Westerngirl

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Westerngirl

Das Schaufenster des Friseursalons war so blank geputzt, dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes darin spiegeln konnte. Aber nicht das eigene Spiegelbild interessierte die junge Frau. Ein Mann, Mitte dreißig, schlank, hoch gewachsen, und fast zu gut aussehend, um Realität zu sein, war das Objekt ihrer Begierde.
Sie warf einen letzten kontrollierenden Blick in die Runde. Kein Zweifel, dieser Mann am Rathausbrunnen musste "Westernboy" sein, ihr Date für heute Nachmittag. Mit dem dunkelgrauen Stetson auf dem Kopf und der zusammengefalteten Zeitung in der Hand lächelte er aufmunternd in Richtung Schaufenster. Wusste nur zu gut, wer sie war und was sie gerade tat. Es amüsierte ihn.
Zwei Männer beobachteten die Szene. Der Erste saß nur wenige Schritte von "Westernboy" entfernt an einem der kleinen Tische des Straßencafés und gönnte sich einen Espresso. Der Zweite stand vor dem Schaufenster der Bücherei, hatte die junge Frau ebenfalls ins Auge gefasst. Beide flirteten ungeniert mit ihr. "Westerngirl", wie sie sich im Chatroom genannt hatte, lächelte verstohlen, zupfte am Ohrclip. Tage wie diesen erlebte sie nur selten.
"Westernboy" stand noch immer am Brunnen, überließ es ihr, die Initiative zu ergreifen. Sollte ihr recht sein. Mit wenigen Schritten war sie am Rathausbrunnen, sprach ihn direkt an: "Westernboy?"
"Aber ja!", lüftete mit anrührend altmodischer Geste den Hut, strahlte sie an. "Westerngirl" zupfte erneut am Ohrclip.
"Thorsten Sighansen, alias 'Westernboy'?" Es war die Stimme des Espressotrinkers, die den Hutträger jäh aus seinen Gedanken riss. Den Mann nahm er jetzt erst bewusst wahr.
"Bitte folgen Sie mir und meiner Kollegin aufs Polizeirevier. Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor."
"Wieso Polizeirevier? Da muss ein Irrtum vorliegen. Sicher verwechseln Sie mich. Ich bin Carl Nelson. Und die Dame, wieso reden Sie von ihr wie von einer Polizeibeamtin?"
Der Mann vom Büchereischaufenster hatte sich zu seinen Kollegen gesellt, half dem Verhafteten auf die Sprünge: "Sagen Ihnen die Namen Madeleine Duvall-Mertensen alias 'Schwebende Taube' und Klara Robertz alias 'Aufgehender Mond' etwas?"
Sighansen nickte mechanisch.
"Die beiden Damen waren wirklich sehr hilfsbereit uns gegenüber, besonders nachdem sie feststellen mussten, dass Sie, Sighansen, bei ihren Spar- und Girokonten gründlich aufgeräumt haben. Die Zeiten sind vorbei, wo die Damen schamvoll schwiegen, wenn man sie übers Ohr gehauen hat. Die Geschädigten haben uns sogar ihre Notebooks für einen Tag überlassen, damit wir alles recherchieren und die nötigen Beweise sichern konnten", erzählte der Kripobeamte nicht ohne einen Funken Stolz. "Tja, E-Banking ist eine feine Sache. Und für unsere Kollegin war es danach eine Kleinigkeit, sich im Chatroom an Sie ranzumachen. - Darf ich jetzt bitten, Herr Sighansen."
Wie es sich für einen Heiratsschwindler seiner Kategorie gehörte, machte er kein Aufsehen, folgte den beiden Männern zum wartenden Auto. Warf beim Einsteigen noch einen letzten Blick auf die makellose Figur der Polizistin, die in einem zweiten Fahrzeug Platz nahm.
"Rasseweib!"
"Wem sagen Sie das, Sighansen", seufzte der Beamte mit Vorliebe für gute Bücher. "Leider schon vergeben."
 



 
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