Wie verrückt ist das denn?

wondering

Mitglied
Ich muss vorweg schicken, dass ich ein "Energie-Junkie" bin. Das heißt, ich glaube daran, dass die Energie die man losschickt auch auf einen zurückfällt. Schicke ich gute Absichten und gute Gedanken (alles Energien) los, dann findet diese Energie einen gleichen Pol und wirft ihn zurück... negativ geladen läuft das ebenso, bloß eben negativ. Ok, ich könnte jetzt tausend Beispiele bringen, aber ich glaube, es ist klar, was ich meine.

Jetzt frage ich mich, auf Grund eines ganz konkreten Beispiels, das ich gleich beschreibe, in Form von ein, zwei Fragen:
Warum ist es für manche(?) Menschen so schwer zu verstehen, dass es den gleichen Energieaufwand bedeutet, freundlich und zugewandt zu sein, anstatt unfreundlich und abweisend? Warum kapieren solche Leute nicht, dass sie mit WENIGER Energieaufwand leichter ihr Ziel erreichen, indem sie freundlich und zugewandt sind, anstatt reichlich Energie und Nerven zu vergeuden und das Ziel quälend erreichen?
Es gibt bestimmt viele zwischenmenschliche Situationen, bei denen man sich genau diese Fragen stellen kann. Ich beziehe mich aber auf eine spezielle, wiederkehrende Situation, und zwar die Pflegesituation in der Psychiatrie.

Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Pflege- und Versorgungssituation im Gesundheitswesen allgemein derzeit unendlich schwierig ist und sowohl zu Lasten der Kranken als auch zu Lasten der Pflegekräfte geht.
Ich möchte konkreter werden:
Wir befinden uns auf einer geschlossenen, gerontopsychiatrischen Station eines großen Krankenhauses, dass sich auf die Versorgung psychisch kranker Menschen spezialisiert hat.
"Oha, der ist im LKH gelandet, der hat ne Klatsche." - so das Stigma.
Ob das Leiden organischer, psychosozialer, genetischer oder sonstiger Ätiologie ist, vermag der vorgenannte Volksmund nicht zu unterschieden - ist auch nicht wichtig für das, was mir auf der Seele brennt. (Wenn es auch für das Hinsehen und Mitbeurteilen der Gesamtsituation für den Volksmund jederzeit von Interesse sein sollte, schließlich kann jeder von uns heute oder vielleicht morgen "im LKH landen")

Zurück zum Punkt, zum konkreten Fall:
Man stelle sich vor, dass ein Mensch an einer Manie erkrankt ist und dies schon vor vielen Jahren, immer wieder rezidivierend, also wiederkehrend. Der Mensch in seiner konkreten Situation fühlt sich toll, verbessert zuerst die Psychiatrie, dann das Land und schließlich die ganze Welt - und das von 5h in der Früh bis ungefähr 2h in der Früh. Es besteht kein Grund für diesen Menschen, an seiner Größe, Tatkraft und Genialität zu zweifeln. Zwischen 2h und 5h erwacht dieser Mensch mehrfach aus seinem kurzen Schlaf und verlangt nach dem Pfleger.
"Dazu ist der ja da und ich kann nicht allein aufstehen, weil mir von den Medikamenten so schwindelig ist!"
Klingt logisch.

Der Pfleger aber ist gerade dabei, einen anderen Patienten wieder anzukleiden, der beschlossen hat, um Mitternacht einen Nackttanz im Aufenthaltsraum der Abteilung aufzuführen. Und außerdem muss Frau XYZ zur Toilette und Herr ABC hat Hunger.

Reninent, wie es sich für eine ordentliche (übrinx nicht selbst verschuldete) Manie gehört, besteht unser Mensch auf die Aufmerksamkeit des Pflegers und ruft, nein schreit inzwischen nach ihm. Nach einiger Zeit ermöglicht ihm die Reihenfolge der Dringlichkeit (das ist Erfahrung), nach unserem Mensch zu sehen und er wird empfangen mit einem Schwall an Vorwürfen und Verbesserungsvorschlägen zu eigentlich nachtschlafender Zeit. Der Mensch muss mal Pipi! Aber halt nicht einfach nur Pipi, sondern muss mal manisch Pipi - das heißt... jetzt reichts (dem Pfleger).

Der Leser, sofern er dem Volksmund angehört, mag langsam unruhig werden. (Wer hält denn sowas aus?)
Die Fachkraft, falls Leser, spürt an Leib und Seele, wovon ich schreibe und
der Betroffene, falls zwischen den Episoden gerade auch mal Leser, wird hoffentlich jetzt nicht "getriggert".

Zurück zum Pfleger vs Kranker (ich nenne es auch gerne Gekränkter):
Pfleger: Sie gehen sofort wieder in ihr Bett!
Gekränkter: und wenn ich das nicht tue?
Pfleger: Sie sind hier nicht die/der Einzige auf Station! Ab ins BEtt
Gekränkter: Ich bin aber nicht müde!
Pfleger: Leg dich jetzt hin!
(aus Zimmer 13 schellt es)
...Oder muss ich Gewalt anwenden?
Gekränkter: Sie dürfen mich nicht wieder fixieren! (und legt sich hin)


Am Morgen treffen unser Mensch, der mit der Manie und alle anderen Menschen, die mit der Demenz, der Depression, der anderen Demenz, der Schizophrenie und die Pfleger, die anderen, im Aufenthaltsraum zum Frühstück wieder zusammen. Der eine Patient beginnt wieder sich auszuziehen, unser Mensch mit der Manie dreht das Radio auf "volle Pulle", der Mensch mit der Depression hat Angst (er kennt die Situation, dass es gleich Ärger gibt) und beginnt zu wandern...
die beiden (!) Pfleger (für 25 Patienten) füttern, fangen ein, tragen auf, wischen ab, ziehen an, beruhigen, schalten das Radio leiser, schenken Kaffee nach mit ihren 200 Armen und bleiben (scheinbar) cool.
...bis sie wieder die Gewalt androhen müssen, damit unser Mensch, der mit der Manie, auf seinem Zimmer frühstückt - freiwillig... ganz freiwillig.

Bald kommt ja die Betreuung (die privat finanzierte - z.B. ich) und nimmt uns ein bißchen, zumindest was DEN Menschen angeht, für zwei Stunden den Druck raus.

Ich nehme den Menschen bei der Hand und nenne ihn beim Namen. Ich schenke ihm mein Guten-Morgen-Lächeln und der Mensch geht mit mir mit auf sein Zimmer. Er weiß, ich habe Zeit mir alle seine Ideen, die Welt zu verbessern, seine neue Partei zu gründen und den Speiseplan der Psychiatrie zu verändern, anzuhören.
Nach zwei Stunden entlässt mich der Pfleger (mit bösem Blick) aus der geschlossenen Abteilung.

Komisch - er guckte schon so, als ich kam.

(aus meiner Sammlung an Gedanken zu Erfahrungen innerhalb der Ausbildung zur Psychotherapeutin)
 
Jaaaa, ein feines live-Beispiel

aus der Großkliniken-Psychiatrie, wie ich sie bald 25 Jahre lang kannte. Bravo! Gut getroffen.

An der Peripherie ist das Bild ein wenig unscharf, denn

(1) gute Pfleger bringen ihrer Tätigkeit durchaus ein wenig Liebe entgegen, schauen also nicht immer böse (höchstens mal gestresst -> Personalmangel trotz 5 Mio Arbeitslosen im Land),
(2) fixiert werden darf heute gottlob nur noch auf richterlich-genehmigte und ärztlich dann angeordnete Weisung hin,
(3) Pflegekräfte sind oft von den -gelinde gesagt- Verhaltensauffälligkeiten und Absonderlichkeiten der Behandelnden (zB Vorgesetzen, Therapeuten, etc.) sehr viel mehr gestresst, als von jenen offiziell als krankheitsbedingt-definierten der zu Behandelnden. Deutlicher oder gar volksmundlich zu werden erspare ich mir in diesem Punkt aus Rücksichtnahme (vielleicht aus falscher Solidarität?).

Richtig im Text geschildert ist, dass die deutsche Psychiatrie leider immer noch irgendwo im Spätmittelalter stattfindet, nicht nur strukturell, sondern auch in Bezug auf ihre fabulösen Behandlungsmethoden ( = Verbrechen im Sinne von Unterlassener Hilfeleistung, Körperverletzung, mediz-ärztliche Kunstfehler am Fließband).
Z.B. haben sich die vielen und eklatant wichtigen Ergebnisse moderner Hirnforschung und Neurophysiologie und die daraus abzuleitenden neuesten Behandlungsmöglichkeiten (man spricht da mittlerweile gar vom "Ende der konventionellen Psychiatrie") noch nicht bis in die "spätromantischen Gefilde" deutscher Psychiatrie herumgesprochen, sodass auch heutige deutsche Psychiatrie oft genug unterlassener Hilfeleistung usw., wenn nicht Schlimmerem gleichgesetzt werden kann.
Die verrückstesten Patienten teilen ihre rein-gefühlsmäßig gewonnenen Erfahrungen da oft mit den rationalen Einsichten moderner Hirnforschung.

Weiterhin ist Psychiatrie auch ein Politikum der ernsten Art, geht sie doch von Maßstäben der Normalität aus, die ebenfalls "nicht ganz von heute" sind. "Psychiatrie" ist daher auch eine konservativ/konventionelle gesellschaftliche Ordnungsfunktion, die mithilfe nur scheinbar-objektiver Normalitäts-Kriterien (denn inhaltlich ist das Meiste daran unwissenschaftlicher Unsinn aus vergangenen Epochen) auf den gesellschaftlich erwünschten status-quo zurecht-zwingt.

Das Modell Deiner Energie-Esoterik (positive + negative Energien und ihre Wirkungen) zum Begreifen menschlicher Interkommunikation teile ich nicht. Dies ist -selbst als Gedankenmodell- viel zu einfach gestrickt um komplexe Wirklichkeiten erfassen zu können.
Außerdem -wissenschaftlich- beruht Kommunikation (spezielle Art von Wechselwirkung) nicht auf dem Austausch von Energien (wie in der Physik zwischen Teilchen), sondern auf dem fundamentalen Prinzip der Autopoiese (denn -Kategorienfehler- es geht hier nicht um Thermodynamik, sondern um Informationstheorie).
Immerhin wirst Du allerdings in der deutschen Psychiatrie mit diesem Denken ("Energie-Junkie" usw.) wohl Scheinerfolge erzielen können und Ansehen gewinnen, denn Du bist dann dort "auf dem adäquaten Kontinent", und auch dieses letztliche Verbrechen an den Patienten ("Verbrechen", weil gegen bereits vorliegendes besseres Wissen) wird überhaupt nicht auffallen, da Du innerhalb des betreffenden Systems mit solchem (zutiefst magischem = animistischem) Erleben und daraus folgendem Denken in bester Gesellschaft bist.
Mir tun nur die Patienten dabei leid, zu denen auch Du somit -völlig unabsichtlich natürlich und in subjektiv-bester Absicht- als "Wolf im Schafspelz" kommst.
 

wondering

Mitglied
Vielen Dank, lieber Waldemar, für die ausführliche Stellungnahme. Ich habe mir solche Reaktionen zur Sache zwar gewünscht, aber nicht in dieser Ausführlichkeit erwartet, schließlich handelt es sich bei dem Text um einen Tagebucheintrag.
Deshalb sollte auch der "Energie-Anfang" um Himmels Willen kein psycholog. Kommunikationsmodell darstellen und sehe ich mich auch nicht als aus der Esoterik-Ecke kommend. Es ist wahrlich, so wie es da steht, viel zu einfach. Eigentlich sollte an dieser Stelle lediglich gelesen werden (ich hätte es natürlich auch so schreiben können), dass ein
Lächeln als interpersonelles Mittel, jemanden zu erreichen, mehr (besseres) bewirkt, als die energie- und emotionsaufwändigeren Gewaltandrohungen.

Für deine Stellungsnahme muss ich mir später unbedingt noch mehr Zeit nehmen, als ich gerade kurz vor Dienstbeginn habe.

Vorerst danke und Grüße
wondering
 
Auch noch:

Du schreibst, politisch korrekt und im fast-Tonfall einer Ministerin,
"dass die Pflege- und Versorgungssituation im Gesundheitswesen allgemein derzeit unendlich schwierig ist und sowohl zu Lasten der Kranken als auch zu Lasten der Pflegekräfte geht".
Elegante Formulierung und fein verbrämend.

Auf gut Deutsch:
Diese Situation ist verbrecherisch, es handelt sich dabei um eine perfide Form von sanfter Euthanasie, denn man nimmt billigend in Kauf, dass unter solchen Bedingungen Leute/Patienten halt früher sterben (das vermeidbare Leiden vorher gar nicht mal erwähnt).
Während für Panzer, Tornados und jeden anderen Tineff stets Geld in beliebigen Mengen vorhanden ist (siehe Bundeswehreinsätze rund um den Globus), gibts für die Pflege, für Alte, Kranke, Schwache = Randgruppen seit Jahren und Aberjahren schlicht immer weniger.
 

wondering

Mitglied
Lieber Waldemar,

ich gehe jetzt mal weg vom Tagebucheintrag mit für mich kathartischem Effekt nach vier Tagen Groß-Klinik als Berufsanfängerin.
Im Studium wird genug diskutiert um die Situation der Psychiatrie. Die Antipsychiatriebewegung war mehrfach Thema bei Hausarbeiten und Co. In vielen Lehrbüchern neuster Ausgaben kannst du lesen, wie sich die Autoren entweder im Umdenken befinden (Dörner, Plog, Teller und Wendt z.B.) oder es sich wünschen.
Im ICD 10 und DSM IV wird ein Wort gestrichen, ein anderes ersetzt oder "Krankheiten" werden nicht mehr erwähnt (siehe da, Homosexualität ist keine Krankheit mehr... wo es doch nie eine war).
Es gibt soundso viele, wissenschaftlich anerkannte Persönlichkeitstheorien und Theorien zur Ätiologie von Störungen, sowie soundso viele Theorien zur Wirksamkeit der soundso vielen Verfahren, eine Störung oder "Kränkung" zu lindern. Alles nebeneinander wohlbemerkt.
Diese Theorien, die auf den Menschen im gekränkten Fall niederbrasseln, stammen aus den unterschiedlichsten Bereichen als da wären, Psychologie, Neurologie, Innere Medizin, Endokrinologie etc pp. - und keiner schaut über seinen Tellerrand hinaus. Das ist auch so ein Punkt, mit dem deine Reihe aus Antwort 1 ergänzt werden könnte.
Und schließlich ist da der Student oder Assistent der zumindest für seine schriftlichen Prüfungen gezwungen ist, alle Theorien im Kopf zu haben und sie elegant verknüpft auszuspucken. Höchstens in der mündlichen Prüfung, gaaanz am Schluss, kann man sich vielleicht mal mutig an eine Diskussion wagen - aber dazu muss man schon wissen, ob der Prüfer so etwas verträgt. (Gehört jetzt auch in diese Auflistung).

Zu erwähnen, dass wir zu viele Krankenkassen haben, dass die Pharmaindustrie ziemlich dreist schmarotzt und unsere Steuergelder oft so unsinnig eingesetzt werden, so weit wollte ich in meinem Tagebucheintrag nicht gehen. Ich hatte mal "plaudern" wollen.
Ich könnte auch im Moment in meiner Situation nicht sagen, wie das von mir angerissene Problem in den Griff zu bekommen wäre, ohne mich hoffnungslos in einem Dschungel zu verlieren.
"Wir sind Psychiatrie-Reform" - es merkt bloß der Patient noch nicht so recht.

Du wirst wissen, dass man nach vielen Jahren Praxis und mit gewachsener Erfahrung seinen eigenen Standpunkt und Stil im Umgang mit dem gekränkten Menschen gefunden haben wird bzw. ihn stets weiterentwickelt. Aber auch das weiß ich nur theoretisch bis jetzt.
Auch du hast auf deinem Gebiet, aus welchem Fach auch immer du im Speziellen kommst, von Theorien und Modellen gespeist mal angefangen, bevor dir der erste "Missstand" vor Augen oder auf der Couch lag.
 
Ja ja, weitgehend auf einer Linie mit dem, was Du schreibst.

Aber hier ein "remark":

["Im ICD 10 und DSM IV wird ein Wort gestrichen, ein anderes ersetzt oder "Krankheiten" werden nicht mehr erwähnt (siehe da, Homosexualität ist keine Krankheit mehr... wo es doch nie eine war)."]

Natürlich war Homosexualität einmal eine richtige (gültige) Krankheit und auch ein jur.Delikt, es gibt ganze "Fach"-Bibliotheken darüber, und zwar einfach deshalb, weil sie im damaligen psycho-sozialen Frame so = als Krankheit definiert wurde. In ähnlicher Weise geht man heute zB noch mit dem Inzest um (verkappte Eugeniken zwar, aber justiziabel).

Es gibt nämlich gar keine naturwissenschaftlich-objektiven (harten) Kriterien dafür, was "krank" oder "gesund" ist, stattdessen handelt es sich dabei um quasi-beliebige Setzungen aus den verschiedensten Gründen, und viele davon werden völlig unbeabsichtigt historisch mitgeschleppt, und andere entstammen gar krassem magischem Welterleben alter Zeiten.
Schon die vermeintlich richtige Aussage "eine Krankheit A sei im Patienten B" (er habe diese) ist sowohl auf somatischer, als auch auf psychologischer/psychiatrischer Ebene schlichter Blödsinn, denn "Krankheit", das ist (in einer Wechselwirkungswelt, in der wir ja seit ca 100 Jahren nun leben -> Klassische Physik erweitert zur Quantenphysik) die emergierende Semantik, welche aus der Wechselwirkung von Lebewesen X mit Umwelt Y jeweils resultiert.
Anders ausgedrückt heißt das verblüffender Weise, man kann sich zu jeder beliebigen Krankheit A eine Umgebung B ausdenken, in der diese "Krankheit" ein völliges Gesundsein wäre und vice-versa.
Wenn aber "Kranksein" nur noch Fehlanpassung bedeutet, dann stehen Patient + Umwelt jeweils zur Disposition des Arztes ( = enorme Relevanz also zB der "Sozial-Medizin" -> Gesellschaftsmedizin -> Politikmedizin).

Im psychiatrischen Bereich, so wie er sich heute noch in BRD verwirklicht, fehlen zudem die harten Grundlagen, sind die dortigen Krankheitsdefinitionen doch weitestgehend immer noch rein phänomenologische/ beschreibende. Obwohl Hirnforschung, Neurophysiologie usw. seit Jahren Berge von neuen und sehr oft kontraintuitiven Fakten liefern (siehe "freier Wille"-Diskussion), hat die BRD-Psychiatrie dies weitgehend noch immer nicht aufgegriffen. Und weil das so ist, therapiert man hierzulande immer noch nach "Freud-Altmeyer-Schmitt-Jung-Schnibbelschnabbel) und nutzt dazu über 250 verschiedene Therapieformen, die zum Teil völlig aus der Luft gegriffen, zum Teil bereits wissenschaftlich überholt, und zum Teil sogar untereinander sich widersprechend sind. Ein therap.Chaos und Paradies für Halbgare, in dem die beruflichen Alchemisten fast nach Belieben ihre Machtspiele spielen können, untereinander, und natürlich gegenüber betroffenen Patienten.

Ein Psychiatrieprofessor (München) brachte das vor Kurzem im TV mal auf den Punkt, indem er heutige deutsche Großpsychiatrien (im engeren Sinn sprach er dabei von Forensischer Psych.) sehr zynisch aber treffend als "Lebensverrieselungs-Anlagen" brandmarkte, was ich genauso sehe.

Psychiatrische Erkrankungen spielen sich primär im Hirn und seinen somatischen Erweiterungen ab (plexuuuus etc.), und genau dies wird in heutiger BRD-Psychiatrie immer noch so gut wie nie mithilfe vorhandener moderner Methoden untersucht (ein oft gehörtes Argument = "zu teuer"). Ich habe in der Großklinik, in welcher ich beschäftigt war, mehrfach erlebt, dass organische/gewebliche/makroskopische Hirnschäden bei Patienten erst nach jahrelangen Aufenthalten und dann per Zufällen entdeckt wurden (zB im CT, PET, MRT, usw.), nachdem sie vorher über Jahre und natürlich ergebnislos "blind" auf übliche Weisen "durchtherapiert" worden waren (Medis, Gesprächsth., Bastelth., usw usw.).
Für mich ist sowas Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung, also ärztliche Kunstfehler Ersten Ranges, zumal Patienten oft dann schon per Daueraufenthalten in der Psychiatrie (chronische Deprivation) körperlich und seelisch derart ruiniert waren (statt gebessert!!!), dass ihre Chancen auf Gesundung nach solchen CT-Zufallsbefunden längst eh Richtung Null tendierten.

Wenn man zum Kardiologen geht, erwartet man, dass er das Herz/Kreislaufsystem untersuchen wird, und dies mit möglichst modernen Methoden, bei Zahnarzt, Internist, Augenarzt usw. dasselbe, nicht aber in der deutschen Psychiatrie, denn dort werden Gehirne und ihre systemischen Verbunde (morphologisch und funktional) mittels moderner (und daher objektiver) Methoden ausgerechnet so gut wie nie untersucht.
Warum auch? Wie ein Hirn ausschaut, ist ja vermeintlich bekannt seit Methusalem, als man noch glaubte, die sähen alle gleich aus. Und etwas Immerselbes zu untersuchen ist daher doch gar nicht notwendig, denn es gibt doch auch die schönen Anamnesen, und Papier und Worte sind ja sowas von geduldig. Man spricht also mit einem Patienten dessen Lebensverlauf rückwärts durch - von heute zurück bis zu seiner Geburt, oder -falls nötig- sogar bis zu seinem vorgeburtlich intra-uterinen Befinden. Und weil es auf jedem beliebigen absolvierten Lebensweg Verwerfungen gibt, Brüche, Traumatisierungen, Ungereimtheiten, durchlittene Gefahren, eingewirkte Gifte, etc., findet man bei solchen Anamnesen immer etwas, an dem sich hervorragend Ursachen jeder beliebigen späteren manifesten Erkrankung festmachen lassen, "festmachen" allerdings im Sinne eines nachträglichen (und im Prinzip beliebigen) Hineininterpretierens.
So kommt es dann, dass vermeintlich einerseits "double-bind"-Kindheiten spätere Schizophrenien auslösen, andererseits gute Mutter-Kind-Beziehungen aber dieselbe Krankheit bewirken sollen ("gut" ist natürlich interpretierbar bis zur Unkenntlichkeit), weiterhin auch Kinder von späterer Schiz. betroffen sind, die ganz ohne Mütter aufwuchsen, oder solche, die mit Mutter, Großmutter und noch Amme gemeinsam aufwuchsen, und natürlich trifft bei solchen gewieften anamnestischen Möglichkeiten (jeder Therapeut quasi ein frei-schaffender Künstler) die Schizophrenie auch Kinder, die komplett ohne Eltern aufwuchsen, und zwar Einzelkinder und Mehrfachkinder - je nach Wochentag, Mondphase und Lust und Fähigkeiten des/der anamnestisch beteiligten Therapeuten.
Was herauskommt nach derart künstlerischem Bemühen um die Aufklärung von Krankheitsursachen, das ist ein "Patient" als Kunstwerk der mit ihm befassten Therapeuten, und oft genug wundert sich der dann über die Vielzahl der bei ihm entdeckten Krankheiten und vermeintlichen Zusammenhänge dazwischen, und ist er hinreichend suggestibel, dann ist er nach einigen Wochen Daueraufenthalt und Dauersuggestion durch seine Behandler zu einem tiefgläubigen Menschen der ihm eingeredeten Krankheiten geworden.
Der Effekt: Man kommt mit nem "Schnupfen" in die Psychiatrie, und man verlässt sie nach meist erstaunlich langer Zeit (falls überhaupt dann noch) als siecher Schwerstkranker. Die erstaunliche Behauptung vieler Psych-Patienten, die Psychiatrie habe sie erst richtig kank gemacht, ist soweit hergeholt oft nicht, wie man als Unbeteiligter gerne vermuten möchte.
(Es gibt Experimente, wenn ich recht erinnere, in v.Glasersfeld beschrieben, bei denen sich gesunde Probanden in diverse Psychiatrien einweisen ließen, und alle kamen danach mit teilweise recht massiven Befunden zur Entlassung! - was soviel bedeutet wie: Die Psychiatrie ist aufgrund ihrer heutigen Strukturen und Arbeitsweisen offensichtlich nichtmal in der Lage, auch nur grob die Gesunden von Kranken zu unterscheiden - zum psychiatrisch-Kranken wird man also nicht so sehr durch tatsächliche Krankheit, sondern durch die Aufnahme-Modalitäten, durch das jeweilige setting, wie oben gesagt: "gesund" oder "krank" ist das Ergebnis der Wechselwirkung (die emergierenden Semantiken) zwischen Mensch A und Umgebung B.

["Es gibt soundso viele, wissenschaftlich anerkannte Persönlichkeitstheorien und Theorien zur Ätiologie von Störungen, sowie soundso viele Theorien zur Wirksamkeit der soundso vielen Verfahren, eine Störung oder "Kränkung" zu lindern."]

Bitte zu beachten, dass es sich dabei so gut wie immer um phänomenologisch gewonnene Hypothesen(!) handelt - und nicht um dasjenige, was man in den Naturwissenschaften und dort vorab erst genauestens strukturell und inhaltlich definiert "Theorien" nennen darf.


["Du wirst wissen, dass man nach vielen Jahren Praxis und mit gewachsener Erfahrung seinen eigenen Standpunkt und Stil im Umgang mit dem gekränkten Menschen gefunden haben wird bzw. ihn stets weiterentwickelt. Aber auch das weiß ich nur theoretisch bis jetzt."]

Das ist ganz einfach: Noch der aller-kränkeste Mensch ist zu 99,9.....% normaler Mensch und hat Anspruch auf entsprechende Behandlung und Umgangsweisen mit ihm (und insbesondere gelten für ihn die auch unter Bedingungen der Psychiatrie völlig unveräußerlichen Allgemeinen Menschenrechte! - was in realer Praxis oft genug untergeht) und nur zum vergleichsweise winzigen restlichen Teil ist er "abnorm, "deviant", "krank" usw.
Geht man solcherart mit den Klienten um, dann ist auch die Tätigkeit in der Psychiatrie eine Sache, von der man selbst und für sich selbst unendlich viel profitieren kann, und wenn man schon unter heutigen Bedingungen die vorkommenden Erkrankungen nicht komplett wegschaffen kann, so kann man nach dieser Methode, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, die weit überwiegenden gesunden Anteile jedes Patienten wirkungsvoll stärken und am Leben halten, damit ihn die Krankheit(en) nicht völlig auszehren und auffressen.
Heute übliche Psychiatrie vernichtet hingegen (eher ungewollt??) im Laufe der Zeit die gesunden Anteile (zerstört quasi das Psycho-Immunsystem ihrer Patienten, siehe zB Deprivation), womit die Krankheit(en) dann, vielleicht sogar ohne selbst aktiv zu wachsen, ein relatives Übergewicht bekommen, oder, krasser gesagt: Psychiatrie unter heutigen Bedingungen züchtet diejenigen Krankheiten eher erst hoch, die sie vorgeblich zu behandeln und zu bessern sucht (man schaue sich dazu die sog. "Chronischen" an).

Aber, nix für ungut - es geht hier ja lediglich um Deinen Tagebuch-Eintrag. ...

PS: Ich rate thematisch zu Damasio, Singer, Roth, und zu den Konstruktivisten wie v.Glasersfeld, v.Foerster, Maturana/Varela, und zur Kommunikationstheorie auf systemisch-naturwissenschaftlicher Grundlage (von mir "Semiokybernetik" genannt = Kybernetik sog. II.Ordnung und in großen Teilen deckungsgleich mit semantischer Informationstheorie), und zu den Schriften des Mathematikers Spencer-Brown.
 

pipi-barfuss

Mitglied
Hi Wondering,

Puh ich habe beim Lesen die Szenen richtig vor mir gesehen und
muss sagen es Stimmt was Du da schreibst.

Gruß Pipi ;)
 

rosste

Mitglied
hallo wondering, waldemar, pipi-barfuss,
ein paar gedanken von mir dazu:
das "verrückte" ist ein teil unserer welt, also nicht unnatürlich. es ist interessant und ein universum ohne psychiatrie gibt es eben nicht...
ja, die konkreten zustände sind oft traurig wahr...
die "gekränkten" brauchen uns - und wir brauchen sie - das sollen wir nicht vergessen.
vieles hier gesagte, hat mit uns zu tun, ist also nichts fremdes, nichts externes. manches ist reflexion...
ja, die pharmaindustrie spielt leider folgende rolle: "ferner dirigent".
in einigen konkreten fällen kann die hilfe so aussehen: vergebung, versöhnung, erlösung. diesen job muss der "patient" fast allein machen. unsere "behandlung" ist hilfe zur selbsthilfe.

lg
 

pipi-barfuss

Mitglied
Hallo Rosste,

natürlich brauchen die "gekränkten" uns wie du so schön schreibst. Ich arbeite in so einem Beruf.
Verrückt "ver - rückt" nicht mehr am Platz.
Die Menschen dort abholen wo sie stehen aber auch die eigenen "befindlichkeiten" erkennen damit sie nicht im Umgang mit einfließen.
Ja die Zustände sind teilweise traurig,Nachtdienst für ein Haus alleine,schnell mal ein paar Pillen einwerfen bei Unruhe,keine Besuche und manchmal,wie es im KH üblich ist "die Galle von Zi 5","der Demente schon wieder".

Vielleicht sind wir eines Tages an seiner Stelle und laufen mit Schlafanzugoberteil,Anzugshose und verschiedenfarbigen Socken über Station und wünschen uns doch "nur" so angenommen zu werden wie wir sind.Mit Respekt und Würde.

L.G
 
Nebenbemerkung:

Ich möchte nochmals zum Titel zurück kommen:

"Wie ver-rückt ist das denn?",

und dann einfach nur den ersten Textabschnitt zitieren:

"Ich muss vorweg schicken, dass ich ein "Energie-Junkie" bin. Das heißt, ich glaube daran, dass die Energie die man losschickt auch auf einen zurückfällt. Schicke ich gute Absichten und gute Gedanken (alles Energien) los, dann findet diese Energie einen gleichen Pol und wirft ihn zurück... negativ geladen läuft das ebenso, bloß eben negativ. Ok, ich könnte jetzt tausend Beispiele bringen, aber ich glaube, es ist klar, was ich meine."

Ist mir durchaus nicht klar, was Du hiermit meinst. Ich nenne diese Erlebens- und dann nachträglich mittels fremd-hineingepresstem Energie-Begriff scheinrationalisierte Denk-Figur Bumerang-Esoterik.

Wieso sind Absichten, Gedanken Energien?
Welche Art von Energie soll das sein?
Wie sind solche Energieströme nachweisbar = messbar?

Falls Du in obiger Erlebensfigur aber auf den Energie-Begriff verzichten willst, dann beschreibst Du lediglich einen altbekannten und meist zutreffenden intersozialen Effekt, den der Volksmund so ausdrückt:

"Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch zurück."

und um das zu beobachten muss man nicht Energiejunkie sein, sondern vielleicht Förster, Holzfäller, oder einfach nur Wanderer/ Naturtourist.
 



 
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