Wie der alte Griesgram den Berg und den Felsen fragt

Krischan

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„Du bist nicht bei dir.“ sagt der Berg. „Vergiss das nicht.“

Noch hinter den Beeten ganz rechts, dicht an der Umrandung steht das Gartenhaus vom alten Griesgram. Dorthin schlurft er, die Klüften zu hacken, den Blattkohl abzulesen und Holz zu klaftern. Dort schlurft er hin, wenn das Gewusel und Geschnusel der Elfe ihm zu viel sind.
Er ist gern dort.
Das Gartenhaus war nicht immer eines. Vor vielen Generationen rangen seine Vorfahren dem dichten Wald das Stück Land ab, das jetzt sein Anwesen ist. Sie fällten, rodeten, furchten und eggten. Vor allem aber hungerten sie, denn auf dem sauren Waldboden wuchs die Saat mehr schlecht als recht.
Hier also steht das Gartenhaus, die Behausung seiner Vorfahren. Schief und klein steht es da. Der Holzwurm hat den Stützbalken ihre Kraft genommen und die Dachschindeln mögen weder die Sonne, noch den Regen oder den Wind.
Zieht die Sonne ihre Bögen nicht mehr über die Baumwipfel und es wird kalt und klamm im Griesenland, sagt der alte Griesgram zur Elfe, dass er nun in das Gartenhaus gehen muss, die Feuerstelle dort anzuheizen. Wenn es richtig wabert im Raum, macht er alle Öffnungen auf und die Feuchtigkeit zieht als hauchzarter Nebel hinaus. Bis es aber so weit ist, setzt der alte Griesgram sich ein oder zwei Sud Rauschblättertee an und stiert in aller Selenruhe vor sich hin. Das sagt er der Elfe nicht. Sie weiß es auch so.
Es ist der vorletzte Mond im Jahr. Kalt ist es geworden im Griesenland und heute ist Vorfahrentag. Was Spaß macht, ist bei Strafe verboten. Alle sollen andächtig ihrer Vorfahren gedenken, an das, was sie von ihnen gelernt haben und wofür sie ihnen dankbar sind. Dabei soll keiner sich durch Gelächter und Tollerei ablenken lassen. Allerhöchstens kann man einen kleinen Schwatz halten, wenn man mit seinesgleichen die Grabstätten pflegt.
Die Elfe zieht sich ihre Jacke an und sagt –
Ihr lacht? Habt ihr jemals darüber nachgedacht, wo unsere Elfen im Winter sind? Die Kinder und die Jungmänner sehen sie nur im Frühling oder im Sommer über Blumenwiesen schwirren. Manchmal verirrt sich eines zu den Äckern und Wegen oder es wird vom Wind über die Pfuhle und Wälder abgetrieben. Wenn wir jung und voller Fantasie sind, suchen sie unsere Nähe, denn sie sind neugierig und spielen uns gerne ihre harmlosen Streiche.
Aber wo die Elfen im Winter sind, das weiß niemand. Manche Elfenforscher, die sich mehr der Mystik und der Geschichte des Elfenwesens widmen, vermuten, dass sie zu den Ländern jenseits des Regenbogens fliegen, bevor das erste Herbstblatt vom Baum fällt.
Andere, die sich der Botanik verschrieben haben, glauben, dass die Elfen sich im trockenen Laub einmummeln oder in Schilf- und Grashalme kriechen und dort den Winter verschlafen. Aber sie können keine Elfen mehr sehen und so warnen sie euch, liebe junge Leser, lieber nicht nachzusehen, ob ihr eines findet. Ihr könnt euch sicher gut vorstellen, dass ein Elflein in der kalten Luft wie ein Kristall zerklirren würde, wenn ihr seine schützende Behausung zerstört.
Ihr wisst ja: Niemand darf einer Elfe etwas zuleide tun! Auch nicht aus Versehen.
Die Elfe zieht sich also ihre Jacke an. Sie hat sich aus Moos eine federleichte und ofenwarme Jacke gewoben mit einer dicken Kapuze, so dass die Kälte höchstens ihrer Nasenspitze einen Zwicker verpassen kann.
„Ich werde jetzt mit meiner Nachbarin zur Vorfahrenstätte gehen. Eine schöne Andacht im Gartenhaus wünsche ich dir.“ Sie weiß, dass dem Griesgram das Geschnusel der Gevatterinnen nicht liegt. Hier in Blättchen herzurichten, dort ein Harkenstrichlein zu verbessern, ein Kerzchen aufzustellen, das das ist die Art, wie sie an diesem Tag ihre Gemeinschaft pflegen.
Geschäftig sind sie und doch halten sie, jede für sich, Zwiesprache mit ihren Vorfahren und deren Eltern.
„Auch dir eine schöne Zeit, meine liebe. Du weisst, dass ich…“
Da ist sie schon entschwebt. Sie weiß, dass der Griesgram lieber allein ist. Er wird zum Gartenhaus schlurfen, die Asche aus der Feuerstätte zu scharren. Dann wird er kleines Holz holen, um anzuheizen. Wenn helle Flammen schlagen, legt er größere Scheite nach und zwischendurch wirft er kleine Ästchen und modrige Rinde hinterher. Bis die Hitze es sich im Inneren gemütlich gemacht hat, schwingt er den großen Laubrechen und wirft den Schkollingen Hartkörner hin.
Auf seine Art verbringt er den Tag genau so wie die Elfe.
Stiller und eingekehrter ist seine Art.
Nun wabert es im Inneren. Der alte Griesgram setzt sich einen Sud Rauschblätter an und entzündet ein paar Flackerlichter. „Heute ist Vorfahrentag.“ murmelt er. „Gedenke.“
Neben ihm sitzt der Elfenvater. Das breite Gesicht mit dem freundlichen Schmunzeln ist ihm zugewandt. Die Augen hat der Elfenvater geschlossen.
„Komm auch du.“ denkt der alte Griesgram und ruft so seinen eigenen Vater herbei. Der blickt wie immer leicht zur Seite und lacht leise in seinen Gedanken. Auch seine Augen bleiben verborgen.
„Warum hast du uns gerufen?“ fragen sie.
„Weil ich euch vermisse.“
„Quatsch.“ sagt der Elfenvater.
„Du vermisst, was du nicht bekommen kannst.“ sagt der eigene Vater.
Der alte Griesgram hält stille Zwiesprache mit den Geistern seiner Väter. Ihre Münder bleiben verschlossen.
„Hast du Angst?“ fragt der eigene Vater.
„Vor der Einsamkeit. Vor dem, was davor kommt.“
„Ich hatte auch Angst. Ich habe dich belogen damals.“
„Ich weiß.“
„Ich weiß auch.“
„Ich hatte keine Angst.“ sagt der Elfenvater. Ich fiel vom Baum und war tot.“
„Du Glücklicher.“
„Nun ja. Ich bin tot.“
„Wie ist es, tot zu sein?“
„Was glaubst du?“
Der alte Griesgram steht vor der Behausung seiner Kindheit. Dahinter ist nichts, denn die Vergangenheit gibt es nicht. Vor ihm liegt ein breiter Weg, der in einem großen Bogen bis zum Horizont führt. Der Weg ist leer. Hinter seinem Horizont wird er weiter führen, immer weiter. Aber das wird nicht mehr sein Weg sein. Denn auf der linken Seite steht eine kleine Kiefernschonung. Noch ist sie weit weg, ein schwarzer Schatten. An ihrem Rand kann er einzelne Äste sehen und Stämme in ihrer Silhouette. Davor steht eine schemenhafte Gestalt. Es sind die grauen Umrisse eines Wanderers, der sich auf seinen Stab stützt. Nichts Bedrohliches ist an ihm und nichts Beruhigendes. Er steht einfach nur da, seinem Weg zugewendet.
Wenn der alte Griesgram ihn erreicht habe, wird der graue Wanderer ihn zu sich winken und er wird seinen Weg verlassen.
„Schön.“ sagt der Elfenvater spöttisch. „Und dann?“
„Nichts.“
„Nichts.“ sagen beide.
„Das dachte ich. Aber warum seid ihr hier?“
„Wir sind nur in deinem Kopf.“
Leise und nachdrücklich sagt der eigene Vater:
„Wir wären besorgt, dich so zu sehen. Ist das ein guter Tag für dich?“
„Ich wollte nicht so traurig sein.“
„Bist du ein Griesgram?“ fragt der Elfenvater. „Oder ein Trauerkloß?“
Der alte Griesgram setzt sich gerader hin.
„Mir fehlt Geborgenheit.“
„Gib Geborgenheit.“ sagt der eigene Vater. „Dann kommst sie vielleicht zu dir zurück.“
„Toll.“ denkt der alte Griesgram. „Vogelhäuser bauen.“
„Du bist geborgen.“ sagt der Elfenvater. „Aber du bist alt.
Du bist anders geborgen als früher.“
Elfenwuseln. Baumen. Griesenland.
„Ihr…“
„Wir sind in deinem Kopf.“ sagen beide. „Wir sind du.“
„Lass uns raus aus deinem Kopf.“ sagt der eigene Vater. „In deinem Herzen ist es zweifellos gemütlicher.“
„Okay. Möchte noch jemand einen Rauschblättersud?“
„Teilen wir uns einen?“ fragt der Elfenvater.
Der alte Griesgram öffnet seine Augen und pustet das Flackerlicht aus. Erst verschwimmen die Geister seiner Väter vor seinen Augen, dann verschwinden sie.
Das alte Gartenhaus ist der Ort, an dem der alte Griesgram sich vergisst und an dem er zu sich findet. Am nächsten Vorfahrentag wird er Hand an die Stützbalken legen.
Er wird bei sich bleiben. Geborgen, wenn er es zulässt.

„Ich sehe hier weiter nach dem rechten.“ sagt der Felsen
 



 
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