Wie man garantiert einen Mörder entlarvt

Günter Wendt

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Eene meene hickenpacken…
oder
Wie man garantiert einen Mörder entlarvt





In der großen dunklen Bibliothek fand das Licht durch die raumhohen, antiken Bleiglasfenster nur mühsam Einlass. Die Stille im Raum wurde von dem Ticken einer Standuhr zerhämmert. Sie war dermaßen groß und alt, dass sie als Touristenattraktion auf dem Husumer Marktplatz Hunderte Besucher angelockt hätte.

Das trübe Tageslicht zeichnete auf dem indischen, von zarten Kinderhänden geknüpften Teppich bizarre Muster. Die Luft im Raum war derart rauchgeschwängert, dass dagegen jede Fischräucherei an der Kleikuhle mehr Chancen gehabt hätte, eine Genehmigung als Naherholungszentrum für Lungenkranke zu bekommen als diese Bibliothek.

Sieben Personen waren anwesend. Einige sitzend, in mit rotem Leder bezogenen Ohrensesseln. Andere stehend, lässig mit einem Glas Portwein in der Hand ans Bücherregal gelehnt oder am Kamin mit einem Ellenbogen auf dem Sims.

Plötzlich schlug die Uhr viermal. Fräulein Mommsen ließ ihr Glas vor Schreck auf den von zarter Kinderhand geknüpften Teppich fallen und ihrer Kehle entfuhr ein erstickter Schrei. Wie Blut breitete sich der Weinfleck aus. Er harmonierte exzellent mit den Farben des Teppichs, wie Gräfin Mayer von Lührssen, eine guterhaltene Mittvierzigerin, erfreut feststellte, die sich gerade ihre Zeit damit vertrieb, Zigarettenasche von ihrem Kleid zu klopfen, welche ihr, bedingt durch ein Zucken ihrer zigarettenhaltenden Hand, aufs selbige gefallen war. Graf Mayer von Lührssen dagegen focht einen aussichtslosen Kampf mit seinem Gleichgewicht aus. Die Menge Port, die er getrunken hatte, würde den größten Trinker östlich Husums mit Alkoholvergiftung unter einem Sauerstoffzelt dahinkomatisieren lassen.

Bei dem missglückten Versuch, einen aus der Nase geholten Popel in den Kamin zu schnippen, brach sich eine Person den Zeigefinger. Eine andere stieß sich den Kopf am Bücherregal. Nordfriesische Eiche, über Jahre in der Bibliothek geräuchert, ist härter als Eiderstädter Knochen, war das Fazit, das der Unglückliche zog.

Zwei zeigten keinerlei Reaktion. Bei der ersten Person handelte es sich um Kommissar Wendt, Leiter der Husumer Mordkommission. Die zweite war Gräfin zu Schwabstedt und Ostenfeld, eine Großtante von Gräfin Mayer von Lührssen väterlicherseits. Während der Kommissar in Gedanken versunken dasaß, war die Lady einfach nur schwerhörig.

Der vierte Schlag klang den Anwesenden noch in den Ohren, als der Kommissar sich geräuschvoll räusperte. Bedächtig legte er seine Pfeife, ein Erbstück seines Urgroßvaters, der viele Jahre in den deutschen Kolonien gelebt hatte, in den Pfeifenständer.

Kurz sah er zum Kamin, als der Graf wie ein gefällter Urwaldriese zu Boden ging. Alle anderen bemerkten nichts davon, denn jeder sah nun den Polizisten an. Wie Kaninchen, die den tödlichen Biss der Kobra erwarteten. Jeder wusste, dass dieser Kripobeamte mit seinen unorthodoxen Aufklärungsmethoden den oder die Schuldige finden, ihn festnageln, ihn unerbittlich ans Licht der Wahrheit zerren würde! Dieser gefürchtete, von seinen Vorgesetzten hochgeschätzte Kommissar wird wegen seiner Erscheinung verkannt. Hinter der Fassade des trotteligen, dicken, unvorteilhaft, um nicht zu sagen nachlässig (Neider behaupten schmuddelig) gekleideten Mannes, verbarg sich ein Verstand, der Zusammenhänge in Bruchteilen von Sekunden zu erkennen in der Lage war.

Willy Wendt stand auf, legte seinen abgegriffenen, beigefarbenen Trenchcoat über eine Stuhllehne. Er schlenderte in die Mitte des Raumes. Sah jeden der Reihe nach an und sagte, während er mit einer Hand über seine Haare strich: »Tja, ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Ich bin davon überzeugt, dass der Täter sich hier in diesem Raum befindet. Ich verspreche, Ihnen nur einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit zu stehlen. Ich werde die unwiderlegbare Wahrheit ans Licht zerren und den Mörder in Handschellen abführen lassen.«

Theatralisch rieb er sich mit Zeigefinger und Daumen die Augen. Eine überflüssige Geste, denn, was niemand wusste, war, dass er ein Glasauge hatte. Diesen Umstand verstand er geschickt zu verbergen, indem er seine Gesprächspartner immer direkt, niemals aus den Augenwinkeln heraus ansah. Bei vielen rief dies erstaunliche Reaktionen hervor, die er dann für seine Ermittlungen ausnutzte.

Er stand, wie bereits erwähnt, in der Mitte der Bibliothek und rieb sich die Augen. Als er damit fertig war, hob er einen Arm und zeigte auf die erste Person, die rechts von ihm saß.

»Eene – meene – hicken – packen – eene - Fru de - kunn nich – kacken – eene – meene – mu – und – weg – bist - du.«

Bei der letzten Silbe blieb sein Finger bei der Gräfin zu Schwabstedt und Ostenfeld stehen. Die Stille, die dann folgte, war so vollkommen, dass man nicht nur eine Stecknadel hätte fallen hören können, sondern jedes einzelne Staubkorn wie einen Felsbrocken zur Erde poltern.

»SIE!«, donnerte der Kommissar. »Wer hätte das gedacht!« Er schien kurz zu zögern, fuhr aber fort: »SIE haben den Gärtner ermordet! Sie sind am zweiundzwanzigsten des letzten Monats um Mitternacht bei strömendem Regen zum Treibhaus geschlichen, haben sich Zutritt mithilfe eines Dietrichs verschafft, den folgenden Morgen abgewartet, um dem Gärtner aufzulauern. Als der um fünf in der Frühe kam, schlichen Sie sich von hinten an, erschlugen ihn mit dem schweren Vorschlaghammer, schleiften seine Leiche zum nahegelegenen See, der zehn Kilometer entfernt liegt, schleuderten sie hinaus auf das Wasser, liefen zurück und waren vor dem Frühstück wieder in ihrem Bett!«

In diesem Moment sprangen alle auf, riefen durcheinander und fielen sich freudig um den Hals. Der Graf, der vor dem Kamin lag, hob einen Arm und orderte eine Runde. Jemand öffnete mit einem Plopp eine Flasche Champagner, und einige stimmten das Lied ›Herrn Pastor sin Kau‹ an.

In dem Trubel stand der Kommissar mit erhobenem Arm vor der feigen Mörderin. »Wachtmeister!«, rief er zur Tür. Herein kam ein Zwei-Meter-Muskelpaket in Polizeiuniform. »Festnehmen!«, rief Kollerup und nickte auffordernd zum Ohrensessel. Der Beamte war mit zwei Schritten bei der alten Dame, eskortiert von den anderen, die alle durcheinander grölten: »Sie war's, sie war's!« Und dabei mit verzerrten Gesichtern auf Gräfin zu Schwabstedt und Ostenfeld deuteten. Bei der Dame angekommen, sagte der Polizist mit erhobener Stimme: »Madame, leisten Sie keine Gegenwehr! Sonst muss ich von meinem Schlagstock Gebrauch machen! Widerstand ist zwecklos!« Die Gräfin sah sich verwirrt um, hielt ihre Hand wie einen Trichter vor das Ohr und rief: »Hä? Was ist los?« Damit kam sie an den Richtigen! Wachtmeister Ollerup, ausgebildet in allen Kampfsportarten, durchschaute die durchtriebene Alte! Er riss sie hoch, warf sie zu Boden, drehte ihr beide Hände auf den Rücken und legte die Handschellen so schnell an, dass selbst ein Meister im Kälberfangen beim Rodeo vor Neid erblassen würde. Die Anwesenden wussten diese Leistung zu würdigen und applaudierten, während Ollerup die Mörderin hochwarf und zur Tür stieß. Einer der Umstehenden versuchte mutig, der in Handschellen Gefesselten zum Abschied in den Allerwertesten zu treten. Es blieb bei dem Versuch. Der Held rutschte auf dem Weinfleck aus, fiel auf den Rücken und blieb dort liegen. Wie sich herausstellen sollte, war es Graf Mayer von Lührssen.

Die anderen trampelten über ihn hinweg, um ihren Helden zur Tür zu begleiten. »Auf Wiedersehen - auf Wiedersehen!«, riefen sie johlend, als beide hinausgingen und mit ihren Sektgläsern zum Abschied winkten.

Der Kommissar stand mit erhobenem Arm in der Mitte der Bibliothek. Langsam senkte er diesen, räusperte sich, ging zu seinem Stuhl, nahm seinen Mantel, steckte seine Pfeife in die Jackentasche, zögerte einen Moment, nahm Sie wieder heraus, klopfte die Glut in den Aschenbecher und steckte sie wieder ein. Er drehte sich noch einmal um, musterte die im Raum stehenden Personen und ging mit einem gemurmelten »Moin zusammen«, hinaus, wobei er salutierend seinen rechten Zeigefinger an die Stirn tippte.

Verlegen sahen sich fünf Augenpaare an. »Hächem!«, meldete sich jemand zu Wort. »Hat einer von Ihnen vielleicht das letzte Boßelergebnis? Habe 20 Euro auf Witzwort gesetzt. Wäre jammerschade, hätte ich verloren.«

»In der Husumer - oder war es die Palette? - las ich, Kotzenbüll hätte gewonnen«, erwiderte Fräulein Mommsen. »So? Ja? Nun – äh, außerordentlich erfreulich, in der Tat!«, kam die Antwort. Es entspann sich daraufhin ein angeregtes Geplauder über Boßeln, Boßelmode, Strickmuster und wer denn nun in der laufenden Ringreitersaison die größten Chancen hätte. So gingen sie dann lachend und fröhlich plappernd hinaus.

In der großen dunklen Bibliothek, in der das Licht nur mühsam durch die raumhohen, antiken Bleiglasfenster Einlass fand, konnte man eine Stecknadel fallen hören. Die Stille wurde von dem Ticken einer Standuhr zerhämmert, die so groß und alt war, dass sie ohne weiteres, auf dem Husumer Marktplatz aufgestellt, Hunderte von Besuchern angelockt hätte. Das trübe Tageslicht fand nur mit Mühe seinen Weg durch die dichten Rauchschwaden hin zum indischen, handgeknüpften Teppich und zeichnete dort bizarre Muster. Die Luft in dem Raum war so dicht und rauchgeschwängert, dass dagegen jede Fischräucherei an der Kleikuhle Chancen hätte, eine Genehmigung als Naherholungszentrum für Lungenkranke zu bekommen.

Im Raum anwesend war eine Person, die schnarchend in einer Weinlache auf dem Teppich lag.
 



 
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