvoir. Das könnte dem Dicken Joe aber auf die Füße fallen, denn Emanzipation und Prostitution das beißt sich bekanntlich. Es kann sein, dass er dann wieder in seinen alten Beruf als Gas-, Wassermonteur einsteigen muss. Aber wir wollen uns hier nicht den Kopf über anderer Leuts ungelegte Eier zerbrechen.
Ein anderes Problem besteht für den Don darin, dass sich Willy, dessen Haftbedingungen wegen seines Alters gelockert worden sind, auf Besuch in Berlin angekündigt hat. Bis jetzt konnte Don Pepino das noch abwenden, aber Willy bleibt hartnäckig. Das Problem ist nämlich, dass von Dons 8 Töchtern, aus 6 Beziehungen, drei rothaarig sind. Außerdem haben seine Freundin und seine Nachbarin auch rote Haare. Also Leute ihr seht schon, dem Mann muss geholfen werden. Wenn ihr keine Storys einsendet, fällt er wieder in sein altes Milieu zurück und nimmt schlimme Drogen und unterhält sich in der Straßenbahn wieder mit Magda Goebels und schwarzen Katern, und die Resozialisierungsmaßnahme ist gescheitert.
PS Übrigens mit zwei Schließern von damals ist Don Pepino noch in sehr engem Briefkontakt.
Ich ließ mich zu diesem Text von einem Video mit Helge Schneider inspirieren, zu dem mir Don Pepino einen Link geschickt hatte. Merkwürdigerweise war er not amused über das, was ich geschrieben hatte.
„Ich habe gar keine Kinder. Und im Knast war ich auch noch nie. Ich nehme auch keine Drogen. Seit ein paar Jahren trinke ich noch nicht mal mehr Alkohol. Außerdem bin ich ein Gourmet und Meisterkoch, was alle meine Freunde bestätigen werden“, sagte er. „Schweineaugen kämen mir nicht auf den Teller.“ Ich war erstaunt, denn ich dachte, er verstünde Spaß. Erst hat er mich mit dem Helge Schneider-Link auf Ideen gebracht, und wenn ich dann in den Fußstapfen des Meisters unterwegs bin, passt ihm das nicht.
So wurde auf der Webseite des Vereins ein Aufruf veröffentlicht, den er selber verfasst hatte.
Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Typen, die so offen und vorurteilsfrei waren, wie er sich gab, existierten gar nicht. Die Meisten taten immer nur so. Ich glaub auch gar nicht, dass er mich wirklich akzeptierte. Ich dachte zuerst, dass er so was ähnliches wie ein Lektor für mich sein könnte und mir seine ehrliche Meinung über die Texte sagt. Das wollte er wohl gar nicht. Vielleicht sah er in mir Konkurrenz.
Ich glaub, ich war in seinen Augen nur ein naives Dummchen, das in einem holperigen Stil schrieb.
Bald trudelten die ersten Einsendungen ein. Von einem Beitrag über das Gefängnis in Rummelsburg war der Don gar nicht so begeistert. „Sie denkt wohl, was mit Nazis geht immer“, mokierte er sich über die Verfasserin. „Na ja, wenn wir zu wenig Beiträge haben, nehmen wir sie auch noch mit auf. Und außerdem haben wir das Problem, dass das Gebäude sich schon in Lichtenberg befindet.“ Ich gebe zu bedenken, dass es bis zur Stadtteilgrenze nicht weit ist.
Eine Britta F. schrieb:
Wir Weihnachtshexen
Kurz vor Weihnachten 2019 war ich mal abends mit dem Fahrrad in dem neugeschaffenen Wohngebiet auf der Lichtenberger Seite des Rummelsburger Sees unterwegs. Ich kurvte auf dem Gebiet des ehemaligen Gefängnisses, dass jetzt ein Wohnviertel ist und zwischen den neuen Reihenhäusern herum. Keine Seele war mehr unterwegs, nur ab und zu hielt ein Auto. Ich genoß die Stimmung kurz vor Weihnachten und die vielen geschmückten Fenster und Tannenbäume in den Vorgärten.
Im Grunde genommen gefiel mir wohl die gutbürgerliche Atmosphäre, die diese Gegend ausstrahlt, wo die Mieten nicht billig sind. Warum reißt mein Freund sich nicht ein bißchen zusammen, dann könnten wir uns hier vielleicht auch eine Wohnung suchen, ging es mir durch den Kopf.
Es war beim Medaillonplatz.
Dort hatten im Sommer noch junge Familien gefeiert, und ein kleiner Junge hatte mir zutraulich einen großen Ball zugeworfen. Die Erwachsenen sahen alle irgendwie angestrengt aus. Jetzt in der Nacht und kurz vor Weihnachten war hier alles total verlassen. Da bemerkte ich, dass ich nicht alleine war.
Aus großen traurigen Augen blickte mich eine dunkelhaarige Frau an. Sie wirkte wie jemand, der an gar nichts mehr glaubt. Die Rede ist von einem Foto, dass sich auf einer der Stelen befand. Die Stelen dienen dem Gedenken an die Opfer des Assiparagraphen, die während der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der Nazizeit und in der DDR im Rummelsburger Arbeitshaus eingesperrt waren. Einige davon fielen auch der Euthanasie zum Opfer. Der gesunde Volkskörper sollte von ihnen befreit werden.
Wir beiden Frauen standen uns zu dieser späten Stunde auf diesem verlassenen Platz Auge in Auge gegenüber, und mir fiel auf, dass die abgebildete Frau mir nicht unähnlich sah. Dich konnten sie also auch nicht leiden. Hallelujah Schwester. Auf dem Text unter dem Foto war zu lesen, dass sie wohl Probleme mit Männern, mit Geld und mit Alkohol hatte. Also das Übliche, was vielen gar nicht so fremd vorkommt.
Ihr und den Frauen auf den Stelen nebenan, war es wohl nicht gelungen, einen soliden Berliner Handwerksburschen zum Traualtar zu führen und eine bürgerliche Familie zu gründen.
Es waren Außenseiterinnen, die von der Gesellschaft nicht gemocht worden sind, weil sie dem Bild, wie eine Frau zu sein hat, so gar nicht entsprachen. So wurden sie zwar nicht mehr öffentlich als Hexe verbrannt, sondern eingeknastet, was oft auf das gleiche hinauslief.
Übrigens einem Freund von mir, der während der DDR Zeit wegen 500 Mark Staatsschulden - Schwarzfahren mit der Reichsbahn - in Verbindung mit keinem festen Arbeitsplatz ein Jahr in Rummelsburg inhaftiert war, fiel bei einer ABM Maßnahme die Aufgabe zu, seinen eigenen Knast abzureißen.
Zu der nächsten Einsendung sagt Don Pepino, der seit vielen Jahren im Prenzlauer Berg wohnt: „Den Dichter, um den es hier geht, kenne ich persönlich seit tiefsten Ostzeiten von illegalen Lesungen her. Der Beitrag dreht sich nur um den Prenzlauer Berg, und kommt deshalb eigentlich nicht für unseren Blog in Frage, aber da ich diesen Stadtteil als meine Heimat betrachte, mache ich mal eine Ausnahme und nehme ihn mit auf.“
Zu viel Temperament
Eine Freundin schickt mir eine Mail. „Kanntest du ...?* Er ist vor kurzem verstorben. Du bist doch aus dem Osten?“
Ich war vierzehn, als sie in der DDR mal eine Zeitschrift für junge Literatur herausgaben namens „Temperamente“. Daher kam mir der Name, der sehr auffällig ist, bekannt vor. Von ihm waren in jeder Ausgabe Beiträge. Wenn ich, die in einem Dorf in Mecklenburg aufgewachsen ist - gleich in der Nähe von seiner Heimatstadt - in die Kreisstadt fahren musste, ging ich zum Zeitungskiosk und kaufte die neueste Ausgabe.
Damals, mit vierzehn, fünfzehn, fand ich seine avantgardistischen Gedichte langweilig und hätte gern mehr Prosa in der Zeitung gelesen. Nicht, dass man jetzt die Vorstellung hat, dort wären irgendwelche aufmüpfigen Sachen abgedruckt gewesen. Alles war superbrav und langweilig. Es wurde wohl streng zensiert.
Unser sozialistischer Alltag, der ein bisschen grau und kahl war – ist das jetzt im Westen besser -, durfte nicht so abgebildet werden, wie er war. Das hätte dem Klassenfeind in die Hände gespielt. In den Büchern bei uns heirateten immer der Brigadier und die Parteisekretärin, und jeder machte Neuerervorschläge, wie man die Effizienz seiner Maschine noch verbessern konnte. Jeder, der halbwegs das Leben kannte, las den Quatsch mit Einsetzen des Erwachsenenalters nicht mehr.
Aber vielleicht waren ja auch in Wirklichkeit keine besseren Storys vorhanden. Ein paar sind mir trotz der vielen Jahre, die vergangen sind seitdem, noch im Gedächtnis hängen geblieben.
Zwei gute Kumpels, die auf Montage sind, wollen zusammen in ihrer Arbeiterunterkunft Weihnachten feiern. Dazu kaufen sie sich je einen halben Broiler und einen Kasten Bier.
Jemand wird von seiner Nachbarin gebeten, auf einen älteren Herrn, der unter ihr wohnt, zu achten. Er hatte einen Herzanfall, und sie muss zur Telefonzelle laufen. Keiner hatte seinen eigenen Apparat bei uns.
Natürlich kann er ihr die Bitte nicht abschlagen, auch wenn er in Eile ist. Er sitzt auf seinem gepackten Rucksack und will unbedingt den Zug, der ihn nach Rumänien bringen soll, erreichen. In seiner Gegenwart geht es mit dem Mann zu Ende.
Die Nachbarin kommt wieder und sagt, dass bald Hilfe eintrifft, und er kann endlich zum Bahnhof eilen. Erst als er im Zug sitzt, wird ihm klar, dass gerade in seiner Gegenwart ein Mensch gestorben ist, und dass ihm das völlig egal war. Das fand ich stark.
Oder das mit der Schwiegermutter, der die völlig unfähige Freundin, die ihr Sohn mit nach Hause gebracht hat - sie kann eigentlich gar nichts im Haushalt, nicht mal im Bett klappt es bei den Beiden - leid tut, und die ihr helfen will, weil sie sich Sorgen macht, dass ihr Sohn sich bald was anderes sucht. Dann würde ihre Schwiegertochter, die niemanden weiter hat, allein dastehen in der Welt.
Das letzte, woran ich mich noch erinnern kann, ist ein Bericht über eine Tournee der Engerling-Blues-Band. Sie schleppten damals doch tatsächlich ihr Equipment zur Autobahn und trampten zu den Konzerten, die meist in Dörfern von privaten Kneipenwirten veranstaltet wurden. Bei ihrem Fernsehauftritt weigerten sie sich zu playbacken und drohten damit zu gehen.
Mit einem Mal ging es doch mit dem Livespielen. Fand ich cool von Engerling, dass sie so fest geblieben waren. Daran muss ich immer denken, wenn ich sehe wie bei Shows im Fernsehen die Sänger den Mund auf- und zumachen, was alles steril wirken läßt.
Trotz der Harmlosigkeit des Abgedruckten bekamen die Verantwortlichen bald Angst vor ihrer eigenen Courage und stellten das Heft ein.
Der Dichter, von dem oben die Rede ist, gehörte der intellektuellen Prenzlauer Berg Szene an. Bei uns in der DDR herrschte immer eine gewisse Feinseligkeit zwischen den Bluesern, zu denen ich mich zählte und den Intellektuellen.
Die hielten sich meist Anderen überlegen. Wenn man spürt, dass einem Vorurteile entgegengebracht werden, entwickelt man auch Vorurteile.
In der Schönhauser Allee gab es zu DDR-Zeiten ein Lokal, das sich „Wiener Café“ nannte. Es war auch ein Stammcafé von Sascha Anderson, einem bekannten Stasispitzel aus der sogenannten Prenzlauer Berg Szene. Er hat alle an der Nase rumgeführt. Ein bisschen schadenfroh war ich ja schon, denn dort saßen die von sich eingenommensten Leute von der Welt rum, dachte ich zumindestens, bis ich in den Hausbesetzercafés die Autonomen kennengelernte. Dort galten die Punks als die Prolls, so wie früher im Osten wir Blueser.
Mir ist unbegreiflich, dass von unseren schriftstellerischen Talenten aus dem Osten, die vor dem Mauerfall natürlich kaum eine Möglichkeit hatten, etwas zu veröffentlichen, was nicht hundertprozentig auf der Linie der Parteiführung lag - Druckgenehmigungsbehörde hieß das Hindernis -, komischerweise wenig kam, als ihnen alles offenstand.
So mancher hatte in der Prenzlauer Berg Szene den Ruf, der zukünftige Salinger der DDR zu sein, wenn man ihn denn lassen würde, wobei ich aber ehrlicherweise eingestehen muss, dass ich davon niemand kenne und in diese Kreise nie reingehört habe.
Viele wurden wohl überschätzt, oder überschätzten sich selbst. Ich kann viel davon reden, wieviel Bücher ich schreibe, wenn man mich lässt, aber dann lässt man mich, und nichts kommt.
Auch die Bands, die sich „Die Anderen Bands“ nannten, lösten sich nach dem Fall der Mauer rasch auf. Ihr schöpferisches Potential war verpufft. Ausgerechnet jetzt, wo sie die Möglichkeit hatten aufzutreten, und Platten zu machen. Schade. Von ihnen hätte ich noch einiges erwartet. Ihre Musik war wohl nur ein Druckventil, um Dampf abzulassen, eine Funktion, die sich mit dem Systemwechsel erledigt hatte. Außerdem war die Hälfte sowieso IM.
Es gab aber ein Band, die sehr gut wurde, und die vor einiger Zeit in die Schlagzeilen geriet, weil man ihnen den Gebrauch von KO-Tropfen vorwarf. Mutige Frauen waren damit in die Öffentlichkeit gegangen. Anwälte bezichtigten sie zu lügen.
*Bert Papenfuß Gorek
„Was hältst du davon?“, fragte der Don mich und zeigte mir die nächste Einsendung. Der Text hieß „Risiko“ und beschäftigte sich mit dem gleichnamigen Szenelokal, das sich Anfang der Achtziger genau an der Grenze zwischen Kreuzberg und Schöneberg befand. Eigentlich interessierte er sich gar nicht dafür, was ich dachte und fragte nur aus Höflichkeit nach meiner Meinung. Ein Intellektueller wie er nahm mich sowieso nicht für voll.
Heute am 25.08.018 tanzen über 10000 Raver im Zug der Liebe durch die Stadt. Nächstes Jahr soll das aber wegen Geldmangel ausfallen.
Jemand behauptet großspurig von sich, dass ganze chinesische Volk zu sein
Fans wissen von wem die Rede ist.
Einstürzende Neubauten habe ich zum erstenmal 89 bei Punks im Prenzlauer Berg gehört. Man legte sich schlafen und die Musik wurde laut aufgedreht. Ich fragte die anderen, wer diese sehr, sehr ungewöhnliche, disharmonisch klingende Band ist. Alle staunten, dass ich die Neubauten nicht kannte.
Nach der Wende wollte ich die Gunst der Stunde nutzen und alles nachholen und besorgte mir in Kreuzberg Platten (war noch vor der CD Einführung), mit denen ich aber ehrlich gesagt nicht viel anfangen konnte.
Ein Kumpel, der Punk war, sah diese eines Tages bei mir und hörte sie begeistert stundenlang hoch und runter und sang die Texte auswendig mit. Er sagte von sich: „Ich bin Einstürzende Neubauten“.
Ein Dachgeschoß wird ausgebaut
Ein Kollege, der in den 80zigern im Risiko, wo Blixa Bargeld hinterm Tresen stand, verkehrte, aber nicht schreiben will, gab mir den Rat im Internet zu recherchieren. So begebe ich mich jetzt auf eine fiktive Reise in die Vergangenheit, die nicht meine war, garantiert drogenfrei und wofür ich mich noch nicht einmal selbst in die Yorkstraße bemühen muss, weil es das Risiko schon lange nicht mehr gibt. Es ist ja fast so, als ob ich über den 30 jährigen Krieg schreiben würde.
Frauenpower oder Powerlesben
Zuerst sah ich mir dazu die Dokumentation „B Movie – Westberlin in den 80zigern“ an.
Ich sehe das realistisch. Dem intellektuellen Männerbund im Risiko wäre ich als naive Landpomeranze wohl nicht gewachsen gewesen. Im besten Fall wäre ich vielleicht noch gutmütig belächelt worden .Ich mag Leute nicht, die anderen das Gefühl geben, total uninteressant zu sein. Hinter Hochnäsigkeit und Coolheit tarnt sich aber manchmal auch ein empfindliches, sensibles Künstlergemüt, bloß man darf sich nicht zu lange tarnen.
Einen Künstler macht ja auch aus, dass er sich die kindliche Fähigkeit zu Neugier und Staunen erhalten hat. Seine Tochter Valeska sagte einmal über ihren Vater den Schriftsteller Henry Miller, dass er interessiert und vorurteilsfrei jedem Menschen gegenüber war und sich mit Hinz und Kunz stundenlang in angeregte Gespräche verwickeln konnte. Der größte Feind des Menschen ist das Vorurteil (Hölderlin).
Und die Powerfrauen von der Blutigen Doris hätten mich sowieso nicht mitsingen lassen (Scherz, ich kann gar nicht singen, aber das behauptet man von Johnny Rotten, Bob Dylan und Monchi, dem Sänger von Feine Sahne Fischfilet ja auch).
Um ein Künstler zu sein, ist es wohl unabdingbar an vollkommener Selbstüberschätzung zu leiden, egal welche Kunst man betreibt.
Warum eigentlich sind bloß die meisten Frauen, die in der Musikszene was reißen, Lesben, meine Lieblinge Sleater Kinney leider auch. Was ist mit uns Heterofrauen. Ich glaube die Frau läßt da nur den Kerl in sich raus. Was da auf der Bühne rumspringt ist ihr männliches Ich.
Im coolen Outfit, mit coolem Gesichtsausdruck in einem Szenecafe rumstehn und sich innerlich zu Tode langweilen hat mich immer angekotzt, kenne ich aber zur Genüge und ebenfalls, seine Zeit damit zu verplempern am richtigen Ort, die richtigen Leute zu treffen.
Die Dokumentation über das Westberlin der 80ziger fand ich übrigens total langweilig und war eigentlich froh das der Film zu Ende war. Der Filmemacher hat, ähnlich wie Pamela des Bares in ihren Groupieerinnerungen (Light my fire), wohl zu viel verschwiegen. Man hat ständig das Gefühl, dass etwas weggelassen wurde und nicht das Uninteressanteste.
Manchmal kommt man nicht umhin, sich selbst zu entblößen. Manche Schriftsteller schreiben ja nur über sich selbst wie zum Beispiel Henry Miller (Wendekreis des Steinbocks).
Übrigens aproppos langweilig: eine Freundin hat schon dreimal vergeblich versucht den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders (hat auch im Risiko verkehrt) zu sehen, sie ist immer wieder dabei eingeschlafen. Ich hoffe, Euch geht es bei diesem Text nicht genauso.
Das Risiko war wohl so was ähnliches wie die Fabrik von Andy Warhol, ein Cocktailshaker, indem viele nach intellektuellen Reibungsflächen Suchenden durcheinandergeschüttelt wurden, so dass eine geniale Mixtur entstand. Was in Berlin Die Einstürzenden Neubauten waren, war für die Fabrik in New York Velvet Underground. Meine Lieblingsplatte ist übrigens die, wo der Mann mit den Strapsen auf der Innenseite vom Klappcover drauf ist.
Eine Parallele ist wohl auch der Drogenkonsum. Andy Warhol hat in seiner Fabrik so viele Leute an Drogen rangebracht, dass es vielen nicht leid getan hat, als er von Valerie Solanas (lesbische Feministin) über den Haufen geschossen wurde. Ähnlich sah es wohl auch im Risiko aus.
Der Chef Alex Kögler ist vor ein paar Jahren eines natürlichen Todes gestorben und nicht von der Tödlichen Doris über den Haufen geschossen worden.
Ich war übrigens 97 mal bei einem Konzert der Einstürzenden Neubauten in der Arena Treptow. Ich fand es so lala. So wie zu ihren wilden Zeiten wie bei einem Konzert in London, wo sie noch den Bühnenboden durchgesägt haben, waren sie lange nicht mehr drauf.
Die Desoxyribonukleinsäure unsere DNA
Apropos, weil Blixa da gerade unsere Erbsubstanz besingt, ich bin der Meinung, dass in den vierzigern in England ein Atommeiler explodiert ist (Scherz) und das vertuscht worden ist. Die daraus resultierenden genetischen Mutationen betrafen nur männliche Eizellen. Das Resultat waren sehr gut aussehende, hochmusikalische junge Männer.
Sie hießen unter anderem Eric Clapton, Keith Richards, John Lennon, Steve Miller, Joe Strummer und Nick Cave, der auch im Risiko verkehrte. Aber wo sind eigentlich die englischen Musikerinnen.
Die andere Seite der Medaille ist aber, dass die englischen Männer dafür alle ein bißchen verrückt sind (Scherz).
"Damals als wir Deutschen noch Musik gemacht haben."
wie die Musikjournalistin Annika Trost in der BZ einmal treffend formulierte.
An den Wessimusikern bewundere ich die Krautrocker aus den 70 zigern wie Can, Amon Düe, Tangerine Dream, Eloy. Den deutschen Musikern liegt wohl das unterkühlte. Eine logische Weiterentwicklung ist wohl Techno, wovon ich aber kein Freund bin.
Und was hat das alles nun mit dem „Risiko“ unter den Yorkbrücken zu tun, werden sich viele Eingeweihte, zu denen ich ja nicht gehöre, fragen.
Irgendwie nicht viel, aber auf der anderen Seite auch eine ganze Menge. Soll ich vielleicht etwas kritisches schreiben über ein künstlich geschaffenes Biotop von jungen Männern, die aus bildungsbürgerlichen Familien stammen und mit Hausmusik aufgewachsen sind, oder etwas über einen Haufen hochintelligenter, interessanter Leute, die sich das Hirn wegballern, weil sie nicht damit klarkommen, dass sie nicht genauso Oberpostdirektor wie ihr Vater geworden sind.
Aber diese abgefallenen Bürgersöhne haben verdammt gute Musik gemacht siehe Jaki Liebezeit, Edgar Froese, Blixa Bargeld usw.. Und das ewige Gejammer mit dem Drogenkonsum. Das scheint bei Musikern ja sowieso eine Berufskrankheit zu sein, wie eine Staublunge bei Bergarbeitern.
PS Die Titelzeile ist einem Song von den Einstürzenden Neubauten entnommen.
Ich antwortete Don Pepino: „Also mir gefällt der Text. Ich würde ihn auf unsere Website stellen. Er hatte dieselbe Meinung, hatte aber Bedenken, weil das „Risiko“ auf der entgegengesetzten Seite der Yorkbrücken und damit nicht mehr in Kreuzberg lag. Ein Kollege, der aus Kreuzberg war, setzte sich aber sehr dafür ein, dass die Geschichte über das Risiko veröffentlicht wird. „Ich kenne die Kneipe noch selber. Wie oft habe ich dort mit Blixa gesoffen. Vielleicht ist die Phantasie mit der Autorin ja manchmal ein bisschen durchgegangen. Ich würde den Text aber auf keinen Fall unter den Tisch fallen lassen.“
Nächste Einsendung.
Der Apfel – Unsere Stadt soll essbar sein
Da lag er nun so einfach so auf der Skalitzer Straße und schaute mich an. Er, riesig, gelb, rund und glänzend, ein Prachtexemplar von einem Bananenapfel, rief mir zu: „Heb mich auf, und beiß in mich rein.“
Mir, die ich auf dem Fahrrad zu meiner Arbeitsstelle am Südstern unterwegs war, war nicht ganz klar, ob ich es nötig hätte, Obst von der Straße aufzuheben. Ich war schon ein ganz schönes Stück weitergefahren, als es mir anfing, wegen dieser Verschwendung von Nahrungsmitteln leid zu tun. Also kehrte ich um und besah mir meinen Fund.
Inzwischen waren schon einige andere Fahrradfahrer achtlos an ihm vorbeigefahren, aber Gott sei Dank nicht über ihn rüber. Ich beschaute ihn mir genauer. Tatsächlich wies er keine Druckstellen auf. Er schien also aus keiner großen Fallhöhe gekommen zu sein.
Aber wie war er wohl verloren gegangen? Ich sah mich um, ob mich jemand dabei beobachtete. Dann bückte ich mich und hob den Apfel auf.
Hier in Friedrichshain Boxhagener Straße Ecke Neue Bahnhofstraße habe ich mal gesehen, wie ein Mann eine weggeworfene Birne von der Straße aufnahm und gierig hinein biss.
Ich steckte ihm ein bisschen Kleingeld zu für einen Döner. Aber wahrscheinlich ist es wohl eher für Zigaretten draufgegangen. Mitgefühl verspüren meist nur Leute, die aus eigener Erfahrung wissen, wie das ist.
Ich erinnere mich an einen Studentensommer vor vielen Jahren in der Großbäckerei in der Saarbrücker Straße. Einige Kommilitoninnen von mir warfen einfach während der Schicht aus Gag ein noch warmes Bauernbrot aus dem Fenster. Nach Feierabend war es verschwunden, und sie konnten sich nicht mehr einkriegen vor Lachen darüber, dass es tatsächlich Leute gibt, die Brot von der Straße aufheben.
Im Grunde waren sie nette Mädchen, aber noch nie mit Notsituationen konfrontiert worden. Uns ging es sogar mal so mäßig, dass ein Apfelbaum an der Rummelsburger Landstraße die Rettung in der Not für mich und ein paar Kumpels war.
Dasselbe war es mit einem Rosenkohlfeld in Lindenberg bei Weißensee. Das ist aber schon fast 30 Jahre her. Ich glaube momentan würde mir eine Apfel- und Rosenkohldiät eher guttun, aber es muss ja nicht unbedingt sein.
Aprikosenträume
Die Zweige des Aprikosenbaums hingen über die Mauer, die das Gelände des ehemaligen DDR-Rundfunks in der Nalepastraße, wo schon seit den Neunziger Jahren Stillstand herrschte, umgab. „Unser Baum“, tauften mein Freund und ich ihn. Vielleicht hat dort ein Redakteur vor langer Zeit mal einen Kern weggeworfen in der Pause.
Wer so einen Baum in der Nähe hat, weiß wie schön die Blüte ist.
Im ersten Jahr leuchtete nur eine einsame Frucht in den Zweigen, im Jahr darauf bogen sich die Äste unter der Last der vielen Aprikosen. An der Mauer lehnte eines Tages eine Holzleiter. Wir nahmen die Einladung an. Die süßesten Früchte, die ich je gegessen habe. Jedes Frühjahr freuten wir uns schon auf die Baumblüte.
Auf dem Gelände wurde gebuddelt. Wozu, dass wussten die Verantwortlichen vielleicht selber nicht. Die Arbeiten stagnieren schon seit ewigen Jahren, haben dieses Naturparadies aber in unwegsames Gelände verwandelt. Auf das Flecken Erde, wo sich der Baum befand, wurde achtlos Bauschutt gekippt. Der Aprikosentraum war zu Ende.
Dieser kurze Text gefiel Don Pepino nicht so gut wie der über das „Risiko“. „Das ist Sozialkitsch. Aber wenigstens spielt die Story in Kreuzberg auf der Skalizer. So bekommen wir keinen Ärger, dass wir den Stadtbezirk verlassen haben. Da legen die nämlich Wert drauf.
Die nächste eingesendete Story war wieder ein kürzere Geschichte, die sich mit der Kantine am Berghain beschäftigte und hieß
Coole Leute - Heiße Luft.
In der Zeitung stand: „Die Band hat bisher noch jeden Saal leergespielt“. Das machte mich neugierig. Ein Elektronikevent stand ins Haus Neben dem Großen, ein weltberühmter Technoschuppen, stand sein kleiner Bruder, ein einfacher Flachbau. In den „Großen“ hätten sie mich sowieso nicht reingelassen, weil ich nicht cool genug rüberkomme. Und eine gelbe Brille setze ich mir deswegen nicht auf. Deshalb wollte ich wenigstens mal in den „Kleinen“.
Erst mal ging es durch unwegsames Gelände. Diese Prärie hätte ich nicht am Ostbahnhof vermutet.
Zwei freundliche Transen, die dort den Einlass machten - im Berghain selbst war wohl am selben Tag ein Konzert in der Panoramabar - wiesen mich nach links, wo sich ziemlich versteckt die Kantine befand.
Die meisten Leute hielten sich vor dem Gebäude auf. Nachdem ich eingetreten war, wurde mir auch klar weshalb. Man prallte ja regelrecht gegen eine Wand aus schlechter Luft und Hitze. Also wieder nach draußen. Dort kam ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die mir erzählte, dass das Konzert erst um elf anfangen sollte.
Sie wusste es aus erster Hand, denn ihr Kumpel sollte der Eröffnungsmusiker sein. Also musste ich noch anderthalb Stunden rumbringen. Wir setzen uns in einiger Entfernung von der Kantine auf die Bordsteinkante.
Viele von den Besuchern waren wohl auch das erste Mal da. Alle liefen an mir vorbei, zwischen den Müllcontainern hindurch, die Kellereinfahrt runter und rüttelten dann verzweifelt an der Kellertür. Keiner fragte mich nach dem Weg. „Ihr müsst um das Haus herum laufen“, rief ich den Verirrten hinterher, die gerade dabei waren gegen die Kellertür zu treten.
Mit zwei Stunden Verspätung begann endlich das Konzert. Also wieder rein in die Demse. Wer Jazz und Elektronik liebt, ist auf seine Kosten gekommen. Der erste Musiker war der Kumpel von meiner neuen Bekannten.
Er hatte verschiedene Klangkörper aufgebaut, auf die er abwechselnd schlug. Leider etwas kurz nur, aber er freute sich, als ich ihm später sagte, dass mir sein Auftritt gefallen hatte. Überhaupt kommt man manchmal mit Musikern am Bierstand leichter ins Gespräch als mit den anderen Konzertbesuchern.
Obwohl es erst so spät angefangen hatte, waren die Umbaupausen auch nicht ohne. Ich musste immer wieder fasziniert einen Mann bzw. eine Frau anschauen.
Manchmal war ich mir völlig sicher, dass ich eine Frau vor mir hatte, dann überkamen mich wieder Zweifel, weil die Person bestimmt Schuhgröße 48 hatte und fast 2 m groß war.
Derjenige - Diejenige musste schon schmunzeln, aber an erstaunte Blicke war sie er bestimmt gewöhnt.
Die Kantine am Berghain war früher ursprünglich ein reiner Schwulentreff. „Bin ich hier die einzige Normale unter Verrückten oder umgekehrt?“, frage ich mich. Der Gedanke kommt mir, weil ich weit und breit die Einzige zu sein scheine, die nicht abgeneigt ist, mit Anderen ins Gespräch zu kommen. Kein Wunder, stamme ich doch mütterlicher- und väterlicherseits von kontaktfreudigen, neugierigen Leuten ab.
Meine drei Cola-Wodkas verstärkten das Bedürfnis nach Kommunikation nur noch. Leider sahen alle an mir vorbei. Ich war die Königin aller Uncoolen. Das fiel mir nicht zum ersten Mal auf.
Jeder, außer mir, schien sich pudelwohl zu fühlen in dieser Gefrierfrostatmosphäre.
Ich bin der Typ, der überall mitgemischt hat, aber immer fand, dass ich eigentlich nirgendwo so richtig hinpasste und hoffte, dass das nicht auffiel. Mein Versuche, die Farben der Umgebung anzunehmen, waren von wenig Erfolg gekrönt.
So war ich nicht Fisch noch Fleisch. Die Normalen mochten mich nicht, und zu der alternativen Szene gehörte ich auch nicht wirklich mit dazu, so sehr ich mich auch bemühte.
Wenn man in Berlin irgendwohin geht, wo man niemanden kennt, prallt man gegen eine Mauer.
Alle meiden einen wie eine Leprakranke
- zum Glück hatten meine Ärmel Überlänge, so dass sie meine Hände bedeckten, und niemand konnte sehen, dass ich an jeder Hand nur drei Finger habe. Na ja, der Ehrlichkeit halber, an der Rechten sind es bloß zweieinhalb -
und geben einem zu verstehen, dass sie nichts mit einem zu tun haben wollen und man gefälligst dahin gehen soll, wo man hergekommen ist.
Das ist besonders in alternativen Kreisen sehr ausgeprägt. Ich habe schon mal nach einem Jazzkonzert eine Depression bekommen. Dasselbe in einem besetzten Haus. Anschluss zu finden, funktioniert eigentlich nur über die Mann-Frau-Schiene.
Wenn jemand bei meinem Anblick denkt: „Mann, mir ist heute gerade so“, könnte es etwas werden mit der Anschlussfindung. Frauen bracht man gar nicht anzureden, wenn man das selbe Geschlecht hat. Die sehen in einem nur die Konkurrenz.
Das fällt zwar weg, wenn man das Gespräch mit Männern sucht, dafür kann es passieren, dass sie sich blöd angemacht fühlen. So nach dem Motto: „Was will die Alte von mir?“. Ich brauchte erst ein Weile, um zu kapieren, dass einer Frau alle Kontaktversuche in öffentlichen Räumen wie Konzerthallen, Kneipen, Clubs als Anbahnungsversuche ausgelegt werden. Freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen ist schwierig.
Übrigens bei der Band haben die zitty Redakteure richtig gelegen. Zum Schluss, es war wohl gegen halb drei, waren nur noch eine Japanerin, ein junger Mann und ich die letzten Zuhörer, obwohl es zu Anfang gut gefüllt war.
Meine neue Bekannte, mit der ich auf der Bordsteinkante vor dem Club gesessen hatte, hatte sich auch schon verflüchtigt, nachdem sie wohl mitgeschnitten hatte, dass ich nicht gerade zum coolen Insiderkreis gehörte.
Sie hatte den entschlossenen Blick, den Leute haben, die sich vorgenommen haben, alles richtig zu machen. Am wichtigsten ist es dabei, uncoole Leute zu meiden.
"Bestimmt will sie nichts falsch machen, und sich nur mit den Richtigen anfreunden, die ihr nützlich sein können", denke ich verständnisvoll.
Man zeigte Videos, die mit einer Elektronikmugge, die ein bisschen an Einstürzende Neubauten erinnerte, unterlegt wurden. Aber mir hat es gefallen. Die „Kassette „ - ich wußte gar nicht, dass sowas noch hergestellt wird, die ich mir am Merchandisestand kaufte, kann ich als Rausschmeißer benutzen, um unliebsame Gäste loszuwerden.
Pepino meinte zu mir: „Die Story ist im Kasten.“ Sie ist erstens nicht zu lang und spielt zweitens in Friedrichshain. Außerdem erreichen wir damit auch junges Publikum.
Endlich erreichte uns mal eine Einsendung, wo es um das Kreuzberg ging, in dem die Leute auf die Straße gingen um zu protestieren. „Hast du das in der Presse mitgekriegt, wie Jemand sich das Leben genommen hat, weil er wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde.
Er hatte das Haus Anfang der Achtziger mit Anderen besetzt und war der Einzige von den ehemaligen Hausbesetzern, der noch dort gelebt hat. Jetzt natürlich mit Mietvertrag.“ Ich erwidere Don Pepino: „Ja ich habe davon gehört. Aber ist das nicht ein bisschen übertrieben. Vielen geht es ja genauso.“
Maura, eine junge Frau, die bei unserem Verein angestellt ist, antwortet: „Meine Eltern, die beide früher Hausbesetzer waren, kannten ihn. Sie sagen, dass er depressiv war.“ Maura ist übrigens in einem Haus in Kreuzberg, dass Anfang der Achtziger besetzt wurde, aufgewachsen. Eine Kindheit, die außerhalb meines Vorstellungsvermögens liegt.
Mein Herz brennt
„Ich würd am liebsten tot sein, und von allem nichts mehr sehn.“
Ton Steine Scherben
Sie hatte keine Lust mehr. Sie wollte nur noch schlafen. Mit geöffneten Augen träumte sie sich weit weg von hier, in ihre Kindheit im fernen Thüringen. Sie war nicht mehr bereit zu kämpfen. Auf dem Tisch stapelten sich ungelesene Behördenbriefe.
Durch das trockene Beamtendeutsch stieg sie nicht mehr durch. Sie begriff nur, diese Stadt wollte sie nicht mehr haben und spieh sie einfach aus. Sie wollte und konnte nicht noch mal neu anfangen mit fast 70.
Die jungen Leute von der Intitiative gegen die Räumungen waren sehr nett, aber sie konnten sich nicht richtig in ihre Situation hineinversetzen. Sie war immerhin zwei Generationen älter als die meisten von ihnen. Wenn sie wieder umzog, kam nach einiger Zeit vielleicht wieder ein neuer Eigentümer, der sie raushaben wollte. Ihr ging durch den Kopf: „Komme ich denn niemals irgendwo an?“
Vor der Tür standen schon die Beamten mit ihren einstweiligen Verfügungen.
Zwei Tage nach der Räumung verstarb die 67 jährige Rosemarie F, die auch zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen war, in einer Obdachloseneinrichtung an Herzversagen. Die Räumung und die Situation, in ihrem Alter noch mal völlig vor dem Nichts zu stehen, war wohl zu viel für sie gewesen.
Diese Situation erinnert fatal an die Zeit von 1933 bis 45, als sich viele, besonders ältere jüdische Mitbürger nach dem Erhalt des Deportationsbefehls das Leben nahmen, weil sie keinen anderen Ausweg für sich mehr sahen.
Die Wohnungsbesitzerin hat wohl einen Grund gesucht, die alte Dame loszuwerden, um das Spekulationsobjekt teurer weiterzuvermieten oder zu verkaufen.
Jemand war in die Mühlen der Justiz geraten und konnte sich aus seiner schwachen Situation heraus nicht dagegen verteidigen. Rosemarie F. zappelte wie in einem Spinnennetz. Das ganze lief etwa so ab wie in "Das Urteil" von Kafka.
Immer mehr Genehmigungen mussten erbracht werden, es gab Rückschläge und Hoffnungsschimmer. Ständig gab es neue Anwälte, Termine beim Sozialamt, Gerichtsbeschlüsse. Am Ende stand die Räumung und der Tod der Frau. Ein Hausarzt gab ein medizinisches Gutachten ab, aber da er kein Facharzt war, wurde es vom Gericht nicht anerkannt.
Das die Frau schwer krank war, hätte mittlerweile aber auch schon ein Laie bestätigen können. Alle Ämter wuschen ihre Hände in Unschuld und deckten sich gegenseitig. Wo der Mamon herrscht haben Menschlichkeit und Emphatie nichts verloren. Auf der einen Seite standen die Unterstützer und auf der starken die Wohnungsbesitzerin und die Gerichte und Ämter.
Das Geschehnis wirft auch ein Schlaglicht auf die Situation älterer, deutscher, alleinstehender Frauen in Berlin. Randgruppen wie die Schwulen und Lesben helfen sich untereinander, wie ich von meinen lesbischen Freundinnen weiß. Ebenfalls die Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Mein spanischer Freund kam schon ein paar Stunden nachdem er seinem Reisebus entstiegen war bei einem peruanischen Schmuckverkäufer, den er am Alex kennenlernte, unter.
Viele Männer haben weitverzweigte Freundeskreise, auf die sie zurückgreifen können.
Schlecht sieht es für uns deutsche Frauen ohne den Schutz einer Familie aus. Immerhin ist unsere Stadt ja die Hochburg der Alleinstehenden und der alleinerziehenden Mütter in Deutschland.
Rosemarie F. ist auf dem Jerusalemfriedhof Mehringdamm 21 begraben.
„Hier beschreibt jemand ein Fahrradtour durch seinen Kiez bei Nacht. Wie gefällt dir das?“, fragte Don Pepino.
Gegend zwischen Rummelsburger See und Ostkreuz morgens zwischen halb eins und um drei
Bei den menschenleeren Straßen und unheimlichen Unterführungen wäre es zu später Stunde nicht wirklich verwunderlich, wenn mit einem Mal wie aus dem Boden gewachsen Christopher Lee im Draculakostüm als Das Phantom vom Ostkreuz vor einem stände. Spanische Touristen, die am Rummelsburger Ufer dicke Joints geraucht haben - hier gibt es mehr Spanier als in Spanien - haben mit solchen Begegnungen bestimmt schon öfter in Madrid oder Valladolid angegeben, was zur Folge hatte, dass immer mehr von ihren Landsleuten hierherreisen auf der Suche nach dem geheimnisvollen Flair unserer Gegend.
Ich beginne in Lichtenberg am Rummelsburger See, ungefähr auf der gegenüberliegenden Seite vom Palmkernölspeicher. Man muss dazu sagen, dass der Rummelburger See für uns Ostkreuzler den Lichtblick im Verkehrsgetümmel hier darstellt. Man vermutet nur ein paar Gehminuten vom S-Bahnhof entfernt nicht so eine Oase.
Letztes Jahr kam ich mal dazu, wie ein paar niedliche Jungen und Mädchen aus aller Herren Länder dort nachts eine wilde Technoparty veranstalteten. Man verabredet sich wohl über What´s app. Überall standen Glasbehälter mit Teelichtern und die Musik war gar nicht so laut und die Stimmung total romantisch. Leider kamen trotzdem bald Leute vom Ordnungsamt und das war´s dann gewesen mit der Party. Süßer Vogel Jugend - ist übrigens ein Bühnenstück von Tenessee Wiliams, das auch verfilmt worden ist -,denkt man wehmütig, wenn man einiges älter ist.
Momentan, auf meiner Bank am Rummelsburger Ufer, spielt mir mein MP3 Player Buffalo Springfield ins Ohr. Die Aufnahme ist übrigens von 1967. Nicht umsonst bezeichnete mich ein Kumpel mal scherzhaft als ewig Gestrige. Von links dringt techno zu mir und von rechts HipHop zusammen mit Haschischschwaden. Ich frage mich, ob sich für diese Bands in 50 Jahren auch noch einer interessieren wird.
Überhaupt ist der Zeitfaktor bei Musik wohl entscheidend. Die Matthäuspassion von Bach ist von 1727 und klingt überhaupt nicht veraltet. Sie befindet sich übrigens auch auf meinem MP3 Player, und ich höre sie hoch und runter. Ich würde mal sagen, Bach, der ja noch nicht mal die Schallplatte kannte, hat alles richtig gemacht, wenn seine Musik 300 Jahre später noch als MP3 Datei, die auf Micro SD Card gespeichert ist, gehört wird. Er wüßte gar nicht, was das ist.
Mit Expecting to fly von Buffalo Springfield radle ich das Seeufer lang.
Neil Young singt: „I tried so hard to stand As I stumbled an fall to the ground“ und ich biege rechts den Weg ein, der zum Ausgang Hauptstraße führt.
Mit der Liedzeile im Ohr „the lights turned on and the curtain fell down“ aus dem Song „Broken arrows“, was gebrochene Pfeile heißt, fahre ich durch den S-Bahntunnel Karlshorster Straße / Ecke Nöldnerstraße. Um diese Geisterstunde ist dort alles ziemlich ausgestorben, so dass man die Gegend für sich allein hat.
Nach der Kurve wird die Karlshorster zur Marktstraße, die wiederum hinter dem S-Bahntunnel zur Boxhagener wird.
In dem Sparkassengeldautomaten hat übrigens den Winter über ein sehr netter Pole gewohnt, der sich immer freundlich für Geld- oder Lebensmittelspenden bedankt hat.
Jedesmal wenn ich durch die Unterführung an der Boxhagener Straße gehe, muss ich an den Film „Cabaret“ von Bob Fosse denken und zwar an die Stelle wo Lisa Minnelli mit Michael York unter einer Brückenunterführung steht und Beide immer übermütig aufschreien, wenn ein Zug kommt. Aber ich weiß ja, der Film wurde im Westberlin der 70ziger gedreht und nicht am Ostkreuz. Wahrscheinlich waren die Yorkbrücken der Schauplatz.
Man sollte auch nicht unerwähnt lassen, dass die Strecke Boxhagener, Marktstraße, Karlshorsterstraße, Hauptstraße ein Unfallschwerpunkt ist. Als Fahrradfahrer ist man ja immer unmittelbarer dabei als als Fußgänger. Ich musste sogar schon als Unfallzeugin aussagen. Hinter der S-Bahnunterführung Boxhagener Straße auf der Marktstraße gibt es in Richtung Lichtenberg links eine Ampel, die gefühlt alle paar Tage flachliegt. Die Ampel wird immer wieder aufgerichtet, aber was ist mit den Autofahrern?
Im Imbiss an der Boxhagener Straße kaufe ich eine Pizza Santana. Ich glaube die beiden türkischen Pizzabäcker werden gar nicht wissen, dass Santana eine Band ist und schon in Woodstock auftrat.
Ich habe mich mal mit einem Kumpel darüber gestritten, aber ich habe wirklich noch fast nie bei Psychedelic-, Metal-, Punk- oder Hardcorekonzerten Türken oder Araber gesehen. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Nach einem Metalkonzert im SO 36 sprach mich mal auf der Oranienstraße ein junger Türke an. „Bist du auch bei „Sepultura“ gewesen?“, fragte ich ihn. Er sah mich verblüfft an. Weder kannte er Sepultura, noch hatte er vor, sie jemals kennenzulernen und war wohl noch nie im SO 36. Sowas bezeichnet man wohl als Parallelgesellschaft.
Der junge Türke hätte auch bestimmt lieber eine junge Türkin angesprochen, aber so jemand war um diese späte Stunde auf der Oranienstraße nicht mehr unterwegs, und außerdem wäre ihre Familie davon wohl nicht begeistert gewesen.
Ich sitze auf der Treppe hinter Lidl, verspeise die Pizza und höre Bowie auf dem Mp3-Player.
„Mother, she blew my brain, I will go back again“ singt Bowie, und ich muss an Christiane F. denken, die ein Fan von ihm ist.
Ich hoffe meine Worte habe ich den herben Charme unserer Gegend eingefangen. Jemand, der hier am Ostkreuz arbeitet, aber im Grünen wohnt, sagte mir einmal, dass sie sich nicht vorstellen könne, hier zu wohnen. Es wäre ihr hier viel zu unruhig. Übrigens, die meisten Leute, die hier wohnen sind sehr jung. Wenn sie älter werden, suchen sie sich oft ruhigere Gegenden.
Ein Kollege ist der Meinung, dass hier Migranten diskriminiert werden, weil der Verfasser der Story schrieb, dass er selten welche von ihnen bei Independent-Konzerten gesehen hat. Aber ich muss dem Autor beipflichten, denn ich habe ebenfalls so gut wie nie Leute, die ich für Türken oder Araber halten würde, bei solchen Veranstaltungen gesehen. Sie haben wohl einen total anderen Musikgeschmack.
„In den blo ateliers war ich auch schon“, sagte der Don. „Diese Geschichte nehmen wir auf alle Fälle.“
Let´s jam
Dunkle Straßen, eine kahle unwirtliche Gegend. Wo bin ich denn hier? Einige wenige Menschen hasten in der Dunkelheit an mir vorbei. Ach ja richtig in der Weitlingstraße beim Bahnhof Lichtenberg.
Baustelle reiht sich an Baustelle. Autos sind ja massig unterwegs, aber Leute sind heute Nacht hier kaum zu sehen. Der Weg zieht sich hin, besonders da ich an diesem Sonnabend Abend hier allein unterwegs zu sein scheine.
Aber da, ich sehe ein großes rotes Herz in der Luft schweben. Rot ist immer gut und Herz weckt sowieso erfreuliche Emotionen in einem. Das zieht mich automatisch an. Von weitem dringt Lachen und Musik an mein Ohr. Ein Wunder. Das es das hier noch gibt. Wer hätte das gedacht, in dieser gottverlassenen Gegend.
Ich stolpere über glitschiges Kopfsteinpflaster dieser Fata Morgana entgegen. Vor der Tür empfängt mich ein extrem freundlicher Einlasser mit Migrationscharakter, der ernsthaft nur 5 € von mir will und außerdem auch meine Tasche nicht kontrolliert (ist das immer scheiße lästig, wenn man wie ich Luftpumpen und Zangen und Mp3 Player mit sich rumschleppt). Ich hätte also ruhig eine Bombe bzw. eine große Flasche Wodka mit rein nehmen können.
Drinnen ist es knackedicke voll, aber die Atmospäre ist total entspannt. Kosta, der freundliche Grieche läuft herum und hält die Dinge am Laufen. Er ist der Veranstalter und bringt hier Nachtleben in diese kulturell verwaiste Ecke von Lichtenberg.
Nachdem Konzert gibt es erst mal eine Pause und dann beginnt für mich das eigentliche Highlight des Abends, die Jam Session. Selig sitze ich mit einem großen Glas (kein Plastebecher) Cola Wodka mit viel Eis auf einem Polstersessel und staune nur.
Solche guten Instrumentalisten und Sänger würde man gar nicht in der Amateurliga vermuten. Es wird gesoult und gejamt und getrommelt und trompetet als ob es kein Morgen gäbe. Alles ist free und hot und irgendwie auch intim, wenn man den Musikern beim Improvisieren zuhört.
Es sind auch immer viele dunkelhäutige Sängerinnen mit Wahnsinnsstimmen dabei, aber auch weiße Sängerinnen, denen man das gar nicht zutrauen würde, singen hier einen rabenschwarzen Soul. Musiker jeden Alters treten auf. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein kleine, schwarze Frau mit einer Riesenstimme und einem Wahnsinnstemperament. Überhaupt sind die Leute auf der Bühne sowieso multikulturell.
Mit dem Fortschreiten des Abends spielen sich die Musiker mehr und mehr Extase. Das überträgt sich natürlich auch auf das Publikum. Knisternde Spannung liegt in der Luft. Es ist einfach Lebensfreude pur. Für diese gottverlassene Gegend ist diese Mugge hier ein ganz schön heißer Scheiß.
Das Ganze ging immer so bis gegen drei und ich trat frohgemut den Heimweg an.
Leider gibt es schon seit zwei Jahren kein Let´s jam mehr, aber dafür bieten die BLO ateliers viele andere Veranstaltungen an.
Von dem Text über den Orgelsommer in der Erlöserkirche Rummelsburg ist Don begeistert.
Bach ist unser Voodoopriester
Jedes Jahr findet in der Erlöserkirche Rummelsburg im Juli und August der Orgelsommer statt. Der Eintritt ist frei. Eigentlich müssten die Konzerte ja sehr gut besucht sein, aber leider verirren sich oft nur wenige Donnerstag um 20 Uhr in die Kirche.
Ich selbst gehe da ganz unvoreingenommen ran. Eigentlich läuft das bei mir immer so ab. Man setzt sich und möchte nach 10 Minuten eigentlich am liebsten schon wieder gehen. Die Luft ist stickig, und die Musik ist sperrig. Aber nach einer gewissen Zeit wird man angefixt, kommt in die Musik rein und bleibt bis zum Schluss.
Viele beenden ihren Kunstgenuss vorzeitig, weil sie einfach mit der ernsten Musik nicht klarkommen. Das ist oft Stress pur. Das kann man ihnen auch nicht übelnehmen, denn ich glaube mit klassischer Musik kommt man meist nur etwas anfangen, wenn man von Kindheit an damit vertraut gemacht wurde.
Das ist oft in bildungsbürgerlichen Familien der Fall. Ich muss jetzt gerade daran denken, wie komisch Benjamin von Stuckrad Barre, der aus einem Pfarrershaushalt stammt, das Martyrium seiner Musikstunden in „Panikherz“ beschrieben hat.
Klassische Musik war früher oft ein Privileg der herrschenden Klasse erst des Adels und später des Bürgertums und wurde von den Grafen bzw. Fabrikbesitzern gefördert. Für viele Mädchen aus höheren Kreisen, die wenig Mitgift zu erwarten hatten, waren Gesang und Geigenspiel wohl auch eine Möglichkeit, sich das Herz eines potentiellen Ehemannes zu erobern.
Ich bin durch den Orgelsommer zum absoluten Bachfan mutiert und habe jetzt 11 Stunden Orgelmusik vom ihm auf Stick. Bach auf der Orgel ist immer ein Erlebnis für sich.
Einmal saß in Rummelsburg ein nervöser, junger Mann neben mir auf der Kirchenbank. Es stellte sich heraus, dass er der Solist war. Er fing zuerst in einer übermäßigen Lautstärke an, so dass ich schon gehen wollte, aber dann spielte er einen ins Delirium. Er hatte einen in der Hand. Die Musik - natürlich Bach - nahm einen mit auf eine Achterbahnfahrt. Auf steile Hügel folgte ein rasender Absturz. Es warf einen hin und her.
Ich hatte Bach immer für einen alten Langweiler gehalten, so kann man sich irren. Nach Konzertende trat ich mit weichen Knien und ganz aufgelöst aus der Kirche und wußte gar nicht mehr so richtig, wo ich eigentlich war. Was läßt man sich entgehen, wenn man sich der klassischen Musik völlig verschließt, was viele Kumpels von mir machen.
Ich habe im Lisztjahr auch ein Chorkonzert mit seinen Werken in der Erlöserkirche besucht. Hier war es aber knackedicke voll. Die komplizierten, schrägen Gesänge waren für mich der reine Independent. Eigentlich war die Musik völlig wild und ungewöhnlich und klang sehr modern.
Mich schreckt aber die bürgerliche Atmosphäre bei klassischen Konzerten ab. Viele Konzertbesucher würden wohl ganz schön ins Grübeln kommen, hätten sie ihre Götter selber kennengelernt. Die waren oft ziemlich durchgeknallte gesellschaftliche Außenseiter.
Viele Musiker mussten vor dem Kurfürsten Männchen machen, um eine Festanstellung zu ergattern. Der bürgerliche Habitus, der einen auf Bildern immer so irritiert, täuschte über das innere Leben hinweg, das in ihnen tobte, ihre Rebellion drückte sich in ihrer schrägen Musik aus. Wenn sie um die Hand einer Bürgerstochter anhielten, kam keine große Begeisterung auf, da man ihnen nicht zutraute, eine Familie zu ernähren. So gerieten sie wohl ganz schön oft in eine gesellschaftliche Isolation rein.
Viele ihrer Zeitgenossen kamen mit ihrer Musik nicht klar, in deren Augen war das der reine Free Jazz und sie gerieten in Vergessenheit und wurden erst einige Generationen später wiederentdeckt. Beispielsweise fand Felix Mendelsohn Bartoldy in einer Bibliothek die Partituren von Bach und Beethoven, erkannte das Genie seiner schon seit Jahrzehnten ziemlich in Vergessenheit geratenen Kollegen und läutete das Bach- und Beethovenrevival ein. Er brachte auch die Mathäuspassion zur Wiederaufführung.
Viele von den Komponisten saßen mit knurrendem Magen in eisekalten Kämmerchen. Aus Mitleid hat ihnen vielleicht ein Freund, der besser bürgerlich eingetaktet war, eine warme Suppe vorbeigebracht und unauffällig ein paar Scheine auf die Anrichte gelegt. So was ähnliches habe ich in einem Radiofeature über Hugo Wolf gehört.
Das hat viele vorzeitig aus der Bahn geworfen. Einige wurden verrückt - Hugo Wolf -, einige nahmen Drogen wie Schumann - gab es um Achtzehnhundert auch schon - und verübten Selbstmord. Das zeigt Parallelen zu heutigen Rockmusikern auf.
Deshalb strahlt ihre Musik auch oft alles andere als Lebensfreude aus, irgendwie schwingt immer unterschwellig der Tod mit. Man ahnt die inneren Kämpfe der Komponisten. Diese unterschwellige Traurigkeit hält viele davon ab, klassische Musik zu hören. Man wird mit etwas konfrontiert, was man vor sich selbst verdrängt.
Man muss aber auch mal bedenken, dass die Leute damals mit dem Tod auf Du und Du waren. Es gab keine Antibiotika, viele Operationen waren noch nicht möglich, Kindbettfieber raffte die Frauen hinweg. Manche Männer überlebten 5 Ehefrauen.
Ich möchte trotzdem mal wissen, wo die großen musikalischen Geister, die wir Deutschen unser eigen nennen, eigentlich heutzutage abgeblieben sind. In punkto Musik machen uns die Engländer und Amerikaner ja einiges vor.
„Les mal diese Geschichte. Ein Pfälzer, der in Berlin lebt, hat sie verfasst.“
Alles weil me Pfälzer sinn
Eine Freundin aus Speyer, ein Bekannter aus dem Ruhrpott und ich eine Mecklenburgerin - der echte Berliner kommt nicht aus Berlin - saßen bei einer Brotzeit, wie der Wessi zu einem Picknick sagt, mit Pfälzer Spezialitäten wie Orginal Pfälzer Lewwerworscht, Gefülltem Saumagen und der Echten Pfälzer Blutwurst im Rudolfpark im Schatten der Zwinglikirche zusammen. Da es hier in Berlin nur wenige Fleischer gibt, die nach Orginalrezept arbeiten - einen gibt es wohl in Eichwalde - kam alles aus der Büchse via Internet. „Ja so en Gude Palzwoi“ - Kurt Dehn - von aldi durfte natürlich auch nicht fehlen.
Übrigens dem Saumagen wird unrecht getan. Es ist einfach nur ein nahrhaftes Armeleutegericht. Ein gewässerter Saumagen wird mit Hackfleisch und Kartoffeln gefüllt und mehrere Stunden gekocht. Danach wird er in Scheiben geschnitten und in der Pfanne gebraten. Dieses Gericht war eine Spezialität in der Familie meiner Pfälzer Freundin.
Wir baten sie einmal mit uns genau so zu reden, wie sie zu Hause mit ihrer Familie redet. Wir verstanden nur Bahnhof, genau so gut hätte sie auch Russisch sprechen können. Das hörte sich ungefähr so an:
„Warscht du amol uf de Kalmit, oder uf de Dahnerhä... des wer alles nix besonnres sagscht du, du sagst dass ders onnerschtwu a gfällt, awwer onnerschtwu is onnerscht, und halt net die Palz.“
Das ist natürlich nicht von Sylvia sondern der Text des Pfalzliedes von Die anonyme Giddarischde, aber der Zungenschlag ist derselbe. Es wird vor jedem Heimspiel von den Fans des FC Kaiserslautern angestimmt.
Sylvia erzählte, dass sie oft hier auf den Rudolfplatz kommt, weil sie die Zwinglikirche, die ja nur eine bescheidene Arbeiterkirche gleich neben Narva - früher Osram - ist, zwar nicht an den Kaiserdom zu Speyer erinnert aber doch etwas an die katholische Josephskirche, wo sie getauft und gefirmt wurde.
In Sylvias Heimatstadt ist der Glaube aber noch lebendig und die Kirchen müssen noch nicht als Eventlocations vermietet werden wie die Zwinglikirche, sondern werden noch eifrig von Gläubigen aufgesucht.
Im gottlosen Berlin hatten es die Pfaffen schon immer schwer. Ich glaube nicht, dass die Arbeiter, wenn sie von der Schicht bei Osram kamen, dort erst mal ihre Gebete verrichtet haben und die abgehetzten Arbeiterfrauen hatten auch anderes zu tun, obwohl sie bestimmt allen Grund gehabt hätten, sich bei Gott Beistand zu suchen. Die Gegend rund um das Glühlampenwerk war bis 33 eine rote Gegend und bei Osram gab es eine starke kommunistische Zelle, die später nach der Machtübernahme der Nazis illegal weiterexistierte.
Ich fragte Sylvia, ob ihre Heimatort auch einen Schutzheiligen hat, der einmal im Jahr durch die Stadt getragen wird. Beim Schutzpatron der Heimatstadt Valladolid meines spanischen Freundes, handelt es sich um einen gewissen San Pedro Regalado. Sylvia erzählte, dass beim Fronleichnamsfest in Speyer immer eine Prozession zum Dom zieht, bei der das eucharistische Brot, die Hostie, in einer Monstranz durch die Straßen getragen wird.
Der Ruhrpottler erzählt, dass er jüdische Wurzeln hat und die Woche davor gerade Jom Kippur war. „Sag mal was auf hebräisch.“ Er darauf:
בִּישִׁיבָה שֶׁל מַֽעְלָה
וּבִישִׁיבָה שֶׁל מַֽטָּה,
עַל דַּֽעַת הַמָּקוֹם
וְעַל דַּֽעַת הַקָּהָל,
אָֽנוּ מַתִּירִין לְהִתְפַּלֵּל עִם
הָעֲבַרְיָנִים
„Was heißt das?“, fragen wir ihn. Das ist das Kola Nidre und bedeutet: In der Versammlung des oberen Gerichtes, und in der Versammlung des unteren Gerichts, mit der Zustimmung des Allmächtigen und mit der Zustimmung dieser Gemeinde, erlauben wir, gemeinsam mit den Missetätern zu beten...
Mit soviel Religiösität kann ich nicht mithalten. Bei uns in der DDR hatte die Religion keine Bedeutung. In meiner Klasse waren fast alle ungetauft. Ich weiß bloß, dass ein Mitschüler bei der Pfarrerin das Flötenspiel erlernte, wodurch er sich die musikalischen Grundlagen erwarb, die ihn später in die Lage versetzten, auf Klassenfahrten immer mit der Mundharmonika den Reichsbahnblues von Stefan Diestelmann zu spielen.
Ein anderer ehemaliger Mitschüler von mir hat Theologie studiert. Im Internet sehe ich ihn oft im Talar von der Kanzel predigen und wundere mich über seine Wandlung. Mir ist früher nie aufgefallen, dass er gläubig war.
Eine Kollegin aus Brandenburg wirft ein, dass die Kirche in der DDR eine große Bedeutung für die friedliche Revolution gehabt hat, weil sie kritischen Geistern eine Heimstatt bot. Damit habe ich aber ehrlich gesagt nichts zu tun gehabt.
Mit einem Mal ist es doch möglich über Lichtenberg-Hohenschönhausen und Treptow-Köpenick Beiträge zu veröffentlichen, weil in dem dortigen Projekt nur drei Leute sind, von denen einer noch abgesprungen ist.
„Dann können wir ja den Text über das Punkerfestival am Nordring doch mit aufnehmen“, sage ich. Don Pepino gibt zu bedenken: „Bist du dir sicher, dass das Gelände nicht schon in Marzahn liegt. Wir schauen im Netz nach. Die Bezirksgrenze teilt die Straße in zwei Hälften. Dort, wo der Eingang zum Konzert war, ist schon Marzahn. „Die paar Meter machen den Kohl auch nicht fett“, sagt der Chef. Wir haben auch zu wenig Material, was Jüngere anspricht.
Wir wachen an der Ostsee auf.
„Komm wir reichen uns die Hand und wir werden schon sehn, dass diese zeitlosen Momente wirklich niemals vergehn.“ Feine Sahne
„Hey ho, let´s go. ..."
Mein Stahlroß wieherte schon gesattelt und gespornt im Hof und wartete ungeduldig darauf mich ins tiefste Lichtenberg zu befördern.
Das Festival ging drei oder sogar vier Tage lang, aber ich bevorzugte den Sonntag Nachmittag, weil es sich da schon etwas geleert hatte.
Es ging über die Gürtelstraße, die Möllendorfstraße, den Weisenseer Weg, die Konrad Wolf Straße, die Wartenbergstraße, die Gehrenseestraße und die Hohenschönhausener zum Nordring bzw. später zum Hornoer Ring.
Dann konnte man es gar nicht mehr verfehlen, denn hier gefühlt am Ende der Welt kamen einem schon Massen von bunthaarigen Leuten entgegen.
Ein paar tausend Punks und linke Jugendliche kommen jedes Jahr aus ganz Deutschland nach Berlin zu diesem Open Air. Das schöne war, dass dieses Musikfestival mal direkt in Berlin stattfand und man es bequem mit dem Fahrrad erreichen konnte.
Jedes Jahr, wenn ich auf dem Gelände angekommen war, erlitt ich erst mal einen Altersschock. Das Alter der meisten Anwesenden bewegte sich so von 16 bis höchstens Mitte Zwanzig. Ich sah kaum einen der nicht gut zwanzig Jahrer jünger war als ich. Ich weiß auch nicht, warum es bei diesem Festival keine Mitte gab. Auf anderen Konzerten, auf denen die gleichen Bands spielen, trifft man auch Leute jeden Alters.
Aber wie gesagt, dass Resist to exit war das einzige Open Air - Techno interessiert mich nicht - direkt in Berlin und das wollte ich mir nicht entgegen lassen. Die Eintrittspreise waren lächerlich gering. Beim ersten Mal zahlte ich sogar nur 7 € an der Abendkasse. Es ist ein Non Profit Festival und die sehr freundlichen jungen Leute vom Organisationskomitee machen alles ehrenamtlich.
Auf dem Gelände fühlte ich mich in meine eigene Jugend versetzt. Das nennt man wohl ein Déjá - vu. Viele der Besucher erinnerten mich an meine Kumpels von damals. Einige Punker blickten mich aber nicht uninteressiert an und überlegten bei sich, ob nicht vielleicht in der Reife die Würze liegt (Ist natürlich nicht ernst gemeint).
Beim letzten Mal war ich extra wegen einer bestimmten Band da, nämlich Feine Sahne Fischfilet. Aus der verschlafenen Gegend im tiefsten Mecklenburg/Vorpommern aus der ich stamme, ist merkwürdigerweise eine Band entsprungen. Sie kommen gefühlt einen Steinwurf von meinem Heimatdorf entfernt her. In meiner Kindheit habe ich dort weit und breit niemanden gekannt, der ein Instrument spielen konnte. Die Zeiten ändern sich.
Beim Hören ihrer CD „Scheitern und Verstehen“ kamen in mir Heimatgefühle auf. Jetzt wollte ich mir die Fischköppe endlich einmal live anhören. Während des Konzerts sang ich alle Lieder auswendig mit. Ein Trupp Leute beobachtete mich verblüfft.
Ich ahnte schon, dass es eine mitgereiste Fangruppe aus meiner Heimat Meckpom war. Dort kann sich niemand vorstellen, dass sich eine Frau jenseits der Vierzig noch für Musik interessiert und Konzerte besucht. Ich kenne meine konservativen Landsleute lange genug, um mich darüber noch zu ärgern.
Nach dem Konzert holte ich mir noch eine CD vom Merchandisestand und ließ mir vom Sänger Monchi, der ja mit seiner imposanten Gestalt auf dem Gelände auffiel, ein Autogramm geben. Ich fragte ihn noch, ob er mein Heimatdorf kennt. Natürlich kannte er es, es ist ja gar nicht weit von seiner Stadt entfernt.
Während ich mit ihm sprach, hatte ich das Gefühl, ich stehe zu Hause an der Busbude und höre zu, wie sich die Leute unterhalten. Monchi von Feine Sahne spricht so stark den vertrauten Dialekt der Menschen aus meiner Gegend. Wahrscheinlich verdrängt man da etwas. Die Fischfilets haben die Frage "Gehn oder bleiben" für sich mit bleiben beantwortet. Sie halten ihrer mecklenburgischen Heimat die Treue und sind nicht solche vaterlandslosen Gesellen wie ich.
Monchi wunderte sich wohl insgeheim auch, dass er Fans im Alter seiner Mutter hat, aber wenn eine Band größer wird, ist sie generationsübergreifend. Beim Ramsteinkonzert in der Wuhlheide war auch vom Großvater über den Sohn bis zum Enkel alles vertreten.
Auf der Heimfahrt nahm ich mir endgültig vor, dass dieses Mal das letzte Mal gewesen sein sollte, aber natürlich war ich das nächste Jahr wieder dabei.
„Leichte Mädchen im Park“ heißt eine Geschichte, die Paul Kossoff , dem Leadgitarristen von Free gewidmet ist. „Free ist eine meiner Lieblingsbands“, sagt Don Pepino, der früher einen Club geleitet hat.
Meine Zeit ist Dunkelheit - Die Skeptiker - , da gefällt es mir ja gleich schon viel besser. Wenn ich manchmal abends im Seepark in Karlshorst bin und das nervige Familienglück endlich ein Ende gefunden hat, wende ich mich wichtigeren Dingen zu wie Blues und Whiskey - ist in diesem Falle aber nur eine bescheidene Büchse Jim Beam Cola.
Ich habe hier heute Nacht ein Rendezvous mit dem Leadgitarristen von Free, Paul Kossoff. Musikkenner werden einwenden, dass der schon seit vielen 34 Jahren tot ist, genauer gesagt seit dem 19. März 1976. Er wäre heute, am 14.09.2020, 70 Jahre alt geworden.
Ich liebe diesen Gitarristen. Aus Anlaß seines Geburtstages höre ich mir auf meinem "Ghettoblaster" - ein kleiner MP3 Recorder - Solosachen von ihm an, die er nach der Auflösung von Free kurz vor seinem Tode aufgenommen hat.
Es sind fast nur konfuse Instrumentalstücke, wilde Improvisationen und Schnipsel von Studioaufnahmen, aber jetzt in dieser nicht alltäglichen Situation, nur mit einer Büchse Cola Whiskey spätnachts allein im Park, geht mir die Genialität seiner letzten Aufnahmen, mit denen ich zuhause vor meiner Stereoanlage nichts anfangen konnte, und die ich für belanglos hielt, zum ersten Mal auf.
Er spielt übermenschlich gut, man darf gar nicht daran denken, was da noch alles hätte kommen können. Da hat einer musikalisch noch viele Pfeile im Köcher gehabt.
Jemand spielt wie um sein Leben und ahnte wohl schon die Nähe des Todes. Koss ist zwar schon mit 25 Jahren gestorben, als Folge seines Drogenkonsums, aber für mich wird er durch das Hören seiner letzten Aufnahmen wieder lebendig und ist mir so nahe, als wenn er hier neben mir auf der Parkbank sitzen würde.
Ich denke aber mit Whiskey allein hätte er sich nicht zufrieden gegeben, da hätte ich schon härtere Sachen auffahren müssen.
Plötzlich höre ich Laub rascheln, Zweige knacken und Schritte nähern sich. Ich verspüre aber merkwürdigerweise gar keine Angst, ganz im Gegenteil, mein Herz klopft freudig erregt. Der Recorder spielt gerade „Be my friend“ von Free. Eine zerzauste, abgemagerte, lichtumflutete Gestalt kommt näher. Als er die Musik hört, bleibt er kurz stehen, schaut auf, und ein scheues Lächeln fliegt über sein bleiches Gesicht. Er hat die traurigsten Augen von der ganzen Welt.
Er geht weiter, ohne sich nochmal umzublicken. So plötzlich wie die Gestalt aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder in der Dunkelheit und wird vom dunklen Park verschlungen. Er ist es wirklich. Habe ich hier nachts im Park etwa unbewußt einen Voodoozauber ausgelöst.
Ein Mann radelt vorbei und schaut mich interessiert an. Koss - Paul Kossoff - wäre mir lieber gewesen auch wenn er jetzt 70 wäre. Man wird ja wohl noch träumen dürfen? Für mich ist er für immer 25 geblieben und wird mir als abgezehrte Gestalt mit langen, zerzausten Locken in Erinnerung bleiben.
Mir ist mal aufgefallen, wenn man mit einer Cola auf der Bank sitzt beachtet einen niemand. Sofern es jedoch ein Bier oder wie jetzt eine Büchse Cola Whiskey ist, fängt man als Frau doch sehr interessierte Blicke auf. Vielleicht outet man sich da als leichtes Mädchen.
Vielleicht habe ich jetzt ein paar Technojünger dazu animiert, sich auch mal eine Scheibe von Free auf den Plattenteller zu legen. Ihr werdet nicht enttäuscht sein.
Eine Story über das „Sommermärchen“ wurde auch eingesandt.
Fleisch- und Fußballverweigerer im Friedrichshain
Es war Freitag der 9. Juni 2006 um 18 Uhr bei schönstem Sommerwetter. Ganz Friedrichhain und Prenzlauer Berg wirkten wie ausgestorben. Es fuhren keine Autos, und es liefen kaum Menschen auf den Straßen. Es war der Zeitpunkt des ersten Deutschlandspiels bei der WM 2006. Mein Freund hatte es mal wieder zu Hause nicht ausgehalten, und ich musste mit ihm auf einer Wiese im Volkspark Friedrichshain sitzen.
Ein versprengtes Trüppchen Fußballverweigerer saß im Gras und hatte die Grillroste angeworfen. Ab und zu wurden in weiter Entfernung Raketen abgeschossen, und ich schlußfolgerte daraus, dass Deutschland auf einem guten Weg war. Tatsächlich hatte uns Schweini mal wieder rausgehauen. Wir gewannen gegen Costa Rica 4 : 2. Schweinsteiger und Podolski waren ja das Dreamteam der WM 2006.
Ein niedliches kleines Mädchen so 5 bis 6 Jahre alt, wollte ihren Mitmenschen etwas Gutes tun und bot den anderen auf der Wiese auf einem Teller die restlichen Fleischstücke, die vom Grillen übrig geblieben waren, an. Niemand wollte ihr etwas abnehmen, man lebte wohl vegetarisch. So kuckte sie schon ganz traurig.
Das konnte ich natürlich nicht mit ansehen und ließ mir einen Pappteller mit einem großen, saftigen Stück gegrillte Hühnerbrust geben. Obwohl ich keinen Hunger gehabt habe, muss ich doch sagen, das war das beste Stück Huhn, das ich je gegessen habe. Mein Freund war übrigens leider auch Vegetarier.
Auf dem Rückweg herrschte in ganz Berlin eine sehr gute, entspannte Stimmung.
Nachdem Spiel Spanien gegen Polen 4 : 0 einige Tage später gratulierte der Vietnamese im Lebensmitteldiscounter an der Karl Marx Allee meinem Freund und erwartete wohl, dass Carlos vor Freude total aus dem Häuschen wäre. Aber er hatte kein Vertrauen in seine Landsleute und wirklich kurz danach flog Spanien raus.
Nachdem mir als guter Freundin klar wurde, dass hier jemand seine Fußballleidenschaft verleugnet, saßen wir ab da immer vor den Cafes hier am Ostkreuz und schauten uns alle Deutschlandspiele an, Spanien war ja nicht mehr dabei. Besonders in Erinnerung ist mir noch das Spiel gegen Argentinien geblieben, dass durch ein extrem spannendes Elfmeterfinale entschieden wurde.
Ich glaube Michael Ballack schoß den entscheidenden Elfmeter, und wir waren im Halbfinale. Er war übrigens der Lieblingsfußballer von meinem Freund, der ja Spanier ist. Wir sahen das Spiel mit vielen anderen vor einem Cafe in der Neuen Bahnhofstraße, in der Nähe vom Bahnhof Ostkreuz. Es herrschte eine freundschaftliche Atmosphäre. Es war übrigens die WM wo Oli Kahn nicht mitspielen durfte und Jürgen Klinsmann der Trainer war.
Ich möchte noch das geniale Reporterduo - jeder der 2006 vor dem Fernseher dabei war, weiß wen ich meine - erwähnen, wobei ich nie verstehen konnte, warum sie sich nicht vor der Kamera prügelten. Der Mürrische von den beiden ist wohl früher selber einmal ein berühmter Fußballspieler gewesen, lange vor der Wiedervereinigung. Man sah sich die beiden an und staunte nur mit offenem Munde.
Es handelte sich übrigens um Günter Netzer und Gerhard Delling.
Ach ja, ich habe seitdem die Gewohnheit angenommen bei Fußballwelt- und Europameisterschaften die meisten Spiele zu sehen, wobei ich früher Fußball nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätte.
Von der nächsten Einsendung war Don besonders begeistert. „Den Plattenladen in der Rykestraße kenne ich auch noch. Dort war ich Stammgast. Und Can habe ich schon mit zwölf durch einen Mitschüler, der eine Westoma hatte, dass erste Mal gehört und bin seitdem Fan.“
Jaki
Vor ein paar Jahren las ich in der Zitty das am im Glashaus von der Arena Jaki Liebezeit spielt. Da ich durch einen Kumpel mit der Musik von Can angefixt worden bin, wollte ich mir den ehemaligen Drummer der Band auch mal als Solokünstler anhören. Mein Kumpel hat 1990 mal zufällig eine unbekannte, geheimnisvolle, verstörende Musik im Radio gehört, die ihn nicht mehr los lies, er leckte Blut und besorgte sich nach und nach alle Platten von Can im Plattenladen Freak Out in der Rykestraße.
Dort gab es alles was das Herz des ehemaligen Ostlers erfreute, also der Schwerpunkt lag auf der Musik der 60ziger und 70ziger - Jimmy Hendrix, Janis Joplin, The Doors. Bald ergriff das Can Fieber unseren ganzen Freundeskreis. Warnung, es besteht Suchtgefahr. Auch ich hörte Tag und Nacht diese Band - Mary, Mary So contrary -. Eingeweihte wissen was ich meine. Can war übrigens auch eine Lieblingsband von Sid Vicious, wie ich erstaunt aus der Biografie von Johnny Rotten erfuhr.
Was einem zuerst als reiner Free Jazz erschien - Unlimited Edition -, erschloss sich nach mehrmaligem Hören.
Eigentlich haben wir uns ja im Osten immer eingebildet trotz Mauer musikalisch auf dem Laufenden zu sein, aber die alte Krautrockband Can, die 1968 gegründet wurde, kannte merkwürdigerweise keiner von meinen Freunden vor der Wende.
Im Grunde habe ich mir von dem Solokonzert im Glashaus von der Arena nicht viel erwartet, der Musiker war schon älter, die Band Can gab es lange nicht mehr. Ich ging mehr unter dem Aspekt hin, den Orginalschlagzeuger noch mal live zu sehen.
Aber es kam mal wieder anders. Der Sound war magisch, berauschend und verstörend. Orientalische Stimmung verbreitete sich. Es war also viel besser als ich erwartet hatte. Im Publikum waren fast nur junge Leute, teilweise sogar noch im Gymnasiumsalter, die paar Älteren fielen richtig auf. Ich hätte nicht damit gerechnet das Can bei der Jugend von heute so bekannt ist. Übrigens Jaki Liebezeit war bei dem Konzert 75 Jahre, aber als Musiker ist er jung geblieben.
Jetzt, wo wir auch den Stadtbezirk Treptow-Köpenick mit einbezogen, konnten wir auch den folgenden Text veröffentlichen.
Ich freute mich besonders darüber, da von der Nalepastraße, dem ehemaligen Sendeort vom abgewickelten DDR Jugendradio DT 64, meine musikalische Sozialisation ausging.
Schlafen untem Apfelbaum1 oder Das Haus der stehengebliebenen Uhren
Als ich mir ein Fahrrad zulegte, entdeckte ich die Gegend hier am Ostkreuz, die eine reine Industriegegend ist, wo man wenig Leute trifft. An der Rummelsburger Landstraße fiel mir ein Straßenschild auf, dessen Aufschrift mir sehr bekannt vorkam. Nalepastraße stand dort.
Hier war es also, von wo aus die Ätherwellen kamen, die Farbe in das frustrierende Leben einer Vierzehnjährigen auf dem Dorf brachten, die mit der Welt nicht klar kam. Musik wurde das Elixier, was mir half durchzuhalten.
Dort, in der Nalepastraße, befanden sich, bis kurz nach der Wende, die wichtigsten Radiostationen der DDR. Ein herrliches, grünes Gelände direkt am Spreeufer. Die Leute habe dort bestimmt gerne gearbeitet. Jemand, deren Freund ein Schauspieler war, der oft Hörspiele beim Rundfunk produzierte, erzählte mir mal, dass er in einer Sommernacht dort auf einer Bank mit einer Flasche Wein eingeschlafen ist und morgens vom Vogelgezwitscher geweckt wurde. Dann wurde der Sender abgewickelt.
Das muss ja dann jahrelang da zugegangen sein wie damals bei Gritta von Rattenzuhausbeiuns, einer Fantasygeschichte, die Bettina von Arnim zusammen mit ihrer Tochter schrieb. Es gibt auch einen Defa-Film darüber. Die Ratten und Mäuse haben vergnügt im kleinen Sendesaal und im großen Sendesaal zu verbotenen Renftsongs getanzt, und keiner hat sie gestört, außer dass ab und zu mal ein einsamer Wachmann durch die langen Gänge geirrlichtert ist. Vielleicht haben sie im Giftschrank ja auch das Orginalband von meinem Lieblingslied „Sonne wie ein Clown“1 gefunden.
In das Sendehaus in der Nalepastraße, das fast 20 Jahre sanft vor sich her geträumt hat, ist wieder Leben eingezogen. Da werde sich die Mäuse und Ratten ja geärgert haben. Jetzt kriegen sie hier Techno auf die Ohren gedrückt.
Das löst das Nagerproblem auf natürlichem Wege. Ich als Maus jedenfalls würde freiwillig die Flocke machen. Wenn ich vorbeiradle, sehe ich, wie gutaussehende junge Männer Instrumente in das alte Gebäude schleppen. Da möchte man doch wieder 20 sein. Mir schweben da wilde Partys im Proberaum vor.
Aus den aufgeschnappten Gesprächsfetzen kann ich entnehmen, dass sie aus aller Herren Länder sind. Keith Richards und Ritchie Blackmore haben ja auch mal klein angefangen. Daniel Barenboim war auch schon da, aber natürlich nicht mit dem Fahrrad.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich wie in den Siebzigern zwei übernächtigt und zerzaust aussehende junge Männer in Schlaghosen und abgewetzten Lammfelljacken, namens Pannach und Kunert, ihre Gitarrenkoffer auf dem selben Weg zum Aufnahmetermin in den Sender tragen. Dort hat Luise Mirsch, ihre Produzentin, schon ungeduldig auf sie gewartet und natürlich auch ihr Stasispitzel. Im Studio ankommen, packten sie ihre Instrumente aus und sangen in die Mikrofone so was wie das hier:
Glaubte sie sei noch ein Mädchen
da war sie eine Frau
lachte mich an wie die Sonne
aus ihren Augen blau
sagte mir herrliche Worte
nahm meine Hände sacht
führte sie an mein Feuer mitten in der Nacht
machte mir kein Gewissen
es war wunderschön
aber ich kanns nicht verstehen
Renft 1973
Übrigens, die stehengebliebenen Uhren, die im ganzen Funkhaus rumhängen, wurden früher alle von einer Zentrale gesteuert, die schon lange außer Betrieb ist, aber die alten Lautsprecher aus dem VEB Musicelectronic Geithain erfüllen noch immer ihren Zweck. Aus der soliden DDR-Wertarbeit erklingen heute Beats von Elektronikkünstlern wie Ricardo Villalobos, Dillon und Nils Frahm.
1 alles Renftsongs
Den letzten Beitrag finden wir beide nicht besonders gut aber auch nicht so schlecht. „Wenigstens aber mal ein Text, wo es um Feminismus geht“, sage ich zu Don Pepino.
Zwei starke Frauen an den Ufern der Spree
Manchmal wenn ich am Rummelsburger See entlangradle, kucke ich noch nach ihr, aber ich habe sie nie wieder gesehen.
Es war ein sehr, sehr heißer Hochsommertag. Ich hatte mir auf einer Bank am Rummelsburger See ein schattiges Plätzchen gesichert. Ein Hund legte sich unter die Bank in den Schatten und machte trotz der Rufe seiner Besitzer keine Anstalten aufzustehn.
Schließlich resignierte sie und setzte sich neben mich. Sie war eine weißbehütete, kurzbehoste niedliche Brünette in den Dreißigern. Irgendwie hatte ihr Hund wohl mitbekommen, dass seine Herrin sozial ein bißchen isoliert war und versuchte sie mit Leuten ins Gespräch zu bringen, und er dachte wohl wir beide passen zusammen. Tiere sollte man nicht unterschätzen. Ich erfuhr von ihr, dass sie aus einem kleinen Ort in Bayern kommt, seit einigen Jahren in Berlin lebt und zur Zeit solo ist.
Sie hielt sich mit Hartz 4 über Wasser und war sich sogar nicht zu fein dafür, alle 14 Tage zur Tafel zu gehen. Außerdem hatte sie noch einen kleinen Nebenerwerb. Ich warnte sie davor, dass ihren Freunden so einfach zu erzählen. Da könnte Neid aufkommen. Darauf antwortete sie in ihrer freimütigen Art: „Wem soll ich das denn erzählen, ich habe gar keine Freunde.“ Ich habe noch nie gehört, dass jemand zugibt, keine Freunde zu haben.
Meistens belügt man sich da selber. Claudia stand also mit Hund Bruno weit entfernt von der bayrischen Heimat, nach der sie aber genauso wenig Sehnsucht hatte wie ich nach meiner, alleine in Berlin da.
Mit Claudia, die mir erzählte, dass sie mit Riesenschritten auf die Vierzig zugeht, hatte ich wohl meine Doppelgängerin im Geiste getroffen. Das hat sie wohl selber gespürrt und auch, dass ich nicht gerade auf dem Gipfelpunkt meines Daseins war.
Jedenfalls fing sie plötzlich an, mich zu motivieren. „Tanja, wir schaffen das. Wir sind starke Frauen. „ Die Frage ist aber: Was schaffen wir denn eigentlich? Das Leben ist kein Marathonlauf, wo man am Ziel steht und versucht die einlaufenden Läufer zu motivieren nicht aufzugeben, und die Ziellinie zu überqueren. Aber solche Ideen hatte ich auch früher einmal.
Ich hielt mich auch für eine starke Frau. Das nennt man wohl Selbstüberschätzung. Solche sogenannten starken Frauen finden sich schneller in Bonnys Ranch - Dietrich Bonhoeffer Nervenklinik - wieder, als man glauben mag. Ich denke da an die Nervenzusammenbrüche und Selbstmordversuche von Freundinnen hier in Berlin. Eigentlich hätten wir beide ja Freundinnen werden müssen, aber wir waren uns einfach zu ähnlich. Es war, wie wenn man sein Spiegelbild sieht.
„Was ist mit den Urheberrechten?“, werden sich viele fragen. Die Meisten haben es schon geahnt. Natürlich sind das alles meine Texte. Zweitausendzwanzig haben nur der Leiter, zwei Freunde von ihm und ich Texte beigesteuert. Von den Sachen der Anderen kann ich leider nichts zitieren, da ich keine Einverständniserklärung habe.
Ich könnte ja mal bei ihm anfragen, aber in einer ähnlichen Angelegenheit hat er schon mal sehr komisch reagiert. Im Gegensatz zu mir, die heilfroh ist, wenn sie irgendwer zitiert, kopiert usw. natürlich mit Quellenangabe, ist er um seine Rechte sehr besorgt.
Schade, denn er hat einen fesselnden Text über die „Kleine Melodie“ im Friedrichstadtpalast geschrieben, einem in den Siebzigern bekannten Musikklub. Auch seinen Bericht über das Konzert von SBB, einer polnischer Band, unter dem Riesenrad im Treptower Park hätte ich gerne wiedergegeben. Er ist hier aufgewachsen und kennt Berlin in den Siebzigern, wo es ziemlich interessant zuging. Jetzt liest das wahrscheinlich keiner außerhalb seines Freundeskreises.
Na ja, die Welt hat sich auch ohne unseren Literaturblog „Hundert Jahre Groß-Berlin“ weitergedreht.
Don Pepino schreibt in einem Pop-Art-Stil, der nicht jedermanns Sache ist. "Meine Freundin hat mir schon geraten, ich soll meiner Phantasie Zügel anlegen", sagte er. Ich fand, dass meine Beiträge, von denen ich selbst einige als ein bisschen hausbacken bezeichnen würde - soviel Selbstkritik muss sein - und seine, die in einer experimentellen, fast dadaistischen Schreibweise verfasst wurden, ein gutes Gespann bildeten.
Das sahen nicht alle so. Man forderte ihn auf, Änderungen vorzunehmen. „Das hätte meinen Text zerstört“, sagte er mir. Außerdem gefiel ihnen „Mein Herz brennt“ nicht, und er sollte ihn, der in seinen Augen der wertvollste Text war, unter den Tisch fallen lassen. Darauf wollte er sich nicht einlassen. Er gab die Leitung ab, und der Schreibblog war Geschichte.
Nicht mein Lieblingsgetränk hat Pate gestanden, als ich hier nach einer passenden Überschrift suchte, sondern der erste Bürgermeister von Groß-Berlin hieß so. Ein Name, der haften bleibt.
Viele wissen nicht, dass manche der Bezirke erst seit 1920 zur Stadt gehören. Ich ahnte vorher gar nichts davon, dass Charlottenburg einmal nicht auf Berliner Gebiet lag.
Das Projekt, bei dem ich vor einiger Zeit mitmischte, nannte sich „Hundert Jahre Groß-Berlin“. „Oh Gott, dass ist ja auch schon wieder fünf Jahre her“, geht mir gerade durch den Kopf. "Mensch, wie die Zeit vergeht".
Unserem Chef, ein Künstlertyp, der sich Don Pepino nannte, kam die Idee einen Schreibblog ins Leben zu rufen. Er, der ebenfalls schriftstellerte, wollte auch drei Storys beisteuern. Er war übrigens der einzige echte Berliner bei uns im Team.
Jeder, der schon etwas in der Schublade zu liegen hatte oder auch Neulinge auf dem Gebiet, sollten den Mut zusammennehmen und die Produkte ihrer schöpferischen Mühen einsenden. Der Haken war, dass die Geschichten in Friedrichshain-Kreuzberg spielen mussten, da wir hier stationiert waren und vom Bezirk gefördert wurden.
Ich verfasste eine Vorrede für den Blog. Sie gefiel aber Don Pepino nicht. Dafür kann man sie hier nachlesen.
Natürlich steht es felsenfest fest, dass jeder, der in Berlin im Literaturbetrieb irgendwie ein Bein auf den Boden kriegen will, darauf angewiesen ist, bei unserm Blog mitzumachen. Es hat sich schon rumgesprochen, dass am 100 Jahre Berlin Blog vom ... kein Weg vorbeiführt. Wir fischen die Straßen dieser Stadt mit dem Schleppnetz nach unentdeckten Talenten ab, und niemand entkommt uns. Wer auch nur irgendwie den kahlen Baum vor seinem Fenster gefällig beschreiben kann, melde sich bei uns. Garcia Marquez, Hesse und Karl May sollen sich warm anziehen, jetzt kommen wir.
Leute schreibt Geschichten für unseren Block. Sonst gefährdet ihr den Erfolg der Resozialisierung von unserem Chef Don Pepino, der gerade nachdem er eine empfindliche Haftstrafe wegen Erschleichung von Beförderungsleistungen abgesessen hat - in Wirklichkeit ist er noch mal mit einem blauen Auge davongekommen -, wieder in die Freiheit entlassen worden ist.
Das Verhängnis fing an, als er sich auf Filzsohlen, leise wie eine Katze, in einen grauen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Mantelkragen gehüllt, ohne Ticket in eine Straßenbahn schlich und hoffte übersehen zu werden.
Da hatte er aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. An der nächsten Haltestelle stieg der Kontrolleur zu und erkannte mit geübtem Menschenkennerblick seinen Pappenheimer.
Don Pepino wurde in Handschellen aus der Straßenbahn gebracht und einem Schnellrichter zugeführt. Von der standrechtlichen Erschießung, die ich für angemessener gehalten hätte, sah man aber ab und transportierte ihn stattdessen in ein Gefängnis, weit weg von Berlin, im tiefsten Westdeutschland.
Hier war er auf Zelle mit Willy, dem Frauenmörder. Vor 50 Jahren hatte Willy mal fast alle rothaarigen Frauen im Umkreis von 10 Meilen gekillt und alles nur, weil seine rothaarige Schwester ihm immer früher die Weihnachtssüßigkeiten weggegessen hatte. Don Pepino wurde einer Arbeitskolone zugeteilt, die mit der Spitzhacke im Steinbruch Steine klopfte. Übrigens, die historischen Pflastersteine auf dem Marktplatz in einem Städtchen in der Pfalz, über den früher eine stark befahrene Schnellstraße führte, die aber nach einem Volksentscheid wieder denaturiert wurde, sind von ihm.
Seine besten Kumpels bzw. Spanner wurden der grimmige Achmed, der ein herzensguter Mensch sein konnte, außer wenn er seine Momente hatte, und die hatte er meistens, Nikolai, der Russe, Joe, genannt der Dicke Joe, der ein paar Mädels am Laufen hatte und ein schweigsamer Kroate namens Dragan.
Das Verhängnis wollte es, das sich ein Ex DDR Bürger, ein ehemaliger Schulküchenleiter, mit List und Tücke die Stelle des Knastkochs erschlichen hatte. Doppelbödigkeit und ein Talent zur Schmeichlei hafteten ihm noch aus seiner Zeit als Führungsoffizier an.
In seiner Kochkunst machte er da weiter, wo er in der DDR aufgehört hatte. Das heißt es gab immer abwechselnd Lugenhaschee und Saure Nierchen. Der Dicke Joe nahm in 6 Wochen 28 Kilo ab und verdiente seinen Beinamen nicht mehr. Alle beneideten Don Pepino , dem die Kost nichts ausmachte.
Er war aus seiner Zeit in der Schulküche, der Werkskantine und der NVA, wo ihm die Geschmacksnerven kräftig abgestumpft wurden, Schlimmeres gewöhnt. Neidisch beobachtete Joe, der jetzt nicht mehr der Dicke hieß, als sie gerade bei einem Teller durchgedrehtem Gekröse in der Knastkantine saßen, wie Don Pepino, ein Schweinsauge, das ihm vom Löffel geflutscht war, seelenruhig im zweiten Anlauf in seinen Mund beförderte und ohne Anzeichen von Ekel durchkaute. Das hätte ein verwöhnter Wessi nicht drauf gehabt.
Der Don erzählt heute noch mit leuchtenden Augen von den Brotweinpartys im Knast, wobei ja ein besonderer Geschmackseffekt entstehen soll, wenn der Scheuerlappen, der als Tarnung über dem Brotweineimer liegt, in den Wein fällt.
Während der letzten Monate, die er absitzen musste, hat Don Pepino die Knastbibliothek unter sich gehabt. Ihm gelang es doch tatsächlich, Achmed, Nikolai, Dragan und den nichtmehrdicken Joe in Leseratten zu verwandeln.
Heute zieren Gesamtausgaben von Kafka, Dostjewski, Garcia Marquez und Thomas Mann in türkisch, russisch und kroatisch die Wohnwände seiner Kumpels. Achmed streitet sich mit Fatima, der Lieblingsfrau unter seinen drei Frauen darüber, ob „Die Dämonen“ oder „Der Idiot“ als das größte Werk von Dostojewski anzusehen sind. Fatima, die selber eine schwere Kindheit hatte, ist für den „Idioten“, weil ihr das traurige Schicksal von Nastasja Fillipowa nahegeht.
Die Mädchen von Joe, der jetzt wieder der Dicke Joe heißt, lesen außerhalb der Stoßzeiten „Sitte und Sexus der Frau“ von Simone de Beauvoir. Das könnte dem Dicken Joe aber auf die Füße fallen, denn Emanzipation und Prostitution das beißt sich bekanntlich. Es kann sein, dass er dann wieder in seinen alten Beruf als Gas-, Wassermonteur einsteigen muss. Aber wir wollen uns hier nicht den Kopf über anderer Leuts ungelegte Eier zerbrechen.
Ein anderes Problem besteht für den Don darin, dass sich Willy, dessen Haftbedingungen wegen seines Alters gelockert worden sind, auf Besuch in Berlin angekündigt hat. Bis jetzt konnte Don Pepino das noch abwenden, aber Willy bleibt hartnäckig. Das Problem ist nämlich, dass von Dons 8 Töchtern, aus 6 Beziehungen, drei rothaarig sind. Außerdem haben seine Freundin und seine Nachbarin auch rote Haare. Also Leute ihr seht schon, dem Mann muss geholfen werden. Wenn ihr keine Storys einsendet, fällt er wieder in sein altes Milieu zurück und nimmt schlimme Drogen und unterhält sich in der Straßenbahn wieder mit Magda Goebels und schwarzen Katern, und die Resozialisierungsmaßnahme ist gescheitert.
PS Übrigens mit zwei Schließern von damals ist Don Pepino noch in sehr engem Briefkontakt.
Ich ließ mich zu diesem Text von einem Video mit Helge Schneider inspirieren, zu dem mir Don Pepino einen Link geschickt hatte. Merkwürdigerweise war er not amused über das, was ich geschrieben hatte.
„Ich habe gar keine Kinder. Und im Knast war ich auch noch nie. Ich nehme auch keine Drogen. Seit ein paar Jahren trinke ich noch nicht mal mehr Alkohol. Außerdem bin ich ein Gourmet und Meisterkoch, was alle meine Freunde bestätigen werden“, sagte er. „Schweineaugen kämen mir nicht auf den Teller.“ Ich war erstaunt, denn ich dachte, er verstünde Spaß. Erst hat er mich mit dem Helge Schneider-Link auf Ideen gebracht, und wenn ich dann in den Fußstapfen des Meisters unterwegs bin, passt ihm das nicht.
So wurde auf der Webseite des Vereins ein Aufruf veröffentlicht, den er selber verfasst hatte.
Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Typen, die so offen und vorurteilsfrei waren, wie er sich gab, existierten gar nicht. Die Meisten taten immer nur so. Ich glaub auch gar nicht, dass er mich wirklich akzeptierte. Ich dachte zuerst, dass er so was ähnliches wie ein Lektor für mich sein könnte und mir seine ehrliche Meinung über die Texte sagt. Das wollte er wohl gar nicht. Vielleicht sah er in mir Konkurrenz.
Ich glaub, ich war in seinen Augen nur ein naives Dummchen, das in einem holperigen Stil schrieb.
Bald trudelten die ersten Einsendungen ein. Von einem Beitrag über das Gefängnis in Rummelsburg war der Don gar nicht so begeistert. „Sie denkt wohl, was mit Nazis geht immer“, mokierte er sich über die Verfasserin. „Na ja, wenn wir zu wenig Beiträge haben, nehmen wir sie auch noch mit auf. Und außerdem haben wir das Problem, dass das Gebäude sich schon in Lichtenberg befindet.“ Ich gebe zu bedenken, dass es bis zur Stadtteilgrenze nicht weit ist.
Eine Britta F. schrieb:
Wir Weihnachtshexen
Kurz vor Weihnachten 2019 war ich mal abends mit dem Fahrrad in dem neugeschaffenen Wohngebiet auf der Lichtenberger Seite des Rummelsburger Sees unterwegs. Ich kurvte auf dem Gebiet des ehemaligen Gefängnisses, dass jetzt ein Wohnviertel ist und zwischen den neuen Reihenhäusern herum. Keine Seele war mehr unterwegs, nur ab und zu hielt ein Auto. Ich genoß die Stimmung kurz vor Weihnachten und die vielen geschmückten Fenster und Tannenbäume in den Vorgärten.
Im Grunde genommen gefiel mir wohl die gutbürgerliche Atmosphäre, die diese Gegend ausstrahlt, wo die Mieten nicht billig sind. Warum reißt mein Freund sich nicht ein bißchen zusammen, dann könnten wir uns hier vielleicht auch eine Wohnung suchen, ging es mir durch den Kopf.
Es war beim Medaillonplatz.
Dort hatten im Sommer noch junge Familien gefeiert, und ein kleiner Junge hatte mir zutraulich einen großen Ball zugeworfen. Die Erwachsenen sahen alle irgendwie angestrengt aus. Jetzt in der Nacht und kurz vor Weihnachten war hier alles total verlassen. Da bemerkte ich, dass ich nicht alleine war.
Aus großen traurigen Augen blickte mich eine dunkelhaarige Frau an. Sie wirkte wie jemand, der an gar nichts mehr glaubt. Die Rede ist von einem Foto, dass sich auf einer der Stelen befand. Die Stelen dienen dem Gedenken an die Opfer des Assiparagraphen, die während der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der Nazizeit und in der DDR im Rummelsburger Arbeitshaus eingesperrt waren. Einige davon fielen auch der Euthanasie zum Opfer. Der gesunde Volkskörper sollte von ihnen befreit werden.
Wir beiden Frauen standen uns zu dieser späten Stunde auf diesem verlassenen Platz Auge in Auge gegenüber, und mir fiel auf, dass die abgebildete Frau mir nicht unähnlich sah. Dich konnten sie also auch nicht leiden. Hallelujah Schwester. Auf dem Text unter dem Foto war zu lesen, dass sie wohl Probleme mit Männern, mit Geld und mit Alkohol hatte. Also das Übliche, was vielen gar nicht so fremd vorkommt.
Ihr und den Frauen auf den Stelen nebenan, war es wohl nicht gelungen, einen soliden Berliner Handwerksburschen zum Traualtar zu führen und eine bürgerliche Familie zu gründen.
Es waren Außenseiterinnen, die von der Gesellschaft nicht gemocht worden sind, weil sie dem Bild, wie eine Frau zu sein hat, so gar nicht entsprachen. So wurden sie zwar nicht mehr öffentlich als Hexe verbrannt, sondern eingeknastet, was oft auf das gleiche hinauslief.
Übrigens einem Freund von mir, der während der DDR Zeit wegen 500 Mark Staatsschulden - Schwarzfahren mit der Reichsbahn - in Verbindung mit keinem festen Arbeitsplatz ein Jahr in Rummelsburg inhaftiert war, fiel bei einer ABM Maßnahme die Aufgabe zu, seinen eigenen Knast abzureißen.
Zu der nächsten Einsendung sagt Don Pepino, der seit vielen Jahren im Prenzlauer Berg wohnt: „Den Dichter, um den es hier geht, kenne ich persönlich seit tiefsten Ostzeiten von illegalen Lesungen her. Der Beitrag dreht sich nur um den Prenzlauer Berg, und kommt deshalb eigentlich nicht für unseren Blog in Frage, aber da ich diesen Stadtteil als meine Heimat betrachte, mache ich mal eine Ausnahme und nehme ihn mit auf.“
Zu viel Temperament
Eine Freundin schickt mir eine Mail. „Kanntest du ...?* Er ist vor kurzem verstorben. Du bist doch aus dem Osten?“
Ich war vierzehn, als sie in der DDR mal eine Zeitschrift für junge Literatur herausgaben namens „Temperamente“. Daher kam mir der Name, der sehr auffällig ist, bekannt vor. Von ihm waren in jeder Ausgabe Beiträge. Wenn ich, die in einem Dorf in Mecklenburg aufgewachsen ist - gleich in der Nähe von seiner Heimatstadt - in die Kreisstadt fahren musste, ging ich zum Zeitungskiosk und kaufte die neueste Ausgabe.
Damals, mit vierzehn, fünfzehn, fand ich seine avantgardistischen Gedichte langweilig und hätte gern mehr Prosa in der Zeitung gelesen. Nicht, dass man jetzt die Vorstellung hat, dort wären irgendwelche aufmüpfigen Sachen abgedruckt gewesen. Alles war superbrav und langweilig. Es wurde wohl streng zensiert.
Unser sozialistischer Alltag, der ein bisschen grau und kahl war – ist das jetzt im Westen besser -, durfte nicht so abgebildet werden, wie er war. Das hätte dem Klassenfeind in die Hände gespielt. In den Büchern bei uns heirateten immer der Brigadier und die Parteisekretärin, und jeder machte Neuerervorschläge, wie man die Effizienz seiner Maschine noch verbessern konnte. Jeder, der halbwegs das Leben kannte, las den Quatsch mit Einsetzen des Erwachsenenalters nicht mehr.
Aber vielleicht waren ja auch in Wirklichkeit keine besseren Storys vorhanden. Ein paar sind mir trotz der vielen Jahre, die vergangen sind seitdem, noch im Gedächtnis hängen geblieben.
Zwei gute Kumpels, die auf Montage sind, wollen zusammen in ihrer Arbeiterunterkunft Weihnachten feiern. Dazu kaufen sie sich je einen halben Broiler und einen Kasten Bier.
Jemand wird von seiner Nachbarin gebeten, auf einen älteren Herrn, der unter ihr wohnt, zu achten. Er hatte einen Herzanfall, und sie muss zur Telefonzelle laufen. Keiner hatte seinen eigenen Apparat bei uns.
Natürlich kann er ihr die Bitte nicht abschlagen, auch wenn er in Eile ist. Er sitzt auf seinem gepackten Rucksack und will unbedingt den Zug, der ihn nach Rumänien bringen soll, erreichen. In seiner Gegenwart geht es mit dem Mann zu Ende.
Die Nachbarin kommt wieder und sagt, dass bald Hilfe eintrifft, und er kann endlich zum Bahnhof eilen. Erst als er im Zug sitzt, wird ihm klar, dass gerade in seiner Gegenwart ein Mensch gestorben ist, und dass ihm das völlig egal war. Das fand ich stark.
Oder das mit der Schwiegermutter, der die völlig unfähige Freundin, die ihr Sohn mit nach Hause gebracht hat - sie kann eigentlich gar nichts im Haushalt, nicht mal im Bett klappt es bei den Beiden - leid tut, und die ihr helfen will, weil sie sich Sorgen macht, dass ihr Sohn sich bald was anderes sucht. Dann würde ihre Schwiegertochter, die niemanden weiter hat, allein dastehen in der Welt.
Das letzte, woran ich mich noch erinnern kann, ist ein Bericht über eine Tournee der Engerling-Blues-Band. Sie schleppten damals doch tatsächlich ihr Equipment zur Autobahn und trampten zu den Konzerten, die meist in Dörfern von privaten Kneipenwirten veranstaltet wurden. Bei ihrem Fernsehauftritt weigerten sie sich zu playbacken und drohten damit zu gehen.
Mit einem Mal ging es doch mit dem Livespielen. Fand ich cool von Engerling, dass sie so fest geblieben waren. Daran muss ich immer denken, wenn ich sehe wie bei Shows im Fernsehen die Sänger den Mund auf- und zumachen, was alles steril wirken läßt.
Trotz der Harmlosigkeit des Abgedruckten bekamen die Verantwortlichen bald Angst vor ihrer eigenen Courage und stellten das Heft ein.
Der Dichter, von dem oben die Rede ist, gehörte der intellektuellen Prenzlauer Berg Szene an. Bei uns in der DDR herrschte immer eine gewisse Feinseligkeit zwischen den Bluesern, zu denen ich mich zählte und den Intellektuellen.
Die hielten sich meist Anderen überlegen. Wenn man spürt, dass einem Vorurteile entgegengebracht werden, entwickelt man auch Vorurteile.
In der Schönhauser Allee gab es zu DDR-Zeiten ein Lokal, das sich „Wiener Café“ nannte. Es war auch ein Stammcafé von Sascha Anderson, einem bekannten Stasispitzel aus der sogenannten Prenzlauer Berg Szene. Er hat alle an der Nase rumgeführt. Ein bisschen schadenfroh war ich ja schon, denn dort saßen die von sich eingenommensten Leute von der Welt rum, dachte ich zumindestens, bis ich in den Hausbesetzercafés die Autonomen kennengelernte. Dort galten die Punks als die Prolls, so wie früher im Osten wir Blueser.
Mir ist unbegreiflich, dass von unseren schriftstellerischen Talenten aus dem Osten, die vor dem Mauerfall natürlich kaum eine Möglichkeit hatten, etwas zu veröffentlichen, was nicht hundertprozentig auf der Linie der Parteiführung lag - Druckgenehmigungsbehörde hieß das Hindernis -, komischerweise wenig kam, als ihnen alles offenstand.
So mancher hatte in der Prenzlauer Berg Szene den Ruf, der zukünftige Salinger der DDR zu sein, wenn man ihn denn lassen würde, wobei ich aber ehrlicherweise eingestehen muss, dass ich davon niemand kenne und in diese Kreise nie reingehört habe.
Viele wurden wohl überschätzt, oder überschätzten sich selbst. Ich kann viel davon reden, wieviel Bücher ich schreibe, wenn man mich lässt, aber dann lässt man mich, und nichts kommt.
Auch die Bands, die sich „Die Anderen Bands“ nannten, lösten sich nach dem Fall der Mauer rasch auf. Ihr schöpferisches Potential war verpufft. Ausgerechnet jetzt, wo sie die Möglichkeit hatten aufzutreten, und Platten zu machen. Schade. Von ihnen hätte ich noch einiges erwartet. Ihre Musik war wohl nur ein Druckventil, um Dampf abzulassen, eine Funktion, die sich mit dem Systemwechsel erledigt hatte. Außerdem war die Hälfte sowieso IM.
Es gab aber ein Band, die sehr gut wurde, und die vor einiger Zeit in die Schlagzeilen geriet, weil man ihnen den Gebrauch von KO-Tropfen vorwarf. Mutige Frauen waren damit in die Öffentlichkeit gegangen. Anwälte bezichtigten sie zu lügen.
*Bert Papenfuß Gorek
„Was hältst du davon?“, fragte der Don mich und zeigte mir die nächste Einsendung. Der Text hieß „Risiko“ und beschäftigte sich mit dem gleichnamigen Szenelokal, das sich Anfang der Achtziger genau an der Grenze zwischen Kreuzberg und Schöneberg befand. Eigentlich interessierte er sich gar nicht dafür, was ich dachte und fragte nur aus Höflichkeit nach meiner Meinung. Ein Intellektueller wie er nahm mich sowieso nicht für voll.
Heute am 25.08.018 tanzen über 10000 Raver im Zug der Liebe durch die Stadt. Nächstes Jahr soll das aber wegen Geldmangel ausfallen.
Jemand behauptet großspurig von sich, dass ganze chinesische Volk zu sein
Fans wissen von wem die Rede ist.
Einstürzende Neubauten habe ich zum erstenmal 89 bei Punks im Prenzlauer Berg gehört. Man legte sich schlafen und die Musik wurde laut aufgedreht. Ich fragte die anderen, wer diese sehr, sehr ungewöhnliche, disharmonisch klingende Band ist. Alle staunten, dass ich die Neubauten nicht kannte.
Nach der Wende wollte ich die Gunst der Stunde nutzen und alles nachholen und besorgte mir in Kreuzberg Platten (war noch vor der CD Einführung), mit denen ich aber ehrlich gesagt nicht viel anfangen konnte.
Ein Kumpel, der Punk war, sah diese eines Tages bei mir und hörte sie begeistert stundenlang hoch und runter und sang die Texte auswendig mit. Er sagte von sich: „Ich bin Einstürzende Neubauten“.
Ein Dachgeschoß wird ausgebaut
Ein Kollege, der in den 80zigern im Risiko, wo Blixa Bargeld hinterm Tresen stand, verkehrte, aber nicht schreiben will, gab mir den Rat im Internet zu recherchieren. So begebe ich mich jetzt auf eine fiktive Reise in die Vergangenheit, die nicht meine war, garantiert drogenfrei und wofür ich mich noch nicht einmal selbst in die Yorkstraße bemühen muss, weil es das Risiko schon lange nicht mehr gibt. Es ist ja fast so, als ob ich über den 30 jährigen Krieg schreiben würde.
Frauenpower oder Powerlesben
Zuerst sah ich mir dazu die Dokumentation „B Movie – Westberlin in den 80zigern“ an.
Ich sehe das realistisch. Dem intellektuellen Männerbund im Risiko wäre ich als naive Landpomeranze wohl nicht gewachsen gewesen. Im besten Fall wäre ich vielleicht noch gutmütig belächelt worden .Ich mag Leute nicht, die anderen das Gefühl geben, total uninteressant zu sein. Hinter Hochnäsigkeit und Coolheit tarnt sich aber manchmal auch ein empfindliches, sensibles Künstlergemüt, bloß man darf sich nicht zu lange tarnen.
Einen Künstler macht ja auch aus, dass er sich die kindliche Fähigkeit zu Neugier und Staunen erhalten hat. Seine Tochter Valeska sagte einmal über ihren Vater den Schriftsteller Henry Miller, dass er interessiert und vorurteilsfrei jedem Menschen gegenüber war und sich mit Hinz und Kunz stundenlang in angeregte Gespräche verwickeln konnte. Der größte Feind des Menschen ist das Vorurteil (Hölderlin).
Und die Powerfrauen von der Blutigen Doris hätten mich sowieso nicht mitsingen lassen (Scherz, ich kann gar nicht singen, aber das behauptet man von Johnny Rotten, Bob Dylan und Monchi, dem Sänger von Feine Sahne Fischfilet ja auch).
Um ein Künstler zu sein, ist es wohl unabdingbar an vollkommener Selbstüberschätzung zu leiden, egal welche Kunst man betreibt.
Warum eigentlich sind bloß die meisten Frauen, die in der Musikszene was reißen, Lesben, meine Lieblinge Sleater Kinney leider auch. Was ist mit uns Heterofrauen. Ich glaube die Frau läßt da nur den Kerl in sich raus. Was da auf der Bühne rumspringt ist ihr männliches Ich.
Im coolen Outfit, mit coolem Gesichtsausdruck in einem Szenecafe rumstehn und sich innerlich zu Tode langweilen hat mich immer angekotzt, kenne ich aber zur Genüge und ebenfalls, seine Zeit damit zu verplempern am richtigen Ort, die richtigen Leute zu treffen.
Die Dokumentation über das Westberlin der 80ziger fand ich übrigens total langweilig und war eigentlich froh das der Film zu Ende war. Der Filmemacher hat, ähnlich wie Pamela des Bares in ihren Groupieerinnerungen (Light my fire), wohl zu viel verschwiegen. Man hat ständig das Gefühl, dass etwas weggelassen wurde und nicht das Uninteressanteste.
Manchmal kommt man nicht umhin, sich selbst zu entblößen. Manche Schriftsteller schreiben ja nur über sich selbst wie zum Beispiel Henry Miller (Wendekreis des Steinbocks).
Übrigens aproppos langweilig: eine Freundin hat schon dreimal vergeblich versucht den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders (hat auch im Risiko verkehrt) zu sehen, sie ist immer wieder dabei eingeschlafen. Ich hoffe, Euch geht es bei diesem Text nicht genauso.
Das Risiko war wohl so was ähnliches wie die Fabrik von Andy Warhol, ein Cocktailshaker, indem viele nach intellektuellen Reibungsflächen Suchenden durcheinandergeschüttelt wurden, so dass eine geniale Mixtur entstand. Was in Berlin Die Einstürzenden Neubauten waren, war für die Fabrik in New York Velvet Underground. Meine Lieblingsplatte ist übrigens die, wo der Mann mit den Strapsen auf der Innenseite vom Klappcover drauf ist.
Eine Parallele ist wohl auch der Drogenkonsum. Andy Warhol hat in seiner Fabrik so viele Leute an Drogen rangebracht, dass es vielen nicht leid getan hat, als er von Valerie Solanas (lesbische Feministin) über den Haufen geschossen wurde. Ähnlich sah es wohl auch im Risiko aus.
Der Chef Alex Kögler ist vor ein paar Jahren eines natürlichen Todes gestorben und nicht von der Tödlichen Doris über den Haufen geschossen worden.
Ich war übrigens 97 mal bei einem Konzert der Einstürzenden Neubauten in der Arena Treptow. Ich fand es so lala. So wie zu ihren wilden Zeiten wie bei einem Konzert in London, wo sie noch den Bühnenboden durchgesägt haben, waren sie lange nicht mehr drauf.
Die Desoxyribonukleinsäure unsere DNA
Apropos, weil Blixa da gerade unsere Erbsubstanz besingt, ich bin der Meinung, dass in den vierzigern in England ein Atommeiler explodiert ist (Scherz) und das vertuscht worden ist. Die daraus resultierenden genetischen Mutationen betrafen nur männliche Eizellen. Das Resultat waren sehr gut aussehende, hochmusikalische junge Männer.
Sie hießen unter anderem Eric Clapton, Keith Richards, John Lennon, Steve Miller, Joe Strummer und Nick Cave, der auch im Risiko verkehrte. Aber wo sind eigentlich die englischen Musikerinnen.
Die andere Seite der Medaille ist aber, dass die englischen Männer dafür alle ein bißchen verrückt sind (Scherz).
"Damals als wir Deutschen noch Musik gemacht haben."
wie die Musikjournalistin Annika Trost in der BZ einmal treffend formulierte.
An den Wessimusikern bewundere ich die Krautrocker aus den 70 zigern wie Can, Amon Düe, Tangerine Dream, Eloy. Den deutschen Musikern liegt wohl das unterkühlte. Eine logische Weiterentwicklung ist wohl Techno, wovon ich aber kein Freund bin.
Und was hat das alles nun mit dem „Risiko“ unter den Yorkbrücken zu tun, werden sich viele Eingeweihte, zu denen ich ja nicht gehöre, fragen.
Irgendwie nicht viel, aber auf der anderen Seite auch eine ganze Menge. Soll ich vielleicht etwas kritisches schreiben über ein künstlich geschaffenes Biotop von jungen Männern, die aus bildungsbürgerlichen Familien stammen und mit Hausmusik aufgewachsen sind, oder etwas über einen Haufen hochintelligenter, interessanter Leute, die sich das Hirn wegballern, weil sie nicht damit klarkommen, dass sie nicht genauso Oberpostdirektor wie ihr Vater geworden sind.
Aber diese abgefallenen Bürgersöhne haben verdammt gute Musik gemacht siehe Jaki Liebezeit, Edgar Froese, Blixa Bargeld usw.. Und das ewige Gejammer mit dem Drogenkonsum. Das scheint bei Musikern ja sowieso eine Berufskrankheit zu sein, wie eine Staublunge bei Bergarbeitern.
PS Die Titelzeile ist einem Song von den Einstürzenden Neubauten entnommen.
Ich antwortete Don Pepino: „Also mir gefällt der Text. Ich würde ihn auf unsere Website stellen. Er hatte dieselbe Meinung, hatte aber Bedenken, weil das „Risiko“ auf der entgegengesetzten Seite der Yorkbrücken und damit nicht mehr in Kreuzberg lag. Ein Kollege, der aus Kreuzberg war, setzte sich aber sehr dafür ein, dass die Geschichte über das Risiko veröffentlicht wird. „Ich kenne die Kneipe noch selber. Wie oft habe ich dort mit Blixa gesoffen. Vielleicht ist die Phantasie mit der Autorin ja manchmal ein bisschen durchgegangen. Ich würde den Text aber auf keinen Fall unter den Tisch fallen lassen.“
Nächste Einsendung.
Der Apfel – Unsere Stadt soll essbar sein
Da lag er nun so einfach so auf der Skalitzer Straße und schaute mich an. Er, riesig, gelb, rund und glänzend, ein Prachtexemplar von einem Bananenapfel, rief mir zu: „Heb mich auf, und beiß in mich rein.“
Mir, die ich auf dem Fahrrad zu meiner Arbeitsstelle am Südstern unterwegs war, war nicht ganz klar, ob ich es nötig hätte, Obst von der Straße aufzuheben. Ich war schon ein ganz schönes Stück weitergefahren, als es mir anfing, wegen dieser Verschwendung von Nahrungsmitteln leid zu tun. Also kehrte ich um und besah mir meinen Fund.
Inzwischen waren schon einige andere Fahrradfahrer achtlos an ihm vorbeigefahren, aber Gott sei Dank nicht über ihn rüber. Ich beschaute ihn mir genauer. Tatsächlich wies er keine Druckstellen auf. Er schien also aus keiner großen Fallhöhe gekommen zu sein.
Aber wie war er wohl verloren gegangen? Ich sah mich um, ob mich jemand dabei beobachtete. Dann bückte ich mich und hob den Apfel auf.
Hier in Friedrichshain Boxhagener Straße Ecke Neue Bahnhofstraße habe ich mal gesehen, wie ein Mann eine weggeworfene Birne von der Straße aufnahm und gierig hinein biss.
Ich steckte ihm ein bisschen Kleingeld zu für einen Döner. Aber wahrscheinlich ist es wohl eher für Zigaretten draufgegangen. Mitgefühl verspüren meist nur Leute, die aus eigener Erfahrung wissen, wie das ist.
Ich erinnere mich an einen Studentensommer vor vielen Jahren in der Großbäckerei in der Saarbrücker Straße. Einige Kommilitoninnen von mir warfen einfach während der Schicht aus Gag ein noch warmes Bauernbrot aus dem Fenster. Nach Feierabend war es verschwunden, und sie konnten sich nicht mehr einkriegen vor Lachen darüber, dass es tatsächlich Leute gibt, die Brot von der Straße aufheben.
Im Grunde waren sie nette Mädchen, aber noch nie mit Notsituationen konfrontiert worden. Uns ging es sogar mal so mäßig, dass ein Apfelbaum an der Rummelsburger Landstraße die Rettung in der Not für mich und ein paar Kumpels war.
Dasselbe war es mit einem Rosenkohlfeld in Lindenberg bei Weißensee. Das ist aber schon fast 30 Jahre her. Ich glaube momentan würde mir eine Apfel- und Rosenkohldiät eher guttun, aber es muss ja nicht unbedingt sein.
Aprikosenträume
Die Zweige des Aprikosenbaums hingen über die Mauer, die das Gelände des ehemaligen DDR-Rundfunks in der Nalepastraße, wo schon seit den Neunziger Jahren Stillstand herrschte, umgab. „Unser Baum“, tauften mein Freund und ich ihn. Vielleicht hat dort ein Redakteur vor langer Zeit mal einen Kern weggeworfen in der Pause.
Wer so einen Baum in der Nähe hat, weiß wie schön die Blüte ist.
Im ersten Jahr leuchtete nur eine einsame Frucht in den Zweigen, im Jahr darauf bogen sich die Äste unter der Last der vielen Aprikosen. An der Mauer lehnte eines Tages eine Holzleiter. Wir nahmen die Einladung an. Die süßesten Früchte, die ich je gegessen habe. Jedes Frühjahr freuten wir uns schon auf die Baumblüte.
Auf dem Gelände wurde gebuddelt. Wozu, dass wussten die Verantwortlichen vielleicht selber nicht. Die Arbeiten stagnieren schon seit ewigen Jahren, haben dieses Naturparadies aber in unwegsames Gelände verwandelt. Auf das Flecken Erde, wo sich der Baum befand, wurde achtlos Bauschutt gekippt. Der Aprikosentraum war zu Ende.
Dieser kurze Text gefiel Don Pepino nicht so gut wie der über das „Risiko“. „Das ist Sozialkitsch. Aber wenigstens spielt die Story in Kreuzberg auf der Skalizer. So bekommen wir keinen Ärger, dass wir den Stadtbezirk verlassen haben. Da legen die nämlich Wert drauf.
Die nächste eingesendete Story war wieder ein kürzere Geschichte, die sich mit der Kantine am Berghain beschäftigte und hieß
Coole Leute - Heiße Luft.
In der Zeitung stand: „Die Band hat bisher noch jeden Saal leergespielt“. Das machte mich neugierig. Ein Elektronikevent stand ins Haus Neben dem Großen, ein weltberühmter Technoschuppen, stand sein kleiner Bruder, ein einfacher Flachbau. In den „Großen“ hätten sie mich sowieso nicht reingelassen, weil ich nicht cool genug rüberkomme. Und eine gelbe Brille setze ich mir deswegen nicht auf. Deshalb wollte ich wenigstens mal in den „Kleinen“.
Erst mal ging es durch unwegsames Gelände. Diese Prärie hätte ich nicht am Ostbahnhof vermutet.
Zwei freundliche Transen, die dort den Einlass machten - im Berghain selbst war wohl am selben Tag ein Konzert in der Panoramabar - wiesen mich nach links, wo sich ziemlich versteckt die Kantine befand.
Die meisten Leute hielten sich vor dem Gebäude auf. Nachdem ich eingetreten war, wurde mir auch klar weshalb. Man prallte ja regelrecht gegen eine Wand aus schlechter Luft und Hitze. Also wieder nach draußen. Dort kam ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die mir erzählte, dass das Konzert erst um elf anfangen sollte.
Sie wusste es aus erster Hand, denn ihr Kumpel sollte der Eröffnungsmusiker sein. Also musste ich noch anderthalb Stunden rumbringen. Wir setzen uns in einiger Entfernung von der Kantine auf die Bordsteinkante.
Viele von den Besuchern waren wohl auch das erste Mal da. Alle liefen an mir vorbei, zwischen den Müllcontainern hindurch, die Kellereinfahrt runter und rüttelten dann verzweifelt an der Kellertür. Keiner fragte mich nach dem Weg. „Ihr müsst um das Haus herum laufen“, rief ich den Verirrten hinterher, die gerade dabei waren gegen die Kellertür zu treten.
Mit zwei Stunden Verspätung begann endlich das Konzert. Also wieder rein in die Demse. Wer Jazz und Elektronik liebt, ist auf seine Kosten gekommen. Der erste Musiker war der Kumpel von meiner neuen Bekannten.
Er hatte verschiedene Klangkörper aufgebaut, auf die er abwechselnd schlug. Leider etwas kurz nur, aber er freute sich, als ich ihm später sagte, dass mir sein Auftritt gefallen hatte. Überhaupt kommt man manchmal mit Musikern am Bierstand leichter ins Gespräch als mit den anderen Konzertbesuchern.
Obwohl es erst so spät angefangen hatte, waren die Umbaupausen auch nicht ohne. Ich musste immer wieder fasziniert einen Mann bzw. eine Frau anschauen.
Manchmal war ich mir völlig sicher, dass ich eine Frau vor mir hatte, dann überkamen mich wieder Zweifel, weil die Person bestimmt Schuhgröße 48 hatte und fast 2 m groß war.
Derjenige - Diejenige musste schon schmunzeln, aber an erstaunte Blicke war sie er bestimmt gewöhnt.
Die Kantine am Berghain war früher ursprünglich ein reiner Schwulentreff. „Bin ich hier die einzige Normale unter Verrückten oder umgekehrt?“, frage ich mich. Der Gedanke kommt mir, weil ich weit und breit die Einzige zu sein scheine, die nicht abgeneigt ist, mit Anderen ins Gespräch zu kommen. Kein Wunder, stamme ich doch mütterlicher- und väterlicherseits von kontaktfreudigen, neugierigen Leuten ab.
Meine drei Cola-Wodkas verstärkten das Bedürfnis nach Kommunikation nur noch. Leider sahen alle an mir vorbei. Ich war die Königin aller Uncoolen. Das fiel mir nicht zum ersten Mal auf.
Jeder, außer mir, schien sich pudelwohl zu fühlen in dieser Gefrierfrostatmosphäre.
Ich bin der Typ, der überall mitgemischt hat, aber immer fand, dass ich eigentlich nirgendwo so richtig hinpasste und hoffte, dass das nicht auffiel. Mein Versuche, die Farben der Umgebung anzunehmen, waren von wenig Erfolg gekrönt.
So war ich nicht Fisch noch Fleisch. Die Normalen mochten mich nicht, und zu der alternativen Szene gehörte ich auch nicht wirklich mit dazu, so sehr ich mich auch bemühte.
Wenn man in Berlin irgendwohin geht, wo man niemanden kennt, prallt man gegen eine Mauer.
Alle meiden einen wie eine Leprakranke
- zum Glück hatten meine Ärmel Überlänge, so dass sie meine Hände bedeckten, und niemand konnte sehen, dass ich an jeder Hand nur drei Finger habe. Na ja, der Ehrlichkeit halber, an der Rechten sind es bloß zweieinhalb -
und geben einem zu verstehen, dass sie nichts mit einem zu tun haben wollen und man gefälligst dahin gehen soll, wo man hergekommen ist.
Das ist besonders in alternativen Kreisen sehr ausgeprägt. Ich habe schon mal nach einem Jazzkonzert eine Depression bekommen. Dasselbe in einem besetzten Haus. Anschluss zu finden, funktioniert eigentlich nur über die Mann-Frau-Schiene.
Wenn jemand bei meinem Anblick denkt: „Mann, mir ist heute gerade so“, könnte es etwas werden mit der Anschlussfindung. Frauen bracht man gar nicht anzureden, wenn man das selbe Geschlecht hat. Die sehen in einem nur die Konkurrenz.
Das fällt zwar weg, wenn man das Gespräch mit Männern sucht, dafür kann es passieren, dass sie sich blöd angemacht fühlen. So nach dem Motto: „Was will die Alte von mir?“. Ich brauchte erst ein Weile, um zu kapieren, dass einer Frau alle Kontaktversuche in öffentlichen Räumen wie Konzerthallen, Kneipen, Clubs als Anbahnungsversuche ausgelegt werden. Freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen ist schwierig.
Übrigens bei der Band haben die zitty Redakteure richtig gelegen. Zum Schluss, es war wohl gegen halb drei, waren nur noch eine Japanerin, ein junger Mann und ich die letzten Zuhörer, obwohl es zu Anfang gut gefüllt war.
Meine neue Bekannte, mit der ich auf der Bordsteinkante vor dem Club gesessen hatte, hatte sich auch schon verflüchtigt, nachdem sie wohl mitgeschnitten hatte, dass ich nicht gerade zum coolen Insiderkreis gehörte.
Sie hatte den entschlossenen Blick, den Leute haben, die sich vorgenommen haben, alles richtig zu machen. Am wichtigsten ist es dabei, uncoole Leute zu meiden.
"Bestimmt will sie nichts falsch machen, und sich nur mit den Richtigen anfreunden, die ihr nützlich sein können", denke ich verständnisvoll.
Man zeigte Videos, die mit einer Elektronikmugge, die ein bisschen an Einstürzende Neubauten erinnerte, unterlegt wurden. Aber mir hat es gefallen. Die „Kassette „ - ich wußte gar nicht, dass sowas noch hergestellt wird, die ich mir am Merchandisestand kaufte, kann ich als Rausschmeißer benutzen, um unliebsame Gäste loszuwerden.
Pepino meinte zu mir: „Die Story ist im Kasten.“ Sie ist erstens nicht zu lang und spielt zweitens in Friedrichshain. Außerdem erreichen wir damit auch junges Publikum.
Endlich erreichte uns mal eine Einsendung, wo es um das Kreuzberg ging, in dem die Leute auf die Straße gingen um zu protestieren. „Hast du das in der Presse mitgekriegt, wie Jemand sich das Leben genommen hat, weil er wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde.
Er hatte das Haus Anfang der Achtziger mit Anderen besetzt und war der Einzige von den ehemaligen Hausbesetzern, der noch dort gelebt hat. Jetzt natürlich mit Mietvertrag.“ Ich erwidere Don Pepino: „Ja ich habe davon gehört. Aber ist das nicht ein bisschen übertrieben. Vielen geht es ja genauso.“
Maura, eine junge Frau, die bei unserem Verein angestellt ist, antwortet: „Meine Eltern, die beide früher Hausbesetzer waren, kannten ihn. Sie sagen, dass er depressiv war.“ Maura ist übrigens in einem Haus in Kreuzberg, dass Anfang der Achtziger besetzt wurde, aufgewachsen. Eine Kindheit, die außerhalb meines Vorstellungsvermögens liegt.
Mein Herz brennt
„Ich würd am liebsten tot sein, und von allem nichts mehr sehn.“
Ton Steine Scherben
Sie hatte keine Lust mehr. Sie wollte nur noch schlafen. Mit geöffneten Augen träumte sie sich weit weg von hier, in ihre Kindheit im fernen Thüringen. Sie war nicht mehr bereit zu kämpfen. Auf dem Tisch stapelten sich ungelesene Behördenbriefe.
Durch das trockene Beamtendeutsch stieg sie nicht mehr durch. Sie begriff nur, diese Stadt wollte sie nicht mehr haben und spieh sie einfach aus. Sie wollte und konnte nicht noch mal neu anfangen mit fast 70.
Die jungen Leute von der Intitiative gegen die Räumungen waren sehr nett, aber sie konnten sich nicht richtig in ihre Situation hineinversetzen. Sie war immerhin zwei Generationen älter als die meisten von ihnen. Wenn sie wieder umzog, kam nach einiger Zeit vielleicht wieder ein neuer Eigentümer, der sie raushaben wollte. Ihr ging durch den Kopf: „Komme ich denn niemals irgendwo an?“
Vor der Tür standen schon die Beamten mit ihren einstweiligen Verfügungen.
Zwei Tage nach der Räumung verstarb die 67 jährige Rosemarie F, die auch zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen war, in einer Obdachloseneinrichtung an Herzversagen. Die Räumung und die Situation, in ihrem Alter noch mal völlig vor dem Nichts zu stehen, war wohl zu viel für sie gewesen.
Diese Situation erinnert fatal an die Zeit von 1933 bis 45, als sich viele, besonders ältere jüdische Mitbürger nach dem Erhalt des Deportationsbefehls das Leben nahmen, weil sie keinen anderen Ausweg für sich mehr sahen.
Die Wohnungsbesitzerin hat wohl einen Grund gesucht, die alte Dame loszuwerden, um das Spekulationsobjekt teurer weiterzuvermieten oder zu verkaufen.
Jemand war in die Mühlen der Justiz geraten und konnte sich aus seiner schwachen Situation heraus nicht dagegen verteidigen. Rosemarie F. zappelte wie in einem Spinnennetz. Das ganze lief etwa so ab wie in "Das Urteil" von Kafka.
Immer mehr Genehmigungen mussten erbracht werden, es gab Rückschläge und Hoffnungsschimmer. Ständig gab es neue Anwälte, Termine beim Sozialamt, Gerichtsbeschlüsse. Am Ende stand die Räumung und der Tod der Frau. Ein Hausarzt gab ein medizinisches Gutachten ab, aber da er kein Facharzt war, wurde es vom Gericht nicht anerkannt.
Das die Frau schwer krank war, hätte mittlerweile aber auch schon ein Laie bestätigen können. Alle Ämter wuschen ihre Hände in Unschuld und deckten sich gegenseitig. Wo der Mamon herrscht haben Menschlichkeit und Emphatie nichts verloren. Auf der einen Seite standen die Unterstützer und auf der starken die Wohnungsbesitzerin und die Gerichte und Ämter.
Das Geschehnis wirft auch ein Schlaglicht auf die Situation älterer, deutscher, alleinstehender Frauen in Berlin. Randgruppen wie die Schwulen und Lesben helfen sich untereinander, wie ich von meinen lesbischen Freundinnen weiß. Ebenfalls die Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Mein spanischer Freund kam schon ein paar Stunden nachdem er seinem Reisebus entstiegen war bei einem peruanischen Schmuckverkäufer, den er am Alex kennenlernte, unter.
Viele Männer haben weitverzweigte Freundeskreise, auf die sie zurückgreifen können.
Schlecht sieht es für uns deutsche Frauen ohne den Schutz einer Familie aus. Immerhin ist unsere Stadt ja die Hochburg der Alleinstehenden und der alleinerziehenden Mütter in Deutschland.
Rosemarie F. ist auf dem Jerusalemfriedhof Mehringdamm 21 begraben.
„Hier beschreibt jemand ein Fahrradtour durch seinen Kiez bei Nacht. Wie gefällt dir das?“, fragte Don Pepino.
Gegend zwischen Rummelsburger See und Ostkreuz morgens zwischen halb eins und um drei
Bei den menschenleeren Straßen und unheimlichen Unterführungen wäre es zu später Stunde nicht wirklich verwunderlich, wenn mit einem Mal wie aus dem Boden gewachsen Christopher Lee im Draculakostüm als Das Phantom vom Ostkreuz vor einem stände. Spanische Touristen, die am Rummelsburger Ufer dicke Joints geraucht haben - hier gibt es mehr Spanier als in Spanien - haben mit solchen Begegnungen bestimmt schon öfter in Madrid oder Valladolid angegeben, was zur Folge hatte, dass immer mehr von ihren Landsleuten hierherreisen auf der Suche nach dem geheimnisvollen Flair unserer Gegend.
Ich beginne in Lichtenberg am Rummelsburger See, ungefähr auf der gegenüberliegenden Seite vom Palmkernölspeicher. Man muss dazu sagen, dass der Rummelburger See für uns Ostkreuzler den Lichtblick im Verkehrsgetümmel hier darstellt. Man vermutet nur ein paar Gehminuten vom S-Bahnhof entfernt nicht so eine Oase.
Letztes Jahr kam ich mal dazu, wie ein paar niedliche Jungen und Mädchen aus aller Herren Länder dort nachts eine wilde Technoparty veranstalteten. Man verabredet sich wohl über What´s app. Überall standen Glasbehälter mit Teelichtern und die Musik war gar nicht so laut und die Stimmung total romantisch. Leider kamen trotzdem bald Leute vom Ordnungsamt und das war´s dann gewesen mit der Party. Süßer Vogel Jugend - ist übrigens ein Bühnenstück von Tenessee Wiliams, das auch verfilmt worden ist -,denkt man wehmütig, wenn man einiges älter ist.
Momentan, auf meiner Bank am Rummelsburger Ufer, spielt mir mein MP3 Player Buffalo Springfield ins Ohr. Die Aufnahme ist übrigens von 1967. Nicht umsonst bezeichnete mich ein Kumpel mal scherzhaft als ewig Gestrige. Von links dringt techno zu mir und von rechts HipHop zusammen mit Haschischschwaden. Ich frage mich, ob sich für diese Bands in 50 Jahren auch noch einer interessieren wird.
Überhaupt ist der Zeitfaktor bei Musik wohl entscheidend. Die Matthäuspassion von Bach ist von 1727 und klingt überhaupt nicht veraltet. Sie befindet sich übrigens auch auf meinem MP3 Player, und ich höre sie hoch und runter. Ich würde mal sagen, Bach, der ja noch nicht mal die Schallplatte kannte, hat alles richtig gemacht, wenn seine Musik 300 Jahre später noch als MP3 Datei, die auf Micro SD Card gespeichert ist, gehört wird. Er wüßte gar nicht, was das ist.
Mit Expecting to fly von Buffalo Springfield radle ich das Seeufer lang.
Neil Young singt: „I tried so hard to stand As I stumbled an fall to the ground“ und ich biege rechts den Weg ein, der zum Ausgang Hauptstraße führt.
Mit der Liedzeile im Ohr „the lights turned on and the curtain fell down“ aus dem Song „Broken arrows“, was gebrochene Pfeile heißt, fahre ich durch den S-Bahntunnel Karlshorster Straße / Ecke Nöldnerstraße. Um diese Geisterstunde ist dort alles ziemlich ausgestorben, so dass man die Gegend für sich allein hat.
Nach der Kurve wird die Karlshorster zur Marktstraße, die wiederum hinter dem S-Bahntunnel zur Boxhagener wird.
In dem Sparkassengeldautomaten hat übrigens den Winter über ein sehr netter Pole gewohnt, der sich immer freundlich für Geld- oder Lebensmittelspenden bedankt hat.
Jedesmal wenn ich durch die Unterführung an der Boxhagener Straße gehe, muss ich an den Film „Cabaret“ von Bob Fosse denken und zwar an die Stelle wo Lisa Minnelli mit Michael York unter einer Brückenunterführung steht und Beide immer übermütig aufschreien, wenn ein Zug kommt. Aber ich weiß ja, der Film wurde im Westberlin der 70ziger gedreht und nicht am Ostkreuz. Wahrscheinlich waren die Yorkbrücken der Schauplatz.
Man sollte auch nicht unerwähnt lassen, dass die Strecke Boxhagener, Marktstraße, Karlshorsterstraße, Hauptstraße ein Unfallschwerpunkt ist. Als Fahrradfahrer ist man ja immer unmittelbarer dabei als als Fußgänger. Ich musste sogar schon als Unfallzeugin aussagen. Hinter der S-Bahnunterführung Boxhagener Straße auf der Marktstraße gibt es in Richtung Lichtenberg links eine Ampel, die gefühlt alle paar Tage flachliegt. Die Ampel wird immer wieder aufgerichtet, aber was ist mit den Autofahrern?
Im Imbiss an der Boxhagener Straße kaufe ich eine Pizza Santana. Ich glaube die beiden türkischen Pizzabäcker werden gar nicht wissen, dass Santana eine Band ist und schon in Woodstock auftrat.
Ich habe mich mal mit einem Kumpel darüber gestritten, aber ich habe wirklich noch fast nie bei Psychedelic-, Metal-, Punk- oder Hardcorekonzerten Türken oder Araber gesehen. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Nach einem Metalkonzert im SO 36 sprach mich mal auf der Oranienstraße ein junger Türke an. „Bist du auch bei „Sepultura“ gewesen?“, fragte ich ihn. Er sah mich verblüfft an. Weder kannte er Sepultura, noch hatte er vor, sie jemals kennenzulernen und war wohl noch nie im SO 36. Sowas bezeichnet man wohl als Parallelgesellschaft.
Der junge Türke hätte auch bestimmt lieber eine junge Türkin angesprochen, aber so jemand war um diese späte Stunde auf der Oranienstraße nicht mehr unterwegs, und außerdem wäre ihre Familie davon wohl nicht begeistert gewesen.
Ich sitze auf der Treppe hinter Lidl, verspeise die Pizza und höre Bowie auf dem Mp3-Player.
„Mother, she blew my brain, I will go back again“ singt Bowie, und ich muss an Christiane F. denken, die ein Fan von ihm ist.
Ich hoffe meine Worte habe ich den herben Charme unserer Gegend eingefangen. Jemand, der hier am Ostkreuz arbeitet, aber im Grünen wohnt, sagte mir einmal, dass sie sich nicht vorstellen könne, hier zu wohnen. Es wäre ihr hier viel zu unruhig. Übrigens, die meisten Leute, die hier wohnen sind sehr jung. Wenn sie älter werden, suchen sie sich oft ruhigere Gegenden.
Ein Kollege ist der Meinung, dass hier Migranten diskriminiert werden, weil der Verfasser der Story schrieb, dass er selten welche von ihnen bei Independent-Konzerten gesehen hat. Aber ich muss dem Autor beipflichten, denn ich habe ebenfalls so gut wie nie Leute, die ich für Türken oder Araber halten würde, bei solchen Veranstaltungen gesehen. Sie haben wohl einen total anderen Musikgeschmack.
„In den blo ateliers war ich auch schon“, sagte der Don. „Diese Geschichte nehmen wir auf alle Fälle.“
Let´s jam
Dunkle Straßen, eine kahle unwirtliche Gegend. Wo bin ich denn hier? Einige wenige Menschen hasten in der Dunkelheit an mir vorbei. Ach ja richtig in der Weitlingstraße beim Bahnhof Lichtenberg.
Baustelle reiht sich an Baustelle. Autos sind ja massig unterwegs, aber Leute sind heute Nacht hier kaum zu sehen. Der Weg zieht sich hin, besonders da ich an diesem Sonnabend Abend hier allein unterwegs zu sein scheine.
Aber da, ich sehe ein großes rotes Herz in der Luft schweben. Rot ist immer gut und Herz weckt sowieso erfreuliche Emotionen in einem. Das zieht mich automatisch an. Von weitem dringt Lachen und Musik an mein Ohr. Ein Wunder. Das es das hier noch gibt. Wer hätte das gedacht, in dieser gottverlassenen Gegend.
Ich stolpere über glitschiges Kopfsteinpflaster dieser Fata Morgana entgegen. Vor der Tür empfängt mich ein extrem freundlicher Einlasser mit Migrationscharakter, der ernsthaft nur 5 € von mir will und außerdem auch meine Tasche nicht kontrolliert (ist das immer scheiße lästig, wenn man wie ich Luftpumpen und Zangen und Mp3 Player mit sich rumschleppt). Ich hätte also ruhig eine Bombe bzw. eine große Flasche Wodka mit rein nehmen können.
Drinnen ist es knackedicke voll, aber die Atmospäre ist total entspannt. Kosta, der freundliche Grieche läuft herum und hält die Dinge am Laufen. Er ist der Veranstalter und bringt hier Nachtleben in diese kulturell verwaiste Ecke von Lichtenberg.
Nachdem Konzert gibt es erst mal eine Pause und dann beginnt für mich das eigentliche Highlight des Abends, die Jam Session. Selig sitze ich mit einem großen Glas (kein Plastebecher) Cola Wodka mit viel Eis auf einem Polstersessel und staune nur.
Solche guten Instrumentalisten und Sänger würde man gar nicht in der Amateurliga vermuten. Es wird gesoult und gejamt und getrommelt und trompetet als ob es kein Morgen gäbe. Alles ist free und hot und irgendwie auch intim, wenn man den Musikern beim Improvisieren zuhört.
Es sind auch immer viele dunkelhäutige Sängerinnen mit Wahnsinnsstimmen dabei, aber auch weiße Sängerinnen, denen man das gar nicht zutrauen würde, singen hier einen rabenschwarzen Soul. Musiker jeden Alters treten auf. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein kleine, schwarze Frau mit einer Riesenstimme und einem Wahnsinnstemperament. Überhaupt sind die Leute auf der Bühne sowieso multikulturell.
Mit dem Fortschreiten des Abends spielen sich die Musiker mehr und mehr Extase. Das überträgt sich natürlich auch auf das Publikum. Knisternde Spannung liegt in der Luft. Es ist einfach Lebensfreude pur. Für diese gottverlassene Gegend ist diese Mugge hier ein ganz schön heißer Scheiß.
Das Ganze ging immer so bis gegen drei und ich trat frohgemut den Heimweg an.
Leider gibt es schon seit zwei Jahren kein Let´s jam mehr, aber dafür bieten die BLO ateliers viele andere Veranstaltungen an.
Von dem Text über den Orgelsommer in der Erlöserkirche Rummelsburg ist Don begeistert.
Bach ist unser Voodoopriester
Jedes Jahr findet in der Erlöserkirche Rummelsburg im Juli und August der Orgelsommer statt. Der Eintritt ist frei. Eigentlich müssten die Konzerte ja sehr gut besucht sein, aber leider verirren sich oft nur wenige Donnerstag um 20 Uhr in die Kirche.
Ich selbst gehe da ganz unvoreingenommen ran. Eigentlich läuft das bei mir immer so ab. Man setzt sich und möchte nach 10 Minuten eigentlich am liebsten schon wieder gehen. Die Luft ist stickig, und die Musik ist sperrig. Aber nach einer gewissen Zeit wird man angefixt, kommt in die Musik rein und bleibt bis zum Schluss.
Viele beenden ihren Kunstgenuss vorzeitig, weil sie einfach mit der ernsten Musik nicht klarkommen. Das ist oft Stress pur. Das kann man ihnen auch nicht übelnehmen, denn ich glaube mit klassischer Musik kommt man meist nur etwas anfangen, wenn man von Kindheit an damit vertraut gemacht wurde.
Das ist oft in bildungsbürgerlichen Familien der Fall. Ich muss jetzt gerade daran denken, wie komisch Benjamin von Stuckrad Barre, der aus einem Pfarrershaushalt stammt, das Martyrium seiner Musikstunden in „Panikherz“ beschrieben hat.
Klassische Musik war früher oft ein Privileg der herrschenden Klasse erst des Adels und später des Bürgertums und wurde von den Grafen bzw. Fabrikbesitzern gefördert. Für viele Mädchen aus höheren Kreisen, die wenig Mitgift zu erwarten hatten, waren Gesang und Geigenspiel wohl auch eine Möglichkeit, sich das Herz eines potentiellen Ehemannes zu erobern.
Ich bin durch den Orgelsommer zum absoluten Bachfan mutiert und habe jetzt 11 Stunden Orgelmusik vom ihm auf Stick. Bach auf der Orgel ist immer ein Erlebnis für sich.
Einmal saß in Rummelsburg ein nervöser, junger Mann neben mir auf der Kirchenbank. Es stellte sich heraus, dass er der Solist war. Er fing zuerst in einer übermäßigen Lautstärke an, so dass ich schon gehen wollte, aber dann spielte er einen ins Delirium. Er hatte einen in der Hand. Die Musik - natürlich Bach - nahm einen mit auf eine Achterbahnfahrt. Auf steile Hügel folgte ein rasender Absturz. Es warf einen hin und her.
Ich hatte Bach immer für einen alten Langweiler gehalten, so kann man sich irren. Nach Konzertende trat ich mit weichen Knien und ganz aufgelöst aus der Kirche und wußte gar nicht mehr so richtig, wo ich eigentlich war. Was läßt man sich entgehen, wenn man sich der klassischen Musik völlig verschließt, was viele Kumpels von mir machen.
Ich habe im Lisztjahr auch ein Chorkonzert mit seinen Werken in der Erlöserkirche besucht. Hier war es aber knackedicke voll. Die komplizierten, schrägen Gesänge waren für mich der reine Independent. Eigentlich war die Musik völlig wild und ungewöhnlich und klang sehr modern.
Mich schreckt aber die bürgerliche Atmosphäre bei klassischen Konzerten ab. Viele Konzertbesucher würden wohl ganz schön ins Grübeln kommen, hätten sie ihre Götter selber kennengelernt. Die waren oft ziemlich durchgeknallte gesellschaftliche Außenseiter.
Viele Musiker mussten vor dem Kurfürsten Männchen machen, um eine Festanstellung zu ergattern. Der bürgerliche Habitus, der einen auf Bildern immer so irritiert, täuschte über das innere Leben hinweg, das in ihnen tobte, ihre Rebellion drückte sich in ihrer schrägen Musik aus. Wenn sie um die Hand einer Bürgerstochter anhielten, kam keine große Begeisterung auf, da man ihnen nicht zutraute, eine Familie zu ernähren. So gerieten sie wohl ganz schön oft in eine gesellschaftliche Isolation rein.
Viele ihrer Zeitgenossen kamen mit ihrer Musik nicht klar, in deren Augen war das der reine Free Jazz und sie gerieten in Vergessenheit und wurden erst einige Generationen später wiederentdeckt. Beispielsweise fand Felix Mendelsohn Bartoldy in einer Bibliothek die Partituren von Bach und Beethoven, erkannte das Genie seiner schon seit Jahrzehnten ziemlich in Vergessenheit geratenen Kollegen und läutete das Bach- und Beethovenrevival ein. Er brachte auch die Mathäuspassion zur Wiederaufführung.
Viele von den Komponisten saßen mit knurrendem Magen in eisekalten Kämmerchen. Aus Mitleid hat ihnen vielleicht ein Freund, der besser bürgerlich eingetaktet war, eine warme Suppe vorbeigebracht und unauffällig ein paar Scheine auf die Anrichte gelegt. So was ähnliches habe ich in einem Radiofeature über Hugo Wolf gehört.
Das hat viele vorzeitig aus der Bahn geworfen. Einige wurden verrückt - Hugo Wolf -, einige nahmen Drogen wie Schumann - gab es um Achtzehnhundert auch schon - und verübten Selbstmord. Das zeigt Parallelen zu heutigen Rockmusikern auf.
Deshalb strahlt ihre Musik auch oft alles andere als Lebensfreude aus, irgendwie schwingt immer unterschwellig der Tod mit. Man ahnt die inneren Kämpfe der Komponisten. Diese unterschwellige Traurigkeit hält viele davon ab, klassische Musik zu hören. Man wird mit etwas konfrontiert, was man vor sich selbst verdrängt.
Man muss aber auch mal bedenken, dass die Leute damals mit dem Tod auf Du und Du waren. Es gab keine Antibiotika, viele Operationen waren noch nicht möglich, Kindbettfieber raffte die Frauen hinweg. Manche Männer überlebten 5 Ehefrauen.
Ich möchte trotzdem mal wissen, wo die großen musikalischen Geister, die wir Deutschen unser eigen nennen, eigentlich heutzutage abgeblieben sind. In punkto Musik machen uns die Engländer und Amerikaner ja einiges vor.
„Les mal diese Geschichte. Ein Pfälzer, der in Berlin lebt, hat sie verfasst.“
Alles weil me Pfälzer sinn
Eine Freundin aus Speyer, ein Bekannter aus dem Ruhrpott und ich eine Mecklenburgerin - der echte Berliner kommt nicht aus Berlin - saßen bei einer Brotzeit, wie der Wessi zu einem Picknick sagt, mit Pfälzer Spezialitäten wie Orginal Pfälzer Lewwerworscht, Gefülltem Saumagen und der Echten Pfälzer Blutwurst im Rudolfpark im Schatten der Zwinglikirche zusammen. Da es hier in Berlin nur wenige Fleischer gibt, die nach Orginalrezept arbeiten - einen gibt es wohl in Eichwalde - kam alles aus der Büchse via Internet. „Ja so en Gude Palzwoi“ - Kurt Dehn - von aldi durfte natürlich auch nicht fehlen.
Übrigens dem Saumagen wird unrecht getan. Es ist einfach nur ein nahrhaftes Armeleutegericht. Ein gewässerter Saumagen wird mit Hackfleisch und Kartoffeln gefüllt und mehrere Stunden gekocht. Danach wird er in Scheiben geschnitten und in der Pfanne gebraten. Dieses Gericht war eine Spezialität in der Familie meiner Pfälzer Freundin.
Wir baten sie einmal mit uns genau so zu reden, wie sie zu Hause mit ihrer Familie redet. Wir verstanden nur Bahnhof, genau so gut hätte sie auch Russisch sprechen können. Das hörte sich ungefähr so an:
„Warscht du amol uf de Kalmit, oder uf de Dahnerhä... des wer alles nix besonnres sagscht du, du sagst dass ders onnerschtwu a gfällt, awwer onnerschtwu is onnerscht, und halt net die Palz.“
Das ist natürlich nicht von Sylvia sondern der Text des Pfalzliedes von Die anonyme Giddarischde, aber der Zungenschlag ist derselbe. Es wird vor jedem Heimspiel von den Fans des FC Kaiserslautern angestimmt.
Sylvia erzählte, dass sie oft hier auf den Rudolfplatz kommt, weil sie die Zwinglikirche, die ja nur eine bescheidene Arbeiterkirche gleich neben Narva - früher Osram - ist, zwar nicht an den Kaiserdom zu Speyer erinnert aber doch etwas an die katholische Josephskirche, wo sie getauft und gefirmt wurde.
In Sylvias Heimatstadt ist der Glaube aber noch lebendig und die Kirchen müssen noch nicht als Eventlocations vermietet werden wie die Zwinglikirche, sondern werden noch eifrig von Gläubigen aufgesucht.
Im gottlosen Berlin hatten es die Pfaffen schon immer schwer. Ich glaube nicht, dass die Arbeiter, wenn sie von der Schicht bei Osram kamen, dort erst mal ihre Gebete verrichtet haben und die abgehetzten Arbeiterfrauen hatten auch anderes zu tun, obwohl sie bestimmt allen Grund gehabt hätten, sich bei Gott Beistand zu suchen. Die Gegend rund um das Glühlampenwerk war bis 33 eine rote Gegend und bei Osram gab es eine starke kommunistische Zelle, die später nach der Machtübernahme der Nazis illegal weiterexistierte.
Ich fragte Sylvia, ob ihre Heimatort auch einen Schutzheiligen hat, der einmal im Jahr durch die Stadt getragen wird. Beim Schutzpatron der Heimatstadt Valladolid meines spanischen Freundes, handelt es sich um einen gewissen San Pedro Regalado. Sylvia erzählte, dass beim Fronleichnamsfest in Speyer immer eine Prozession zum Dom zieht, bei der das eucharistische Brot, die Hostie, in einer Monstranz durch die Straßen getragen wird.
Der Ruhrpottler erzählt, dass er jüdische Wurzeln hat und die Woche davor gerade Jom Kippur war. „Sag mal was auf hebräisch.“ Er darauf:
בִּישִׁיבָה שֶׁל מַֽעְלָה
וּבִישִׁיבָה שֶׁל מַֽטָּה,
עַל דַּֽעַת הַמָּקוֹם
וְעַל דַּֽעַת הַקָּהָל,
אָֽנוּ מַתִּירִין לְהִתְפַּלֵּל עִם
הָעֲבַרְיָנִים
„Was heißt das?“, fragen wir ihn. Das ist das Kola Nidre und bedeutet: In der Versammlung des oberen Gerichtes, und in der Versammlung des unteren Gerichts, mit der Zustimmung des Allmächtigen und mit der Zustimmung dieser Gemeinde, erlauben wir, gemeinsam mit den Missetätern zu beten...
Mit soviel Religiösität kann ich nicht mithalten. Bei uns in der DDR hatte die Religion keine Bedeutung. In meiner Klasse waren fast alle ungetauft. Ich weiß bloß, dass ein Mitschüler bei der Pfarrerin das Flötenspiel erlernte, wodurch er sich die musikalischen Grundlagen erwarb, die ihn später in die Lage versetzten, auf Klassenfahrten immer mit der Mundharmonika den Reichsbahnblues von Stefan Diestelmann zu spielen.
Ein anderer ehemaliger Mitschüler von mir hat Theologie studiert. Im Internet sehe ich ihn oft im Talar von der Kanzel predigen und wundere mich über seine Wandlung. Mir ist früher nie aufgefallen, dass er gläubig war.
Eine Kollegin aus Brandenburg wirft ein, dass die Kirche in der DDR eine große Bedeutung für die friedliche Revolution gehabt hat, weil sie kritischen Geistern eine Heimstatt bot. Damit habe ich aber ehrlich gesagt nichts zu tun gehabt.
Mit einem Mal ist es doch möglich über Lichtenberg-Hohenschönhausen und Treptow-Köpenick Beiträge zu veröffentlichen, weil in dem dortigen Projekt nur drei Leute sind, von denen einer noch abgesprungen ist.
„Dann können wir ja den Text über das Punkerfestival am Nordring doch mit aufnehmen“, sage ich. Don Pepino gibt zu bedenken: „Bist du dir sicher, dass das Gelände nicht schon in Marzahn liegt. Wir schauen im Netz nach. Die Bezirksgrenze teilt die Straße in zwei Hälften. Dort, wo der Eingang zum Konzert war, ist schon Marzahn. „Die paar Meter machen den Kohl auch nicht fett“, sagt der Chef. Wir haben auch zu wenig Material, was Jüngere anspricht.
Wir wachen an der Ostsee auf.
„Komm wir reichen uns die Hand und wir werden schon sehn, dass diese zeitlosen Momente wirklich niemals vergehn.“ Feine Sahne
„Hey ho, let´s go. ..."
Mein Stahlroß wieherte schon gesattelt und gespornt im Hof und wartete ungeduldig darauf mich ins tiefste Lichtenberg zu befördern.
Das Festival ging drei oder sogar vier Tage lang, aber ich bevorzugte den Sonntag Nachmittag, weil es sich da schon etwas geleert hatte.
Es ging über die Gürtelstraße, die Möllendorfstraße, den Weisenseer Weg, die Konrad Wolf Straße, die Wartenbergstraße, die Gehrenseestraße und die Hohenschönhausener zum Nordring bzw. später zum Hornoer Ring.
Dann konnte man es gar nicht mehr verfehlen, denn hier gefühlt am Ende der Welt kamen einem schon Massen von bunthaarigen Leuten entgegen.
Ein paar tausend Punks und linke Jugendliche kommen jedes Jahr aus ganz Deutschland nach Berlin zu diesem Open Air. Das schöne war, dass dieses Musikfestival mal direkt in Berlin stattfand und man es bequem mit dem Fahrrad erreichen konnte.
Jedes Jahr, wenn ich auf dem Gelände angekommen war, erlitt ich erst mal einen Altersschock. Das Alter der meisten Anwesenden bewegte sich so von 16 bis höchstens Mitte Zwanzig. Ich sah kaum einen der nicht gut zwanzig Jahrer jünger war als ich. Ich weiß auch nicht, warum es bei diesem Festival keine Mitte gab. Auf anderen Konzerten, auf denen die gleichen Bands spielen, trifft man auch Leute jeden Alters.
Aber wie gesagt, dass Resist to exit war das einzige Open Air - Techno interessiert mich nicht - direkt in Berlin und das wollte ich mir nicht entgegen lassen. Die Eintrittspreise waren lächerlich gering. Beim ersten Mal zahlte ich sogar nur 7 € an der Abendkasse. Es ist ein Non Profit Festival und die sehr freundlichen jungen Leute vom Organisationskomitee machen alles ehrenamtlich.
Auf dem Gelände fühlte ich mich in meine eigene Jugend versetzt. Das nennt man wohl ein Déjá - vu. Viele der Besucher erinnerten mich an meine Kumpels von damals. Einige Punker blickten mich aber nicht uninteressiert an und überlegten bei sich, ob nicht vielleicht in der Reife die Würze liegt (Ist natürlich nicht ernst gemeint).
Beim letzten Mal war ich extra wegen einer bestimmten Band da, nämlich Feine Sahne Fischfilet. Aus der verschlafenen Gegend im tiefsten Mecklenburg/Vorpommern aus der ich stamme, ist merkwürdigerweise eine Band entsprungen. Sie kommen gefühlt einen Steinwurf von meinem Heimatdorf entfernt her. In meiner Kindheit habe ich dort weit und breit niemanden gekannt, der ein Instrument spielen konnte. Die Zeiten ändern sich.
Beim Hören ihrer CD „Scheitern und Verstehen“ kamen in mir Heimatgefühle auf. Jetzt wollte ich mir die Fischköppe endlich einmal live anhören. Während des Konzerts sang ich alle Lieder auswendig mit. Ein Trupp Leute beobachtete mich verblüfft.
Ich ahnte schon, dass es eine mitgereiste Fangruppe aus meiner Heimat Meckpom war. Dort kann sich niemand vorstellen, dass sich eine Frau jenseits der Vierzig noch für Musik interessiert und Konzerte besucht. Ich kenne meine konservativen Landsleute lange genug, um mich darüber noch zu ärgern.
Nach dem Konzert holte ich mir noch eine CD vom Merchandisestand und ließ mir vom Sänger Monchi, der ja mit seiner imposanten Gestalt auf dem Gelände auffiel, ein Autogramm geben. Ich fragte ihn noch, ob er mein Heimatdorf kennt. Natürlich kannte er es, es ist ja gar nicht weit von seiner Stadt entfernt.
Während ich mit ihm sprach, hatte ich das Gefühl, ich stehe zu Hause an der Busbude und höre zu, wie sich die Leute unterhalten. Monchi von Feine Sahne spricht so stark den vertrauten Dialekt der Menschen aus meiner Gegend. Wahrscheinlich verdrängt man da etwas. Die Fischfilets haben die Frage "Gehn oder bleiben" für sich mit bleiben beantwortet. Sie halten ihrer mecklenburgischen Heimat die Treue und sind nicht solche vaterlandslosen Gesellen wie ich.
Monchi wunderte sich wohl insgeheim auch, dass er Fans im Alter seiner Mutter hat, aber wenn eine Band größer wird, ist sie generationsübergreifend. Beim Ramsteinkonzert in der Wuhlheide war auch vom Großvater über den Sohn bis zum Enkel alles vertreten.
Auf der Heimfahrt nahm ich mir endgültig vor, dass dieses Mal das letzte Mal gewesen sein sollte, aber natürlich war ich das nächste Jahr wieder dabei.
„Leichte Mädchen im Park“ heißt eine Geschichte, die Paul Kossoff , dem Leadgitarristen von Free gewidmet ist. „Free ist eine meiner Lieblingsbands“, sagt Don Pepino, der früher einen Club geleitet hat.
Meine Zeit ist Dunkelheit - Die Skeptiker - , da gefällt es mir ja gleich schon viel besser. Wenn ich manchmal abends im Seepark in Karlshorst bin und das nervige Familienglück endlich ein Ende gefunden hat, wende ich mich wichtigeren Dingen zu wie Blues und Whiskey - ist in diesem Falle aber nur eine bescheidene Büchse Jim Beam Cola.
Ich habe hier heute Nacht ein Rendezvous mit dem Leadgitarristen von Free, Paul Kossoff. Musikkenner werden einwenden, dass der schon seit vielen 34 Jahren tot ist, genauer gesagt seit dem 19. März 1976. Er wäre heute, am 14.09.2020, 70 Jahre alt geworden.
Ich liebe diesen Gitarristen. Aus Anlaß seines Geburtstages höre ich mir auf meinem "Ghettoblaster" - ein kleiner MP3 Recorder - Solosachen von ihm an, die er nach der Auflösung von Free kurz vor seinem Tode aufgenommen hat.
Es sind fast nur konfuse Instrumentalstücke, wilde Improvisationen und Schnipsel von Studioaufnahmen, aber jetzt in dieser nicht alltäglichen Situation, nur mit einer Büchse Cola Whiskey spätnachts allein im Park, geht mir die Genialität seiner letzten Aufnahmen, mit denen ich zuhause vor meiner Stereoanlage nichts anfangen konnte, und die ich für belanglos hielt, zum ersten Mal auf.
Er spielt übermenschlich gut, man darf gar nicht daran denken, was da noch alles hätte kommen können. Da hat einer musikalisch noch viele Pfeile im Köcher gehabt.
Jemand spielt wie um sein Leben und ahnte wohl schon die Nähe des Todes. Koss ist zwar schon mit 25 Jahren gestorben, als Folge seines Drogenkonsums, aber für mich wird er durch das Hören seiner letzten Aufnahmen wieder lebendig und ist mir so nahe, als wenn er hier neben mir auf der Parkbank sitzen würde.
Ich denke aber mit Whiskey allein hätte er sich nicht zufrieden gegeben, da hätte ich schon härtere Sachen auffahren müssen.
Plötzlich höre ich Laub rascheln, Zweige knacken und Schritte nähern sich. Ich verspüre aber merkwürdigerweise gar keine Angst, ganz im Gegenteil, mein Herz klopft freudig erregt. Der Recorder spielt gerade „Be my friend“ von Free. Eine zerzauste, abgemagerte, lichtumflutete Gestalt kommt näher. Als er die Musik hört, bleibt er kurz stehen, schaut auf, und ein scheues Lächeln fliegt über sein bleiches Gesicht. Er hat die traurigsten Augen von der ganzen Welt.
Er geht weiter, ohne sich nochmal umzublicken. So plötzlich wie die Gestalt aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder in der Dunkelheit und wird vom dunklen Park verschlungen. Er ist es wirklich. Habe ich hier nachts im Park etwa unbewußt einen Voodoozauber ausgelöst.
Ein Mann radelt vorbei und schaut mich interessiert an. Koss - Paul Kossoff - wäre mir lieber gewesen auch wenn er jetzt 70 wäre. Man wird ja wohl noch träumen dürfen? Für mich ist er für immer 25 geblieben und wird mir als abgezehrte Gestalt mit langen, zerzausten Locken in Erinnerung bleiben.
Mir ist mal aufgefallen, wenn man mit einer Cola auf der Bank sitzt beachtet einen niemand. Sofern es jedoch ein Bier oder wie jetzt eine Büchse Cola Whiskey ist, fängt man als Frau doch sehr interessierte Blicke auf. Vielleicht outet man sich da als leichtes Mädchen.
Vielleicht habe ich jetzt ein paar Technojünger dazu animiert, sich auch mal eine Scheibe von Free auf den Plattenteller zu legen. Ihr werdet nicht enttäuscht sein.
Eine Story über das „Sommermärchen“ wurde auch eingesandt.
Fleisch- und Fußballverweigerer im Friedrichshain
Es war Freitag der 9. Juni 2006 um 18 Uhr bei schönstem Sommerwetter. Ganz Friedrichhain und Prenzlauer Berg wirkten wie ausgestorben. Es fuhren keine Autos, und es liefen kaum Menschen auf den Straßen. Es war der Zeitpunkt des ersten Deutschlandspiels bei der WM 2006. Mein Freund hatte es mal wieder zu Hause nicht ausgehalten, und ich musste mit ihm auf einer Wiese im Volkspark Friedrichshain sitzen.
Ein versprengtes Trüppchen Fußballverweigerer saß im Gras und hatte die Grillroste angeworfen. Ab und zu wurden in weiter Entfernung Raketen abgeschossen, und ich schlußfolgerte daraus, dass Deutschland auf einem guten Weg war. Tatsächlich hatte uns Schweini mal wieder rausgehauen. Wir gewannen gegen Costa Rica 4 : 2. Schweinsteiger und Podolski waren ja das Dreamteam der WM 2006.
Ein niedliches kleines Mädchen so 5 bis 6 Jahre alt, wollte ihren Mitmenschen etwas Gutes tun und bot den anderen auf der Wiese auf einem Teller die restlichen Fleischstücke, die vom Grillen übrig geblieben waren, an. Niemand wollte ihr etwas abnehmen, man lebte wohl vegetarisch. So kuckte sie schon ganz traurig.
Das konnte ich natürlich nicht mit ansehen und ließ mir einen Pappteller mit einem großen, saftigen Stück gegrillte Hühnerbrust geben. Obwohl ich keinen Hunger gehabt habe, muss ich doch sagen, das war das beste Stück Huhn, das ich je gegessen habe. Mein Freund war übrigens leider auch Vegetarier.
Auf dem Rückweg herrschte in ganz Berlin eine sehr gute, entspannte Stimmung.
Nachdem Spiel Spanien gegen Polen 4 : 0 einige Tage später gratulierte der Vietnamese im Lebensmitteldiscounter an der Karl Marx Allee meinem Freund und erwartete wohl, dass Carlos vor Freude total aus dem Häuschen wäre. Aber er hatte kein Vertrauen in seine Landsleute und wirklich kurz danach flog Spanien raus.
Nachdem mir als guter Freundin klar wurde, dass hier jemand seine Fußballleidenschaft verleugnet, saßen wir ab da immer vor den Cafes hier am Ostkreuz und schauten uns alle Deutschlandspiele an, Spanien war ja nicht mehr dabei. Besonders in Erinnerung ist mir noch das Spiel gegen Argentinien geblieben, dass durch ein extrem spannendes Elfmeterfinale entschieden wurde.
Ich glaube Michael Ballack schoß den entscheidenden Elfmeter, und wir waren im Halbfinale. Er war übrigens der Lieblingsfußballer von meinem Freund, der ja Spanier ist. Wir sahen das Spiel mit vielen anderen vor einem Cafe in der Neuen Bahnhofstraße, in der Nähe vom Bahnhof Ostkreuz. Es herrschte eine freundschaftliche Atmosphäre. Es war übrigens die WM wo Oli Kahn nicht mitspielen durfte und Jürgen Klinsmann der Trainer war.
Ich möchte noch das geniale Reporterduo - jeder der 2006 vor dem Fernseher dabei war, weiß wen ich meine - erwähnen, wobei ich nie verstehen konnte, warum sie sich nicht vor der Kamera prügelten. Der Mürrische von den beiden ist wohl früher selber einmal ein berühmter Fußballspieler gewesen, lange vor der Wiedervereinigung. Man sah sich die beiden an und staunte nur mit offenem Munde.
Es handelte sich übrigens um Günter Netzer und Gerhard Delling.
Ach ja, ich habe seitdem die Gewohnheit angenommen bei Fußballwelt- und Europameisterschaften die meisten Spiele zu sehen, wobei ich früher Fußball nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätte.
Von der nächsten Einsendung war Don besonders begeistert. „Den Plattenladen in der Rykestraße kenne ich auch noch. Dort war ich Stammgast. Und Can habe ich schon mit zwölf durch einen Mitschüler, der eine Westoma hatte, dass erste Mal gehört und bin seitdem Fan.“
Jaki
Vor ein paar Jahren las ich in der Zitty das am im Glashaus von der Arena Jaki Liebezeit spielt. Da ich durch einen Kumpel mit der Musik von Can angefixt worden bin, wollte ich mir den ehemaligen Drummer der Band auch mal als Solokünstler anhören. Mein Kumpel hat 1990 mal zufällig eine unbekannte, geheimnisvolle, verstörende Musik im Radio gehört, die ihn nicht mehr los lies, er leckte Blut und besorgte sich nach und nach alle Platten von Can im Plattenladen Freak Out in der Rykestraße.
Dort gab es alles was das Herz des ehemaligen Ostlers erfreute, also der Schwerpunkt lag auf der Musik der 60ziger und 70ziger - Jimmy Hendrix, Janis Joplin, The Doors. Bald ergriff das Can Fieber unseren ganzen Freundeskreis. Warnung, es besteht Suchtgefahr. Auch ich hörte Tag und Nacht diese Band - Mary, Mary So contrary -. Eingeweihte wissen was ich meine. Can war übrigens auch eine Lieblingsband von Sid Vicious, wie ich erstaunt aus der Biografie von Johnny Rotten erfuhr.
Was einem zuerst als reiner Free Jazz erschien - Unlimited Edition -, erschloss sich nach mehrmaligem Hören.
Eigentlich haben wir uns ja im Osten immer eingebildet trotz Mauer musikalisch auf dem Laufenden zu sein, aber die alte Krautrockband Can, die 1968 gegründet wurde, kannte merkwürdigerweise keiner von meinen Freunden vor der Wende.
Im Grunde habe ich mir von dem Solokonzert im Glashaus von der Arena nicht viel erwartet, der Musiker war schon älter, die Band Can gab es lange nicht mehr. Ich ging mehr unter dem Aspekt hin, den Orginalschlagzeuger noch mal live zu sehen.
Aber es kam mal wieder anders. Der Sound war magisch, berauschend und verstörend. Orientalische Stimmung verbreitete sich. Es war also viel besser als ich erwartet hatte. Im Publikum waren fast nur junge Leute, teilweise sogar noch im Gymnasiumsalter, die paar Älteren fielen richtig auf. Ich hätte nicht damit gerechnet das Can bei der Jugend von heute so bekannt ist. Übrigens Jaki Liebezeit war bei dem Konzert 75 Jahre, aber als Musiker ist er jung geblieben.
Jetzt, wo wir auch den Stadtbezirk Treptow-Köpenick mit einbezogen, konnten wir auch den folgenden Text veröffentlichen.
Ich freute mich besonders darüber, da von der Nalepastraße, dem ehemaligen Sendeort vom abgewickelten DDR Jugendradio DT 64, meine musikalische Sozialisation ausging.
Schlafen untem Apfelbaum1 oder Das Haus der stehengebliebenen Uhren
Als ich mir ein Fahrrad zulegte, entdeckte ich die Gegend hier am Ostkreuz, die eine reine Industriegegend ist, wo man wenig Leute trifft. An der Rummelsburger Landstraße fiel mir ein Straßenschild auf, dessen Aufschrift mir sehr bekannt vorkam. Nalepastraße stand dort.
Hier war es also, von wo aus die Ätherwellen kamen, die Farbe in das frustrierende Leben einer Vierzehnjährigen auf dem Dorf brachten, die mit der Welt nicht klar kam. Musik wurde das Elixier, was mir half durchzuhalten.
Dort, in der Nalepastraße, befanden sich, bis kurz nach der Wende, die wichtigsten Radiostationen der DDR. Ein herrliches, grünes Gelände direkt am Spreeufer. Die Leute habe dort bestimmt gerne gearbeitet. Jemand, deren Freund ein Schauspieler war, der oft Hörspiele beim Rundfunk produzierte, erzählte mir mal, dass er in einer Sommernacht dort auf einer Bank mit einer Flasche Wein eingeschlafen ist und morgens vom Vogelgezwitscher geweckt wurde. Dann wurde der Sender abgewickelt.
Das muss ja dann jahrelang da zugegangen sein wie damals bei Gritta von Rattenzuhausbeiuns, einer Fantasygeschichte, die Bettina von Arnim zusammen mit ihrer Tochter schrieb. Es gibt auch einen Defa-Film darüber. Die Ratten und Mäuse haben vergnügt im kleinen Sendesaal und im großen Sendesaal zu verbotenen Renftsongs getanzt, und keiner hat sie gestört, außer dass ab und zu mal ein einsamer Wachmann durch die langen Gänge geirrlichtert ist. Vielleicht haben sie im Giftschrank ja auch das Orginalband von meinem Lieblingslied „Sonne wie ein Clown“1 gefunden.
In das Sendehaus in der Nalepastraße, das fast 20 Jahre sanft vor sich her geträumt hat, ist wieder Leben eingezogen. Da werde sich die Mäuse und Ratten ja geärgert haben. Jetzt kriegen sie hier Techno auf die Ohren gedrückt.
Das löst das Nagerproblem auf natürlichem Wege. Ich als Maus jedenfalls würde freiwillig die Flocke machen. Wenn ich vorbeiradle, sehe ich, wie gutaussehende junge Männer Instrumente in das alte Gebäude schleppen. Da möchte man doch wieder 20 sein. Mir schweben da wilde Partys im Proberaum vor.
Aus den aufgeschnappten Gesprächsfetzen kann ich entnehmen, dass sie aus aller Herren Länder sind. Keith Richards und Ritchie Blackmore haben ja auch mal klein angefangen. Daniel Barenboim war auch schon da, aber natürlich nicht mit dem Fahrrad.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich wie in den Siebzigern zwei übernächtigt und zerzaust aussehende junge Männer in Schlaghosen und abgewetzten Lammfelljacken, namens Pannach und Kunert, ihre Gitarrenkoffer auf dem selben Weg zum Aufnahmetermin in den Sender tragen. Dort hat Luise Mirsch, ihre Produzentin, schon ungeduldig auf sie gewartet und natürlich auch ihr Stasispitzel. Im Studio ankommen, packten sie ihre Instrumente aus und sangen in die Mikrofone so was wie das hier:
Glaubte sie sei noch ein Mädchen
da war sie eine Frau
lachte mich an wie die Sonne
aus ihren Augen blau
sagte mir herrliche Worte
nahm meine Hände sacht
führte sie an mein Feuer mitten in der Nacht
machte mir kein Gewissen
es war wunderschön
aber ich kanns nicht verstehen
Renft 1973
Übrigens, die stehengebliebenen Uhren, die im ganzen Funkhaus rumhängen, wurden früher alle von einer Zentrale gesteuert, die schon lange außer Betrieb ist, aber die alten Lautsprecher aus dem VEB Musicelectronic Geithain erfüllen noch immer ihren Zweck. Aus der soliden DDR-Wertarbeit erklingen heute Beats von Elektronikkünstlern wie Ricardo Villalobos, Dillon und Nils Frahm.
1 alles Renftsongs
Den letzten Beitrag finden wir beide nicht besonders gut aber auch nicht so schlecht. „Wenigstens aber mal ein Text, wo es um Feminismus geht“, sage ich zu Don Pepino.
Zwei starke Frauen an den Ufern der Spree
Manchmal wenn ich am Rummelsburger See entlangradle, kucke ich noch nach ihr, aber ich habe sie nie wieder gesehen.
Es war ein sehr, sehr heißer Hochsommertag. Ich hatte mir auf einer Bank am Rummelsburger See ein schattiges Plätzchen gesichert. Ein Hund legte sich unter die Bank in den Schatten und machte trotz der Rufe seiner Besitzer keine Anstalten aufzustehn.
Schließlich resignierte sie und setzte sich neben mich. Sie war eine weißbehütete, kurzbehoste niedliche Brünette in den Dreißigern. Irgendwie hatte ihr Hund wohl mitbekommen, dass seine Herrin sozial ein bißchen isoliert war und versuchte sie mit Leuten ins Gespräch zu bringen, und er dachte wohl wir beide passen zusammen. Tiere sollte man nicht unterschätzen. Ich erfuhr von ihr, dass sie aus einem kleinen Ort in Bayern kommt, seit einigen Jahren in Berlin lebt und zur Zeit solo ist.
Sie hielt sich mit Hartz 4 über Wasser und war sich sogar nicht zu fein dafür, alle 14 Tage zur Tafel zu gehen. Außerdem hatte sie noch einen kleinen Nebenerwerb. Ich warnte sie davor, dass ihren Freunden so einfach zu erzählen. Da könnte Neid aufkommen. Darauf antwortete sie in ihrer freimütigen Art: „Wem soll ich das denn erzählen, ich habe gar keine Freunde.“ Ich habe noch nie gehört, dass jemand zugibt, keine Freunde zu haben.
Meistens belügt man sich da selber. Claudia stand also mit Hund Bruno weit entfernt von der bayrischen Heimat, nach der sie aber genauso wenig Sehnsucht hatte wie ich nach meiner, alleine in Berlin da.
Mit Claudia, die mir erzählte, dass sie mit Riesenschritten auf die Vierzig zugeht, hatte ich wohl meine Doppelgängerin im Geiste getroffen. Das hat sie wohl selber gespürrt und auch, dass ich nicht gerade auf dem Gipfelpunkt meines Daseins war.
Jedenfalls fing sie plötzlich an, mich zu motivieren. „Tanja, wir schaffen das. Wir sind starke Frauen. „ Die Frage ist aber: Was schaffen wir denn eigentlich? Das Leben ist kein Marathonlauf, wo man am Ziel steht und versucht die einlaufenden Läufer zu motivieren nicht aufzugeben, und die Ziellinie zu überqueren. Aber solche Ideen hatte ich auch früher einmal.
Ich hielt mich auch für eine starke Frau. Das nennt man wohl Selbstüberschätzung. Solche sogenannten starken Frauen finden sich schneller in Bonnys Ranch - Dietrich Bonhoeffer Nervenklinik - wieder, als man glauben mag. Ich denke da an die Nervenzusammenbrüche und Selbstmordversuche von Freundinnen hier in Berlin. Eigentlich hätten wir beide ja Freundinnen werden müssen, aber wir waren uns einfach zu ähnlich. Es war, wie wenn man sein Spiegelbild sieht.
„Was ist mit den Urheberrechten?“, werden sich viele fragen. Die Meisten haben es schon geahnt. Natürlich sind das alles meine Texte. Zweitausendzwanzig haben nur der Leiter, zwei Freunde von ihm und ich Texte beigesteuert. Von den Sachen der Anderen kann ich leider nichts zitieren, da ich keine Einverständniserklärung habe.
Ich könnte ja mal bei ihm anfragen, aber in einer ähnlichen Angelegenheit hat er schon mal sehr komisch reagiert. Im Gegensatz zu mir, die heilfroh ist, wenn sie irgendwer zitiert, kopiert usw. natürlich mit Quellenangabe, ist er um seine Rechte sehr besorgt.
Schade, denn er hat einen fesselnden Text über die „Kleine Melodie“ im Friedrichstadtpalast geschrieben, einem in den Siebzigern bekannten Musikklub. Auch seinen Bericht über das Konzert von SBB, einer polnischer Band, unter dem Riesenrad im Treptower Park hätte ich gerne wiedergegeben. Er ist hier aufgewachsen und kennt Berlin in den Siebzigern, wo es ziemlich interessant zuging. Jetzt liest das wahrscheinlich keiner außerhalb seines Freundeskreises.
Na ja, die Welt hat sich auch ohne unseren Literaturblog „Hundert Jahre Groß-Berlin“ weitergedreht.
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