Wie "Queen" mir den Arsch rettete

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rainer Genuss

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„Du gehst morgen früh die Poldrack Zwillinge waschen“. Mit diesen Worten teilte dir die diensthabende Nachtschwester im Heim für Schwerbehinderte mit, dass sie dich gerade auserkoren hat, die grausamste und gefürchtetste Mission im gesamten Pflegeuniversums zu erledigen.

Sofort stieg dir, bei diesen Worten der Geruch von menschlichen Exkrementen in die Nase, die Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf und ein flaues Gefühl in der Magengrube setzte ein. Jeden von uns Zivis packte bei diesen Worten das planke Grauen. Der Körper spritzte Unmengen an Adrenalin in die Blutbahn, die Gedanken kreisten wie hochgeladene Teilchen um die Atomkerne mit Namen Flucht und Entkommen.

Was war der Grund für unsere Panik.?

Die Poldrack Zwillinge waren zwei pubertierende Jungs, die, statt morgens um fünf geweckt, gewaschen und bekleidet zu werden, gerne bis in den Vormittag geschlafen hätten. Weil diesem Wunsch im Pflegeheim werktags nicht entsprochen wurde, hatten sie ein ganzes Arsenal an Abwehrmaßnahmen entwickelt, um die nächtlichen Störer zu bekriegen und Eindringlingen den Zutritt in ihr Zimmer zu erschweren.

Da half kein, noch so freundlich gesäuseltes „Guten Morgen“, schon flogen dir aus beiden Betten und von allen Seiten, in der Nacht sorgsam vorgeknetete Exkremente oder schneeballartige, Sperma und urintriefende Windelfetzen um die Ohren. Dann hieß es, Deckung suchen und das Bombardement möglichst hinter der Zimmertür überstehen, bis die Vorräte an menschlichen Ausscheidungen und harmloseren Zivilisationsgegenständen wie Plastikbecher, Teller, Büchern und Nachttischlampen ihre Flugbahn beendet hatten.

Als Pazifist und Freund körperlicher Unversehrtheit grübelte ich während der gesamten Nachtwache, wie einer Gelbsucht und dem nächtlichen Fäkalmassaker zu entkommen sei. Auf Beistand vom Himmel, Engeln oder Menschen konnte ich nicht hoffen und der Einsatz von Gewalt und Drogen war für mich tabu.

Vielleicht war es doch eine himmlische Eingebung, die mir in Erinnerung rief, dass die Jungs äußerst musikalisch waren und gerne die aktuellen Radiohits im Gemeinschaftsraum mitsangen. Also rannte ich im Morgengrauen wild entschlossen zum Auto, schnappte mir die Kassette mit den Greatest Hits von Queen und rückte dann mit Ghettoblaster, Waschschüsseln und frischen Windeln bewaffnet zum Widerstandsnest der Poldracks vor.

Leise, die Playtaste im Flur gedrückt startete ich mit „All we hear is Radio ga ga…“, öffnete langsam die Tür und lugte vorsichtig in die Stube. Die Musik läuft und es bleibt still im Zimmer, kein Angriff, im Gegenteil, es geschah dann wunderbares als das Licht anging. Beide richteten sich begeistert im Bett auf und sangen lauthals, mit in die Höhe gestreckten Armen „I`d sit alone and watch your light – my only friend….“ Es wurde ein verdammt guter, friedlicher Morgen.

Die Musik und Queen haben meinen Arsch gerettet und klar, Musik kann heilen.

Thank you Freddy and rest in peace
 
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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Rainer Genuss,

das ist mir ein bisschen arg kurz und erzählt zu wenig, deshalb verschiebe ich den Text in die Kurzprosa.

Gruß DS
 

lietzensee

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Hallo Rainer,
die Erzählung gefällt mir. Sie gibt das Lebensgefühl eines Zivis treffend wieder.

Trotz der krassen Umstände finde ich aber, dass du es deinem Prot zu leicht machst mit:
Vielleicht war es doch eine himmlische Eingebung, die mir in Erinnerung rief, dass die Jungs äußerst musikalisch waren

Kaum hast du das Problem farbig umschrieben, fällt ihm die Lösung auch schon in den Schoß.

Auch wenn es eine Lehrbuchweisheit ist, aber du könntest für dein Payoff vorher auch ein Setup einbauen. Einfach bei der Problembeschreibung schon erwähnen, dass die Zwillinge Musik mögen.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo rainer Genuss,

ich habe die Geschichte schon gestern gelesen und sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Klar, man könnte es stilistisch besser schreiben,
z. B. hier:

Mit diesen Worten teilte uns die diensthabende Nachtschwester im Heim für Schwerbehinderte mit, dass sie dich gerade auserkoren hat, die grausamste und gefürchtetste Mission im gesamten Pflegeuniversums zu erledigen.
besteht kein Grund, vom „uns" zum „du" zu wechseln, aber das ist ein Text, erzählt aus der Sicht des Zivis, der gerade wegen seiner Beiläufigkeit unter die Haut geht. Mich hat er sehr, sehr nachdenklich gemacht.
Inzwischen sind die Zwillinge viel, viel älter, aber an ihrem Leben wird sich, außer dass sie natürlich nicht mehr pubertieren, nicht viel verändert haben. So etwas wird einem außerhalb eines Pflegeheimes nicht bewusst.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
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rainer Genuss

Mitglied
Hallo Silberne Delfine
Du hast es richtig erkannt, alles ist so geschehen. Ich habe auch nicht übertrieben. Den Anstoß, diese Geschichte aufzuschreiben bekam ich übrigens hier in der LL. Vielleicht kannst du dich an die Geschichte erinnern, in der ein Reporter einen Behinderten zu Hause besuchte, der Flugzeuge als Objekte seiner sexuellen Begierde auserkoren hatte. Am Ende konnte er aufgrund der krassen Begegnung das Erlebte nicht aufschreiben. Klasse Geschichte.
Ich hab damals noch Schlimmeres erlebt, verübt, von der Generation, die noch gerne körperlich gezüchtigt hat. Vielleicht sollte ich es jetzt, mit 30 Jahren Abstand öffentlich machen. Einer meiner Zivigruppe hat damals wirklich (Hepatitis) die Gelbsucht bekommen. Für mich war es die härteste und beste Zeit meines Lebens.
Ich bin überzeugt, dass unsere Generation humaner mit Behinderten umgeht, dass es den Poldracks heute besser geht.

Vielen Dank für das Mitreisen und Miterleben und den guten Hinweis. (hab es gleich geändert)

Auch dir, Litzensee danke ich: muss darüber nachdenken - ich versuche mich zu erinnern, will aber bei den Tatsachen bleiben.
LG rainer
 
Zuletzt bearbeitet:
Vielleicht kannst du dich an die Geschichte erinnern, in der ein Reporter einen Behinderten zu Hause besuchte, der Flugzeuge als Objekte seiner sexuellen Begierde auserkoren hatte
Hallo rainer Genuss,

ja, ich kann mich erinnern und ich hatte mich auch erinnert, dass du in einem Kommentar unter der Geschichte erwähnt hast, dass du als Zivi gearbeitet hast. Von daher war die Erkenntnis nicht schwer, dass es sich um eine autobiographische Geschichte handelt :)

Für mich war es die härteste und beste Zeit meines Lebens.
Ich bin überzeugt, dass unsere Generation humaner mit Behinderten umgeht, dass es den Poldracks heute besser geht.
Ich glaube sehr gerne, dass das eine sehr harte Zeit war. Ich könnte in einem solchen Pflegeheim nicht arbeiten, ich habe mal in einem Altenheim ein Praktikum gemacht und das kaum ausgehalten.
Ja, ich denke auch, dass unsere Gesellschaft heute humaner mit Behinderten umgeht als früher.
Danke für den interessanten Einblick.

LG SilberneDelfine
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Alle Achtung @rainer Genuss. Da hast Du ja als Zivi bereits die "volle Packung" abgekriegt - im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Schande, dass man Dir so eine Aufgabe ohne Hilfestellung zugemutet hat, schließlich warst Du kein Pflege-Praktikant. Auch in Großkliniken kleben die Praktikanten ihren Anleitern an den Hacken, vor lauter Angst, allein mit Patienten zu sein ... und heute macht es der Pflegenotstand wieder möglich, Hilfskräfte wie Fachkräfte einzusetzen, das macht mich wirklich wütend.
Deine Lösung aus der Not mit Musik gefällt mir - auch wenn ich in der Ergotherapie öfters erlebt habe, dass das total in die Hose gehen kann: Eine meiner Praktikantinnen hat zu ihrer Prüfung Meditationsmusik im Hintergrund plätschern lassen - was ihrem Patienten mit drogeninduzierter Psychose so gar nicht gefiel, der hat die ganze Zeit nur geraunt: "Ich hau dir eins inne Fresse!"
 

rainer Genuss

Mitglied
Herausgefordert aber nie resignierend, auf der Suche nach?
was? Frieden? Vertrautheit? Verständnis? Sinn? eher Werdegang
dir einen
Schulterklopfer
ra
 



 
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