WERWOLF

Matula

Mitglied
Immer öfter geschah es, dass sich Helga S. nach dem Aufwachen in einen Werwolf verwandelte. Des Nachts schlief sie friedlich in ihrem himmelblauen Bettzeug, manchmal ohne auch nur die Seite zu wechseln oder das Kissen zu zerknüllen. Wenn aber der Morgen graute, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über den milchigen Horizont kriechen ließ, schlug die die Augen auf, blickte zur Decke und spürte Es kommen.

Ein untrügliches Zeichen war der ziehende Schmerz, der sich über Ober- und Unterkiefer zu den Wangen ausbreitete und von da aus in die Schläfen stieg. Gleichzeitig wölbte sich die obere Zahnreihe nach außen, wichen die Lippen zurück, spitzen sich die dentes canini, wuchsen die dentes molares. In den Ohren war ein Kribbeln, als ob Insekten dort Wohnung genommen hätten, und tausende glühende Nadelstiche in Armen und Beinen kündigten die schmerzhafte Krümmung der Finger und Zehen an, aus denen schwarze Krallen hervorbrachen. Das alles war von einem heftigen Schluckauf begleitet.

Da es in der Literatur keine Werwölfinnen gibt, wechselte Helga S. an den gewissen Tagen aus ihr Geschlecht. Eine Begleiterscheinung, die ihr nicht ganz unwillkommen, ja womöglich der eigentliche Grund ihrer Metamorphose war. Obwohl niemand ihre körperlichen Veränderungen wahrzunehmen schien, geschahen merkwürdige Dinge an Orten, an denen sie auftauchte. Radfahrer kamen zu Sturz, wenn sie die Straße überquerte, Passanten ließen Gegenstände wie Einkaufstaschen oder Schirme fallen, wenn sie vorüberging. An der Kassa im Supermarkt versagte mit schöner Regelmäßigkeit das Lesegerät, und im Bus genügte ein Blick und Jugendliche standen auf, um ihr ihren Platz anzubieten.

Die Vorzüge der Verwandlung zeigten sich aber so recht erst an ihrer Arbeitsstelle. Wer Helga S. an solchen Tagen belehren, übergehen oder mit Aufgaben belasten wollte, hatte schlechte Karten. Sie sprang ihm oder ihr sofort an die Gurgel und verbiss sich dort, um bis zu Dienstschluss nicht locker zu lassen. Die Macht des Wolfsgliedes verschaffte ihr ungeahnte Höhepunkte der Genugtuung. Als wäre sie immer mit Füßen getreten worden, fletschte sie die Zähne gegen jeden, der sich näherte und nicht rechtzeitig ihr bedrohliches Knurren hörte.

Herr Roßkopf, der Abteilungsleiter, konnte von Glück reden, wenn Helga S nicht das Kommando in der wöchentlichen Abteilungssitzung übernahm und nach Gutdünken Aufgaben verteilte. Da er von ihren wiederkehrenden Verwandlungen nichts ahnte, meinte er, dass ihre Stärke seine Schwäche sei und stellte sie zur Rede. Die Aussprache kam zu keinem Ergebnis, weil Helga S., an diesem Tag ohne Wolfsglied, nur eine gewisse Zerknirschung an den Tag legte und behauptete, sie könne ihre vielen kreativen Ideen manchmal einfach nicht für sich behalten. Als Herr Roßkopf um Beispiele bat, zog sie sich zurück und war beleidigt.

Einen freilich gab es, der um das düstere Geheimnis von Helga S. wusste: ihr Zahnarzt. Längst waren ihm die Spuren der gewaltsamen Kieferverformung aufgefallen. Alle Zähne saßen locker und wackelten, wenn er sie mit dem Häkchen berührte. Die Zunge war ein wenig breiter als üblich und zeigte Bissspuren an den Rändern. Manchmal während der Behandlung, verfärbte sich die Iris seiner Patientin ins Gelbliche, ein Zeichen, das auf eine allmähliche Verfestigung des Werwolfszustandes schließen ließ. - Da er von Natur aus vorsichtig war, stellte er keine Fragen, freute sich aber auf ein stattliches Sümmchen für die Generalsanierung des derart in Mitleidenschaft gezogenen Gebisses. Um sich Gewissheit zu verschaffen, nutzten er und seine Assistentin eine Gelegenheit, bei welcher Helga S. wegen eines besonders schmerzhaften Eingriffs eine Vollnarkose forderte. Nachdem sie eingeschlafen war, wagten sie einen Blick unter ihren Rock - und begannen lauthals zu lachen.
 



 
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