Wie ich meinen Rilke verlor...
„Alles haben wir“, sagt mein Mann eines Tages, als er dabei ist, die doppelten Bücher auszusondern, „aber wo ist dein Rilke?“
Es scheint fast, als hätten wir beide zwanzig Jahre lang die gleichen Bücher gesammelt.
Sogar den Tagore „Das Heim und die Welt“ und „Kabuliwalla“ haben wir zweimal, obwohl doch ich der ‚Tagorefan’ gewesen bin, denn , ich gestehe, ich hatte da mal als Studentin einen Inder kennengelernt. Als er nach seinem Studium sich von mir verabschiedete, sagte er, er könne mich nicht mitnehmen, denn ich hätte dort in Indien dann nur ihn, er aber alle, und das ginge auf die Dauer nicht gut. Heute fällt es mir leicht, zu sagen, dass ich sowieso nicht mitgegangen wäre, damals muss das aber etwas anders in meinem Innern ausgesehen haben.
„Wie kommst du auf Rilke?“ frage ich.
„Na, meiner steht da oben, aber nur der erste Band, und deine zwei fehlen...“
„Vielleicht hatte ich keinen?“
Mein Mann steigt von der Leiter herab, er hält mir den braunen Leinenband entgegen: Nur ein goldener Schriftzug darauf: R. M. Rilke.
„Dass dir der Simonow fehlt, das geht an“, sagt er, „ aber erzähle mir ja nicht, dass du den Rilke nicht hattest, da wett ich drauf...“
Er legt das Buch auf den Tisch und steigt wieder hinauf.
„Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen...“
Die Abelone.
Natürlich hatte ich den Rilke. Anfang der Sechziger erschienen die beiden braunen Leinenbände mit dem goldenen Schriftzug. Sie lagen nachts unter dem Kopfkissen.
Gedichte schrieb ich noch nicht, nur Kurzgeschichten, die sich dadurch auszeichneten, nur kurz und weniger Geschichten zu sein.
Dann verliebte ich mich. Es muss eine tragische Liebe gewesen sein, denn seit der Zeit ist mir Rilkes Weisheit: „Aus jeder Traurigkeit erwächst eine neue Welterkenntnis“ verinnerlicht .
Ja, und da begann dann meine „Gedichtphase“. Viele waren es nicht, vermute ich wenigstens. Aber ich war von ihnen hingerissen. Sie hatten etwas Mystisches an sich, etwas Unverständliches. Das wurde gerade modern. Das ich selbst auch nicht genau wusste, was sie bedeuten sollten, war mir gerade recht. Die Stimmung war es, diese sanfte, zarge Trauer, auf die es ankam.
Damals war mir klar, dass ich der Liebe „auf immer entsagt“ hatte und eine zweite Sapho zu werden begann.
Das war kurz vor Weihnachten, wir Studenten besserten durch Nachtschichten bei der Deutschen Post unsere finanzielle Lage auf. Von fünf Gedichten und zwei Bänden Rilke unterm Kopfkissen wird man nicht satt. Von unglücklicher Liebe, musste ich feststellen, auch nicht.
Der Jüngling, der mich nachts beim Pakete sortieren zu belagern begann, war alles andere als ein Superstar, obwohl in seinem Ausweis, wie die Mädchen um mich herum sich zu kicherten, „Schauspieler“ stand.
Ich konnte nichts an ihm finden, so knochig, unausgeschlafen und blaugefroren wie er im Neonlicht der zugigen Pakethalle herumstakte.
Aber wie das so ist, steter Tropfen höhlt den Stein: Eines Tages tranken wir zusammen Kaffee. Erst am Bahnhofskiosk nach der Schicht. Und dann, nach entsprechender Anstandszeit, versteht sich, ich war ja von Romantik umfangen, ging er ganz selbstverständlich neben mir am Pförtner des Studentenwohnheims vorbei, es war morgens gegen sieben. Wie konnte der Pförtner auch wissen, dass für uns nicht der Tag, sondern die Nacht anfing? Besuche zwischen zweiundzwanzig Uhr und sechs Uhr früh waren nämlich verboten...
Aber es war tatsächlich unbedenklich, denn der nach nichts aussehende Jüngling deklamierte unendlich leise und zart Gedichte, Epigramme, Sprüchlein, Witzigkeiten, winzige Erzählungen, alles voll Feinheit und Grazie.
Auch meinen Rilke nahm er behutsam und las mir vor.
Bis ich ihm eines Morgens meine eigenen fünf Gedichte zum Frühstück servierte.
Er las sie und sagte nichts. Er sagte lange Zeit nichts.
Die Arbeit bei der Post ging zu Ende. Der Winterurlaub begann. Schnee fiel und starker Frost setzte ein.
Wir standen beide am Fenster in meinem Zimmer und sahen zum letzten Male gemeinsam hinaus in den Wintermorgen mit dem rasch fallenden Schnee...
„Schreiben soll nur der, der etwas zu sagen hat. Wie viel wird täglich geschrieben, wie viel ist bisher geschrieben worden, wie viel Zeit hat der Mensch zum Lesen...
Und dann soll er sich damit herum plagen, die Ergüsse trauriger kleiner Mädchen oder unbefriedigter Frauen über sich ergehen zu lassen! Sei mir nicht böse, aber Schreiben, nein, Schreiben ist nichts für dich..., heirate, schaff dir Kinder an... und vergiss den Rilke...!“
Man hat mich schon oft auseinander genommen und es hat auch meistens weh getan.
Aber dort, an diesem Wintermorgen, durchfroren noch von der Nachtarbeit, den rasch fallenden Schnee vor Augen, war mir plötzlich, als wäre mein Körper aus Glas, leblos und kalt, als könne ich von außen, als Fremder, in mich hineinsehen und mich erkennen bis ins Innerste.
Ich spürte keine Enttäuschung, keine Wut, keine Traurigkeit, aber auch keine Liebe und kein anderes Gefühl.
„Alles ist Eitelkeit“, sagte er, „und sonst nichts...“
Ich habe, nach Wochen, versucht, meinen Rilke von ihm zurückzubekommen, an seiner Tür aber stand ein anderer Name.
Ich habe ihn seither nie wieder gesehen, seine einschmeichelnde, leise Stimme nie wieder gehört, den Rilke nie wieder gelesen...
Ich nehme den brauen Band meines Mannes und suche darin den „Cornett“. Er fehlt. Er ist also in dem anderen Band. Und den haben wir nun nicht.
„Ich glaube“, sage ich zu meinem Mann, „ da wollte mich mal jemand vor dem Schlimmsten bewahren... Aber jetzt könnten wir ja mal im Antiquariat nachsehen.“
„Sowieso“, sagt er, „wir sind ja keine Schwärmer mehr.“
Ich sehe zu meinem Mann hinauf und denke plötzlich, dass es besser wäre, wir würden nicht so viel von einander wissen...
„Alles haben wir“, sagt mein Mann eines Tages, als er dabei ist, die doppelten Bücher auszusondern, „aber wo ist dein Rilke?“
Es scheint fast, als hätten wir beide zwanzig Jahre lang die gleichen Bücher gesammelt.
Sogar den Tagore „Das Heim und die Welt“ und „Kabuliwalla“ haben wir zweimal, obwohl doch ich der ‚Tagorefan’ gewesen bin, denn , ich gestehe, ich hatte da mal als Studentin einen Inder kennengelernt. Als er nach seinem Studium sich von mir verabschiedete, sagte er, er könne mich nicht mitnehmen, denn ich hätte dort in Indien dann nur ihn, er aber alle, und das ginge auf die Dauer nicht gut. Heute fällt es mir leicht, zu sagen, dass ich sowieso nicht mitgegangen wäre, damals muss das aber etwas anders in meinem Innern ausgesehen haben.
„Wie kommst du auf Rilke?“ frage ich.
„Na, meiner steht da oben, aber nur der erste Band, und deine zwei fehlen...“
„Vielleicht hatte ich keinen?“
Mein Mann steigt von der Leiter herab, er hält mir den braunen Leinenband entgegen: Nur ein goldener Schriftzug darauf: R. M. Rilke.
„Dass dir der Simonow fehlt, das geht an“, sagt er, „ aber erzähle mir ja nicht, dass du den Rilke nicht hattest, da wett ich drauf...“
Er legt das Buch auf den Tisch und steigt wieder hinauf.
„Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen...“
Die Abelone.
Natürlich hatte ich den Rilke. Anfang der Sechziger erschienen die beiden braunen Leinenbände mit dem goldenen Schriftzug. Sie lagen nachts unter dem Kopfkissen.
Gedichte schrieb ich noch nicht, nur Kurzgeschichten, die sich dadurch auszeichneten, nur kurz und weniger Geschichten zu sein.
Dann verliebte ich mich. Es muss eine tragische Liebe gewesen sein, denn seit der Zeit ist mir Rilkes Weisheit: „Aus jeder Traurigkeit erwächst eine neue Welterkenntnis“ verinnerlicht .
Ja, und da begann dann meine „Gedichtphase“. Viele waren es nicht, vermute ich wenigstens. Aber ich war von ihnen hingerissen. Sie hatten etwas Mystisches an sich, etwas Unverständliches. Das wurde gerade modern. Das ich selbst auch nicht genau wusste, was sie bedeuten sollten, war mir gerade recht. Die Stimmung war es, diese sanfte, zarge Trauer, auf die es ankam.
Damals war mir klar, dass ich der Liebe „auf immer entsagt“ hatte und eine zweite Sapho zu werden begann.
Das war kurz vor Weihnachten, wir Studenten besserten durch Nachtschichten bei der Deutschen Post unsere finanzielle Lage auf. Von fünf Gedichten und zwei Bänden Rilke unterm Kopfkissen wird man nicht satt. Von unglücklicher Liebe, musste ich feststellen, auch nicht.
Der Jüngling, der mich nachts beim Pakete sortieren zu belagern begann, war alles andere als ein Superstar, obwohl in seinem Ausweis, wie die Mädchen um mich herum sich zu kicherten, „Schauspieler“ stand.
Ich konnte nichts an ihm finden, so knochig, unausgeschlafen und blaugefroren wie er im Neonlicht der zugigen Pakethalle herumstakte.
Aber wie das so ist, steter Tropfen höhlt den Stein: Eines Tages tranken wir zusammen Kaffee. Erst am Bahnhofskiosk nach der Schicht. Und dann, nach entsprechender Anstandszeit, versteht sich, ich war ja von Romantik umfangen, ging er ganz selbstverständlich neben mir am Pförtner des Studentenwohnheims vorbei, es war morgens gegen sieben. Wie konnte der Pförtner auch wissen, dass für uns nicht der Tag, sondern die Nacht anfing? Besuche zwischen zweiundzwanzig Uhr und sechs Uhr früh waren nämlich verboten...
Aber es war tatsächlich unbedenklich, denn der nach nichts aussehende Jüngling deklamierte unendlich leise und zart Gedichte, Epigramme, Sprüchlein, Witzigkeiten, winzige Erzählungen, alles voll Feinheit und Grazie.
Auch meinen Rilke nahm er behutsam und las mir vor.
Bis ich ihm eines Morgens meine eigenen fünf Gedichte zum Frühstück servierte.
Er las sie und sagte nichts. Er sagte lange Zeit nichts.
Die Arbeit bei der Post ging zu Ende. Der Winterurlaub begann. Schnee fiel und starker Frost setzte ein.
Wir standen beide am Fenster in meinem Zimmer und sahen zum letzten Male gemeinsam hinaus in den Wintermorgen mit dem rasch fallenden Schnee...
„Schreiben soll nur der, der etwas zu sagen hat. Wie viel wird täglich geschrieben, wie viel ist bisher geschrieben worden, wie viel Zeit hat der Mensch zum Lesen...
Und dann soll er sich damit herum plagen, die Ergüsse trauriger kleiner Mädchen oder unbefriedigter Frauen über sich ergehen zu lassen! Sei mir nicht böse, aber Schreiben, nein, Schreiben ist nichts für dich..., heirate, schaff dir Kinder an... und vergiss den Rilke...!“
Man hat mich schon oft auseinander genommen und es hat auch meistens weh getan.
Aber dort, an diesem Wintermorgen, durchfroren noch von der Nachtarbeit, den rasch fallenden Schnee vor Augen, war mir plötzlich, als wäre mein Körper aus Glas, leblos und kalt, als könne ich von außen, als Fremder, in mich hineinsehen und mich erkennen bis ins Innerste.
Ich spürte keine Enttäuschung, keine Wut, keine Traurigkeit, aber auch keine Liebe und kein anderes Gefühl.
„Alles ist Eitelkeit“, sagte er, „und sonst nichts...“
Ich habe, nach Wochen, versucht, meinen Rilke von ihm zurückzubekommen, an seiner Tür aber stand ein anderer Name.
Ich habe ihn seither nie wieder gesehen, seine einschmeichelnde, leise Stimme nie wieder gehört, den Rilke nie wieder gelesen...
Ich nehme den brauen Band meines Mannes und suche darin den „Cornett“. Er fehlt. Er ist also in dem anderen Band. Und den haben wir nun nicht.
„Ich glaube“, sage ich zu meinem Mann, „ da wollte mich mal jemand vor dem Schlimmsten bewahren... Aber jetzt könnten wir ja mal im Antiquariat nachsehen.“
„Sowieso“, sagt er, „wir sind ja keine Schwärmer mehr.“
Ich sehe zu meinem Mann hinauf und denke plötzlich, dass es besser wäre, wir würden nicht so viel von einander wissen...