wie lange schon

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gewöhnt an heimatlosigkeit
die wie der eselsschrei
_____________am abend
mich einhüllt sitze ich
am wohlbekannten tisch
und auch mein lächeln ist euch
wohlbekannt

noch werde ich dazugezählt
hebe noch das glas
auf die gesundheit
und das glück
spreche noch
mit alten worten

doch wart ich auf den wind der mich
gemeinsam mit dem schrei des esels
verweht in einen abend
auf den kein morgengrauen folgt
 

sufnus

Mitglied
Hey charlotte,
in diesen Zeilen höre ich eine große Untröstlichkeit. Vermutlich, weil das gängige Weltangebot des Dazugezähltwerdens in der mittleren Strophe als wenig attraktiv erscheint und offenbar eher aus Höflichkeit mit einem erhobenen Glas erwidert wird.
Das Schlüsselwort des Gedichts ist für mich übrigens nicht die Heimatlosigkeit, der Eselschrei oder der Abend - obwohl das alles sehr signifikante Begriffe in diesem Text sind. Das Schlüsselwort für mich lautet: Wind.
Ich muss dabei an die Lyrik von Thomas Bernhard denken, deren Vokabular ich sehr mag (wohingegen mich die Klang- und Rhythmusstruktur vieler seiner Gedichte irritiert - Peter v. Matt sprach ganz richtig von einem seltsam "orgelnden" Ton in Bernhards Lyrik).
Zurück aber zu den Vokabeln der Bernhard'schen Gedichte. Da ist tatsächlich auch ein immer wiederkehrendes und ambivalent wirkendes Wort "Wind" (so schreibt er z. B. vom "großmächtigen Tabernakel des Windes"). Peter v. Matt glaubt, dass dieser Begriff als Einstieg in die durchaus unzugängliche Lyrik von Bernhard taugt und sieht in diesem Wort eine Art Metapher (aber im weitesten Sinne) für die "Sprache".
Der Wind zählt ja zu den potentiell durchaus mächtigen, ja sogar zerstörerischen, Naturerscheinungen und ist doch von seinem Wesen her, unstet und vergänglich. Demgegenüber ist die Sprache (zumal diejenige von dichtenden Zeitgenossen) ja geradezu ein Menschenwerk im Dienste der Durchdauerung - Horaz hat sein Monument, welches dauerhafter sei als Erz (recht hatte er) aus Sprache errichtet und auch Shakespeare hat in seinen Sonetten immer wieder die (korrekte) Überzeugung geäußert, mittels der Sprache das Schicksal der raschen Vergänglichkeit zu überlisten.
Bei Bernhard nun wird diese Sichtweise etwas ambivalenter - der Wind weht durchaus immer wieder, so lange unsere gute alte Erde noch eine Atmosphäre besitzt und doch ist er formlos und flüchtig.
Auf den Wind zu vertrauen, wie es Deine letzte Strophe tut, könnte nun im Bernhard'schen Sinn bedeuten, auf die Sprache zu vertrauen.
Ich bin mir beinahe Gewiss, dass ich Dein Gedicht hier sehr stark umdeute - aber es gefällt Dir aber vielleicht, wenn ich etwas herauslese, was Du nicht absichtsvoll hineingeschrieben hast. Sollte das gar eine Bestätigung der These von der Verbindung zwischen der Sprache und dem Wind sein?
LG!
S.
 
lieber sufnus,
ich war ja jetzt länger nicht hier und merke, wie ich deine kommentare vermisst habe ;). das ist wirklich auch eine kunst.

du kennst ja meine meinung - was das gedicht macht, ist eure sache.
für mich war der ausgangspunkt der eselsschrei — es gibt ein wunderbaren gedicht von kunze, wo er mit dem gastgeber durch die prärie fährt auf nahtlosem asphalt und da heißt es:

__Einmal einen eselsschrei
__in die hände nehmen dürfen

__Hundert schritte tun
__außerhalb einer tankstelle

Und bei esel denke ich immer auch an benjamin, den esel in animal farm.
___ihr habt noch nie einen toten esel gesehen.
heimatlosigkeit und abend sind hintergrund für mich. da hast du recht.

das mit der sprache und dem wind fasziniert mich natürlich sofort. war nicht meine intention. eher der wind, der weht wo er will und damit unserer machbarkeit enthoben ist - auch meiner. aber ich will das jetzt auch nicht überladen. natürlich liegt aber genau da die parallelität zur sprache und den wörtern, die ja auch machen, was sie wollen. und ich kann mich bemühen, wie ich will - ich lege es aus der hand, wenn ich sie frei lasse.

bei untröstlichkeit bin ich mir unsicher. zu wissen, dass es keinen trost gibt und du doch leben kannst, befreit vielleicht auch von der untröstlichkeit. ob dialektisch oder ironisch mag offen bleiben.

danke für deine anregungen!
liebe grüße
charlotte
 

sufnus

Mitglied
Hey charlotte,
also ich muss sagen, es fühlt sich wirklich ziemlich gut an, in Form meiner Kommentare von Dir vermisst worden zu sein. :) Wobei ein Kommentar immer nur höchstens halb so gut sein kann, wie das kommentierte Ausgangsmaterial.
Egal. Ich denke, ich werde mich jetzt in den nächstgelegenen Kühlschrank setzen und sonst heute nichts mehr unternehmen. Noch mehr positiver Input wär irgendwie zu viel. So im Hinblick auf Fallhöhe und so.
Fröhliche Grüße!!! :)
S.
 

sufnus

Mitglied
Wie schön ist es doch, liebe charlotte, mit warmem Herzen im Kühlschrank zwischen Senfglas und Schnittkäse zu sitzen und in Deine freundliche Erwiderung zu lesen. :)
LG!
S.
 
kennst du le vent nous portera von noir desir? sophie hunger hat es auch gesungen - ich liebe sie.
und felix meyer hat es deutsch gesungen: der wind trägt uns davon.
das ist mir jetzt gerade klar geworden, wie sehr das in mir ist. also hast du vielleicht recht mit dem wind.
aber der weht mich sogar aus der sprache. gut, da bin ich dann wieder bei wittgenstein.
liebe grüße
charlotte
 

sufnus

Mitglied
Hey... ja, das kenn ich in der Tat... aber ich traue mich an die Songs von Noir Désir nicht zu nahe heran, ehrlich gesagt. Kein Boykott oder so... eher eine Art seelischer Sicherheitsabstand.
Von Sopie Hunger habe ich nur ein paar Sachen im Radio gehört und war schwer begeistert. Und Felix Meyer find ich eh großartig. :)
Der vielzitierten These von Witti würd ich allerdings widersprechen, denn ich finde, wo es einen aus der Sprache rausweht, da fängt die Sprache erst richtig an (Sinn zu ergeben). :)
LG!
S.
 
vielleicht bist du näher an ihm, als mir lieb ist (eifersüchtig wegen eines mannes :) ).
sagen und zeigen - lyrik zeigt. dafür hatte er viel sinn.
aber sie zeigt es. oder es zeigt sich in ihr (das gedicht ist ja auch geschrieben).
sie lässt im guten falle sinn aufscheinen. aber nicht objektiv und für alle nach einer
gesetzmäßigkeit.
am ende würdet ihr euch verstehen.
 



 
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