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Die Stille im Raum wurde erdrückend, zunehmend schwerer zu ertragen, nachdem der Hauptfeldwebel das Büro des Oberstleutnants betreten hatte. Der Klang seiner Schritte, das leise Knarren der Bürotür vorher, das Rascheln des Papiers, das er auf den Schreibtisch legte – all das bewirkte eine veränderte Atmosphäre. Der Stabsoffizier, der bis zu diesem Moment in Gedanken versunken war, riss sich aus diesen heraus. Ein kurzer Blick auf den Umschlag, der nun vor ihm lag: weiß, sauber, fast steril, kein sichtbarer Hinweis auf den Inhalt. Jetzt, nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben einen Arzt wegen des Verdachts auf eine tatsächlich schwerwiegende Erkrankung konsultiert hatte, verunsicherten ihn seine aktuellen retrospektiven Gedanken, die von existentieller Art waren und bis tief in die Kindheit zurückführten. Seine spätere Laufbahn als Soldat, die ihn bis ins NATO-Hauptquartier in Brüssel geführt hatte, war störungsfrei verlaufen: Eine Bilderbuchkarriere, akribisch geplant. Und hier in der Kommandozentrale der Allianz spürt man, worum es geht: Hinter den massiven Sperranlagen des Gebäudes wird ständig patrouilliert und kontrolliert, für zivile Befindlichkeiten ist hier im System der funktionalen Organisation kein Platz, der militärische Schutz des einigen Europas wird hier organisiert. Der Oberstleutnant, Mitarbeiter im Führungsstab der NATO, war mit Begeisterung Teil des Systems.
Frühere private Dissonanzen hatte er überwunden, indem er sich aus Überzeugung fürs Militär und damit gegen das Leben in einer Parallelwelt in einer zivilen Familie entschieden hatte. Auch mit seiner verborgenen Schwäche, der Neigung zur Hypochondrie, hatte er gelernt, gut umzugehen. Doch nie zuvor hatte er stärker auf die Unsinnigkeit einer seiner eingebildeten Krankheiten gehofft, als in der aktuellen Situation. Seine neurotischen Allüren konnte er bislang immer im Verborgenen halten, er hatte diesbezüglich routiniert in einer Tarnung gelebt. Das hier fühlte sich jedoch anders an und würde gravierende Auswirkungen auf sein gesamtes Dasein haben. Taktische Mätzchen, die er durch seine militärische Vorgehensweise verinnerlicht hatte, und bei Bedarf auch in anderen Lebensbereichen oft hatte anwenden können, halfen nun nicht mehr. Die letzten Worte des Arztes nach erfolgter Untersuchung hallten immer wieder in ihm nach: „Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit“. Seine komplette Existenz wurde damit in Frage gestellt.
Dann der Zeitabschnitt, der im Anschluss an die niederschmetternde Krebsdiagnose folgte – im Rang eines Oberst der Reserve war er nach Ende der langwierigen Therapiezyklen aus dem Militärdienst ausgeschieden –, wurde über einen längeren Zeitraum von Reha-Maßnahmen geprägt. Das hatte u. a. starke mentale Veränderungen zur Folge; seine allgemeine Sichtweise auf das Leben war nach der mühseligen Wiederherstellung der Gesundheit eine komplett andere geworden. Das frühere egozentrisches Verhaltensmuster hatte er inzwischen abgelegt, er hatte seine innere Orientierung neu sortiert, es waren kaum noch Spuren vorheriger narzisstischer Neigungen zu erkennen.
Früher, als Stabsoffizier, hatte er die gesamte militärische Laufbahn erfolgreich dem Ziel untergeordnet, ganz nach oben zu gelangen; allein schon seinem Habitus als Führungsoffizier hatte man dieses auf jedem Schritt der Karriereleiter angemerkt. Nun aber, beginnend in der Zeit der Rekonvaleszenz, veränderte eine grundlegende Wandlung den Kern seiner Wesensart: Er war dem Leben zugewandter geworden, strahlte Empathie aus in seinem neuen Dasein, das in einem kleinen Haus in Joli-Bois stattfand, unweit seines letzten Stationierungsstandorts im nahegelegenen Brüssel. Für die endgültige Genesung des vorher schwer erkrankten Ex-Soldaten war dieses Refugium in der geruhsamen Provinz Wallonisch-Brabant enorm wichtig gewesen. Hier überwand er den schmerzhaften Prozess der Wiederherstellung, ein Leben unter veränderten Bedingungen eröffnete ihm neue Perspektiven. Die wohltuende Beschaulichkeit des nahen Walds von Soignes mit seinem dichten Buschwerk und schattigen Bäumen hatte stark zur Wandlung des ehemaligen Führungsoffiziers beigetragen. In dieser Umgebung erlebte er eine Regeneration, die ihn neue Kraft schöpfen ließ, ihn festigte. Diese Umwandlung war neben der neuerlichen Fokussierung auf sein Familienleben stark von der intakten Natur nahe der kleinen Stadt Waterloo beeinflusst worden. Genau in dieser Gegend hatte gut zweihundert Jahre zuvor eine fürchterliche Schlacht den Beginn einer neuen europäischen Ordnung durch die Niederlage Napoleon Bonapartes eingeleitet. Die Synergien solidarischer Kräfte von bis dahin uneiniger Staaten hatten diese Umwandlung möglich werden lassen - mitten im vorher geopolitisch zerfransten Europa war dadurch etwas neues Gemeinsames entstanden. Und der ehemalige Offizier genoss täglich diese friedliche Aura um sich herum, sah die Abgeschiedenheit der Natur mit ihren still gelegenen Wiesen und Auen. Beim Anblick der majestätischen Bäume konnte er sich vorstellen, wie sie nach früheren Zerstörungen irgendwann wieder angefangen hatten zu wachsen, sich ihre Wurzeln festigten und die Zweige eine neue Krone bildeten, um sich zum Licht zu strecken.
Frühere private Dissonanzen hatte er überwunden, indem er sich aus Überzeugung fürs Militär und damit gegen das Leben in einer Parallelwelt in einer zivilen Familie entschieden hatte. Auch mit seiner verborgenen Schwäche, der Neigung zur Hypochondrie, hatte er gelernt, gut umzugehen. Doch nie zuvor hatte er stärker auf die Unsinnigkeit einer seiner eingebildeten Krankheiten gehofft, als in der aktuellen Situation. Seine neurotischen Allüren konnte er bislang immer im Verborgenen halten, er hatte diesbezüglich routiniert in einer Tarnung gelebt. Das hier fühlte sich jedoch anders an und würde gravierende Auswirkungen auf sein gesamtes Dasein haben. Taktische Mätzchen, die er durch seine militärische Vorgehensweise verinnerlicht hatte, und bei Bedarf auch in anderen Lebensbereichen oft hatte anwenden können, halfen nun nicht mehr. Die letzten Worte des Arztes nach erfolgter Untersuchung hallten immer wieder in ihm nach: „Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit“. Seine komplette Existenz wurde damit in Frage gestellt.
Dann der Zeitabschnitt, der im Anschluss an die niederschmetternde Krebsdiagnose folgte – im Rang eines Oberst der Reserve war er nach Ende der langwierigen Therapiezyklen aus dem Militärdienst ausgeschieden –, wurde über einen längeren Zeitraum von Reha-Maßnahmen geprägt. Das hatte u. a. starke mentale Veränderungen zur Folge; seine allgemeine Sichtweise auf das Leben war nach der mühseligen Wiederherstellung der Gesundheit eine komplett andere geworden. Das frühere egozentrisches Verhaltensmuster hatte er inzwischen abgelegt, er hatte seine innere Orientierung neu sortiert, es waren kaum noch Spuren vorheriger narzisstischer Neigungen zu erkennen.
Früher, als Stabsoffizier, hatte er die gesamte militärische Laufbahn erfolgreich dem Ziel untergeordnet, ganz nach oben zu gelangen; allein schon seinem Habitus als Führungsoffizier hatte man dieses auf jedem Schritt der Karriereleiter angemerkt. Nun aber, beginnend in der Zeit der Rekonvaleszenz, veränderte eine grundlegende Wandlung den Kern seiner Wesensart: Er war dem Leben zugewandter geworden, strahlte Empathie aus in seinem neuen Dasein, das in einem kleinen Haus in Joli-Bois stattfand, unweit seines letzten Stationierungsstandorts im nahegelegenen Brüssel. Für die endgültige Genesung des vorher schwer erkrankten Ex-Soldaten war dieses Refugium in der geruhsamen Provinz Wallonisch-Brabant enorm wichtig gewesen. Hier überwand er den schmerzhaften Prozess der Wiederherstellung, ein Leben unter veränderten Bedingungen eröffnete ihm neue Perspektiven. Die wohltuende Beschaulichkeit des nahen Walds von Soignes mit seinem dichten Buschwerk und schattigen Bäumen hatte stark zur Wandlung des ehemaligen Führungsoffiziers beigetragen. In dieser Umgebung erlebte er eine Regeneration, die ihn neue Kraft schöpfen ließ, ihn festigte. Diese Umwandlung war neben der neuerlichen Fokussierung auf sein Familienleben stark von der intakten Natur nahe der kleinen Stadt Waterloo beeinflusst worden. Genau in dieser Gegend hatte gut zweihundert Jahre zuvor eine fürchterliche Schlacht den Beginn einer neuen europäischen Ordnung durch die Niederlage Napoleon Bonapartes eingeleitet. Die Synergien solidarischer Kräfte von bis dahin uneiniger Staaten hatten diese Umwandlung möglich werden lassen - mitten im vorher geopolitisch zerfransten Europa war dadurch etwas neues Gemeinsames entstanden. Und der ehemalige Offizier genoss täglich diese friedliche Aura um sich herum, sah die Abgeschiedenheit der Natur mit ihren still gelegenen Wiesen und Auen. Beim Anblick der majestätischen Bäume konnte er sich vorstellen, wie sie nach früheren Zerstörungen irgendwann wieder angefangen hatten zu wachsen, sich ihre Wurzeln festigten und die Zweige eine neue Krone bildeten, um sich zum Licht zu strecken.