Lieber Martin,
vielen Dank für deine differenzierte Kritik!
Vorab: Das ist eines dieser Gedichte, die meinem eigenen Verstand beim Schreiben nicht zugänglich sind. Es ist oft so, dass ich Gedichte wirklich streng durchkomponiere, d.h., eine Idee von einer Form habe, die ich fülle, o.ä. "Wichtig" hört sich durchkomponiert an, aber in Wirklichkeit habe ich die Bruchstücke, die mir in den Sinn kamen, erst spät in eine Form gebracht, die ich mochte, und nicht viel darüber nachgedacht. Ich könnte für keines meiner Bilder sagen, warum ich es benutzte - nur im Nachhinein versuchen, es zu verstehen ;-); umso mehr freue ich mich, dass ihr mir dabei helft, und dass eure Interpretationen so gut das Gefühl aufgreifen, dass ich beim Schreiben hatte!
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Rückblickend kann ich sagen, dass Montgelas mit seiner Erwähnung des biographischen Kontextes sehr Recht hat (In meinen Abi-Kommentaren stand, ich spräche wie eine Kalaschnikoff - und das nach 12 Jahren in Deutschland ;-); irgendwie war er mir wichtig, dieser Vers...), und auch sonst die Entwicklung so beschreibt, wie ich sie vermutlich auch beschrieben hätte ;-). Ich möchte folgendes ergänzen:
An zwei Stellen erscheint mir der (streng?) funktionale Aufbau durchbrochen zu sein:
> zuweilen klingt mein hartes deutsch
> schon ziemlich richtig
> die silbe findet ihren fuß
Die beiden anderen Strophen enthalten an dieser Stelle mit "lasst rippen heil" und "bedient euch" Formulierungen mit auffordernden Charakter, denen man sich als Leser kaum entziehen kann, weil man das subtile Gefühl hat, sie könnten auch an einen selbst gerichtet sein. Das gefällt mir gut und ich würde mir vielleicht auch für die 1. Strophe etwas Ähnliches wünschen.
Genau betrachtet sind die zwei letzten Strophen in ihren Aufforderungen ja auch nicht gleich! Man könnte eine Entwicklung beschreiben: In der ersten Strophe ist das Lyri noch größtenteils mit sich selbst beschäftigt, mit der eigenen Integration, mit einer distanziert-kritischen Schauung der Gesellschaft, mit Erkenntnis (denn so könnte man das "schon ziemlich richtig" auch deuten) und dem Rückzug in die Ästhetik.
Das ist aber nicht das einzige, was für das Lyri
wichtig ist! In der zweiten Strophe kommt eine Annäherung an die anderen Menschen - von der Anschauung zur direkten Ansprache, von dem Betrachten der äusseren Verhaltensweisen zur beschäftigung mit den Träumen, der Seele, dem wirklich Menschlichen! Aber auch hier bleibt das Lyri noch auf Distanz.
Insofern hat die Aufforderung "lasst Rippen heil" mit ihrem sogar fast zynischen Unterton eine ganz andere Metapher, als "bedient euch" - in der letzten Strophe geht es um absolute Nähe, das Lyri möchte mit der Welt verschmelzen; und nicht nur mit einem Menschen - mit allen, allen! Die Formulierung "
Noch strömt man aufeinander zu" zeigt, dass absolute Annäherung - nicht nur metaphorisch mit körperlicher Liebe umschrieben ;-) - eine Art "Lösung" ist!
Wenn man das auf diese Weise verfolgt - vom weniger wichtigen zum wichtigsten, vom persönlichen zum alle Menschen umfassenden - könnte man erklären, warum in der ersten Strophe keine Aufforderung auftaucht.
Was du über die Ortsbestimmung in den Strophen 1 und 3 sagst, stimmt, und ich kann leider keine Erklärung herleiten - bzw., es wäre zu bemüht ;-). Dieser Punkt ist mir (im Gegensatz zu dem ersten, den du nennst) selbst überhaupt nicht aufgefallen, es hat also nichts mit dem Reim zu tun ;-)! Man könnte es als einen Fehler in der Struktur sehen, ich persönlich empfinde es als nicht sooooo
wichtig - eine Art "Ortsbestimmung" der beschriebenen Phänomene spielt für das Gedicht keine große Rolle, denke ich, die Übereinstimmung in den Strophen 1 & 3 ist eher zufällig...
Ich hoffe, meine Antwort wird deinen Ausführungen gerecht...
Liebe Grüße,
Julia