Wieder ein Packen Briefe

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GerRey

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Kurz nach dem Aufstehen - ich hatte mich erst um 7 Uhr morgens hingelegt - überlegte ich, die Heizung aufzudrehen. Der Raum war unangenehm kühl, sodass es mich gelüstete, unter der wärmenden Bettdecke zu bleiben. Aber es nützte ja nichts. Aufstehen musste ich ja trotzdem und die in der Nacht geschrieben Briefe zum Postkasten bringen. Ich schaltete den Heizkörper neben dem Schreibtisch ein und schlüpfte in eine feste Hausjacke. Es war der letzte Tag im Monat Mai, in dem es erst zwei Tage mit starker Sonnenwärme gegeben hatte. Waren wir nicht als Kinder schon Anfang Mai auf dem Schotterteich zum Baden und Schwimmen?

Früher wurden auch die Postkästen zweimal pro Tag geleert; da war Eile vielleicht noch gerechtfertigt? Jetzt gab es im Ort nicht einmal mehr eine Poststelle. Die lila Briefumschläge, mit den brandgerahmten Bildsymbolen, die ich selbst fertigte und die zu meinem Markenzeichen geworden waren, lagen mit Sondermarken frankiert vor mir. Jeder einzelne mehrere Seiten stark und mit Füller auf ebenfalls selbstgemachten Briefpapier geschrieben. Und alle adressiert an Frauen, die mit mir korrespondierten, um die schöne und antiquierte Tradition des Briefwesens aufrecht zu halten. Und manchmal gab es auch noch parfümierte Antworten!

Ich nahm den Stapel Briefe, steckte ihn in die geräumige Tasche der Hausjacke, schlüpfte in die Gartenschlappen und verließ das Haus. Draußen zeigte der Mai Aprilwetter; zwischen dunklen Wolkenformationen, lachten immer wieder helle Sonnenstrahlen hervor, sodass sich die Luft nicht gar so unfreundlich anfühlte.

An der Ecke der nächsten Quergasse entdeckte ich an der weißen Hausmauer eine Reihe Grashalme, die über das hohe Gras am Straßenrand vor der Mauer hinausgeschossen waren und im satten Grün einen im Luftzug sich bewegenden Kontrast zur weißen Mauser bildeten. Ich liebe solche Motive und bedauerte, keinen Fotoapparat dabei zu haben. Dann traf ich in der Gasse auf ein altes Ehepaar, dessen Grundstück an meinen Garten stößt. Sie mussten gerade nach Hause gekommen sein. Der sorgfältig gewählten Kleidung wegen vermutete ich, dass sie von einem Arztbesuch kamen.

“Sperrt die Eisbären wieder in den Keller!” rief ich ihnen in einer Anspielung auf das Wetter schon aus einiger Entfernung zu.

Sie lachten. Dann fragte mich der Mann:

“Wie geht:s?”

“Viel Arbeit”, entgegnete ich im Vorbeigehen und bog in die nächste Nebengasse ein, die zum Fußballplatz führte, an dem ich dann entlangzugehen hatte, um zum Postkasten zu kommen, der an der Hausmauer der Arztpraxis gegenüber der ehemaligen Poststelle hängt. In seinem breiten Vorgartl saß der alte Toni auf einem bodennahen Hocker, fast vom Grün der Pflanzen verdeckt. Vor mehr als zehn Jahren, als er noch in seinen Siebzigern steckte, war ihm die Frau, die ihm fünf Kinder geboren hatte, an Krebs gestorben. Um sie bis zu ihrem Tod pflegen zu können, hatte er sich dementsprechend im Krankenhaus ausbilden lassen. Dabei lernte er seine jetzige Freundin kennen ...,

“Warum versteckst du dich denn im Gras wie ein Indianer auf dem Kriegspfad”? fragte ich ihn über das Drahtgeflecht des Zauns hinweg.

Er lächelte verschmitzt.

“Wie lange hast du denn noch zu arbeiten?” fragte er dann.

“Fünf Jahre noch”, winkte ich ab. “Aber nächstes Jahr sind es nur noch vier!”
 
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