Wertbeimessungsstörung 2.0

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Soljanka

Mitglied
Wertbeimessungsstörung

Ich habe nun genug von Kisten, Joghurtbechern,
den Schachteln im Regal mit leeren Pillendosen;
als hätt' ich keine Wahl und müsst' aus alten Hosen,
die ich zu lange trug, noch Taschen näh'n mit Fächern,

um all den Müll und Spuk, der unter unsern Dächern
sich sammelt ohne Zahl, zu ordnen, diese Chosen,
statt einmal radikal die Tüten voll von losen
und leeren Tüten – klug gefaltet – einzuäschern.

Ich bin nicht länger Gral, nicht mehr für Andrer Rosen
brav Vase oder Krug. Den Wort- und Herzensbrechern
geb' ich zurück ihr Gut: Die leeren Worte, Scherben,

die Neigen selbst, die schal geworden, mich erbosen.
Verschüttetem Betrug, versickerten Versprechern
entledigt, fass' ich Mut, Trotz aller derben Kerben.
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Das lyrische Ich ist hier eine Person die Gegenstände bei sich zu Hause sammelt. U.a. der Titel "Wertbeimessungsstörung" deutet darauf hin. Er kann den vom Begriff her geläufigeren Zustand des Messie-Syndroms bedeuten.

Ob das Sonett die adäquateste Form ist, um dieses Thema darzustellen? Darüber muss ich noch nachdenken aber ich werfe diese Frage einfach mal in die Runde.

Ich spüre einen Übergang zwischen Anfang und Ende. Momentan fällt es mir aber schwer diesen zu belegen! Vielleicht liegt es an einer inhaltlichen Vertiefung gegen Ende in den Charakter des lyrischen Ichs?

Ein paar Begriffe hängen für mich noch in der Luft, dafür ist der Klang aber wohl abgestimmt. (Das ist auch der Anlass meiner Hinterfragung der Zweckmäßigkeit des Sonetts in diesem Kontext.)

Ich kenne mich nicht aus: ist eine solch strenge Form angemessen für eine Person mit jener Wertbeimessungsstörung (2.0)?

Passt da nicht eher eine lockere, freie Form, bei der die Wörter aneinander gestapelt sind, wie die Gegenstände, die das lyrische Ich sammelt? Ein großes Chaos wäre es doch, was den Inhalt dann auch formal wiederspiegeln würde.

Oder habe ich noch nicht verstanden, dass das lyrische Ich hier eigentlich dessen Wertbeimessungsstörung zu überwinden beginnt?

Auf jeden Fall sehr besprechenswert!

Für mehr Analyse bin ich gerade zeitlich nicht in der Lage ...
 

Soljanka

Mitglied
Hallo, Etma,

danke für die ausführliche Beschäftigung mit meinem Text, den ich in einer etwas holprigeren Version schon mal eingestellt hatte, die aber einem Anfall von Löschwut zum Opfer gefallen ist.

Ich mag das Sonett gerade da besonders gern als Form, wo ich mein Chaos zu sortieren versuche. Abgesehen davon sind "Messis" nicht per se unordentlich. Viele sind geradezu perfektionistisch. Und alles ist gleich wichtig, ob es nun die Tütensammlung oder die Kiste mit dem sorgfältig aufbewahrten schon gebrauchten Geschenkpapier ist. Es kostet unheimlich viel Kraft, wenn man alles aufhebt und sortiert. Entweder man ist irgendwann einfach überfordert damit, dass man nicht mehr hinterherkommt und versinkt zunehmend im Chaos. Oder man hat keine Zeit mehr für die wesentlichen Dinge des Lebens.

Dahinter stecken oft Verlusterfahrungen oder andere schwerwiegende seelische Verletzungen und entsprechende Ängste. Und das macht wahrscheinlich den "Übergang" aus, den du wahrgenommen hast. Das Lyrich kommt von der Betrachtung der äußeren Situation zu dem inneren Müllberg, zu all den Verletzungen, die da im Inneren gehegt und generalisiert werden und das Selbstwertgefühl stören.

@ Tula:
Ein herzliches Danke auch an dich für die Sternchen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Der Titel dieses gut geschriebenen Sonetts ist eine Scheußlichkeit, die man besser gleich vergißt. Es steht auf dem freien Markt jedem Menschen frei, welchen Wert er welcher Sache beimißt, und giert er zu heftig nach, zahlt er den höheren Preis.
Oder er stellt selber her, was ihm keiner anbietet.
Oder er sammelt halt, bis er den größeren Liebhaber seines Museumsstücke findet.

Wertbeimessungsstörung - 22 Buchstaben. sechs Silben, immerhin noch drei Begriffe innerhalb eines Nominalkompositums, vor allem aber: eine diagnostische Wertung, die uns nichts angeht.

Aber das Sonett ist ausgezeichnet.
 

Soljanka

Mitglied
Hallo, Mondnein,

danke für das Kompliment :)

Was diese Scheußlichkeit von einem Titel angeht: Ich liebe sperrige Wortungetüme.

Aber wenn es die Leserschaft beruhigt, weise ich gerne darauf hin, dass ich dieses Etikett meinem Gedicht angeheftet habe,
nicht mir selbst. Ich interessiere mich ein bisschen für Psychologie. Und Diagnosen sind ein bisschen so wie die Zerrspiegel im Lachkabinett. Man muss den rechten Abstand dazu schon selbst finden, sonst sieht man Halos. Oder man sieht sich plötzlich auf dem Kopf, obwohl man doch eigentlich mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht...

Gruß von Soljanka
 



 
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