Wiedermal ...

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Aufschreiber

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Ich sitze auf dem Betonklotz in der Bahnhofshalle. Ringsum wuseln Menschen. Die Gitarre auf meinen Knien lockt. Ich befreie sie vorsichtig aus ihrer Hülle, stimme sie und beginne zu spielen. Von diesem Moment an erscheint es mir, als verlöre die Szenerie ein wenig von ihrer Eiligkeit. Die Kinder an den Händen ihrer Mütter flattern nicht länger im Fahrtwind hinterdrein, der Zopf des Mädchens, das mich im Vorbeigehen kurz anschaut, liegt schwer auf ihrem Rücken, statt zu wehen, wie er es eben noch getan hat.

Eine alte Dame bleibt stehen und kramt in ihrer abgetragenen Handtasche. Sie sucht nach einem Behältnis, in das sie ihre Gabe versenken kann. Als sie kein solches findet, schüttelt sie verwundert den Kopf und legt, halb verschämt lächelnd, ein Geldstück neben mich auf den Betonklotz, auf dem ich sitze. Mein "Nein, danke!" ignoriert sie. Dann geht sie, mit dem Watschelgang der Alten. Einige Meter entfernt dreht sie sich um und winkt mir zu.

Ein Mann tritt näher. Er hat einen verschlissenen Rucksack auf dem Rücken und einen großen Einkaufsbeutel voller Textilien in der Hand. "Jetzt richtig sparen!", steht, kaum noch lesbar, auf dem Plastikgeflecht. Er stinkt. Ich schaue ihm in die Augen. Er schaut auf das Geldstück, das neben mir liegt. Ich nicke.
Da tritt er noch einen Schritt vor und nimmt das Geld.
"Danke, Mann!", höre ich, als sein zotteliger Kopf neben meinem ist.
Als er geht, bleibt nur die Fahne vom billigen Fusel für einen Moment in der Luft hängen. Ich sehe, wie er sich an der Raucherinsel bückt und einen Zigarettenstummel aufhebt, den er sich in den Mund steckt. Dann bittet er einen der Raucher, die sich in dem mit gelber Farbe abgegrenzten Quadrat drängen, um Feuer.

Ich spiele weiter, versinke in der Musik. Plötzlich steht er da, seinen Hund neben sich. Seine Augen blitzen kurz auf und er nickt. Ich nicke auch. Dann packe ich die Gitarre weg und erhebe mich. Er kommt näher, während ich mir die Gitarre auf den Rücken bastele.
"Zu mir?" Ich nicke wieder. Wir laufen schweigend los. Der Hund trottet ohne Leine nebenher. "Wie heißt der?"
"Armin. - Eigentlich Arbogast, aber das war mir zu blöd."

Er bleibt vor einer Haustür stehen. "Hier." Er öffnet die Tür und wir steigen in die erste Etage hinauf, betreten die Wohnung, die nach Bier, Zigarettenqualm und Schweiß riecht. Armin springt auf die Couch, die fast das gesamte Zimmer füllt. Er nimmt seinen Rucksack ab. Flaschen klirren, als er ihn niederlegt. Ich lege die Gitarre ab. Dann umarmen wir uns. Wir setzen uns auf die Couch.
"Bier?"
Ich nicke. Er reicht mir eine der Flaschen aus dem Rucksack. Wir trinken.

"Lange her", sagt er, mit seiner rauen, tiefen Stimme.
"Viel zu lange."
Langsam kommt ein Gespräch in Gang, mit dem wir versuchen, die letzten fünf Jahre zu überbrücken. Die Vertrautheit schleicht sich in winzigen Schrittchen zurück, hinein in diese halbdunkle Bude.
Wir trinken. Der Rucksack ist leer, die Lücke in unseren Leben gefüllt.

"Ich muss los", sage ich. Er nickt. Ich stehe auf und schnappe die Gitarre. Er umarmt mich, küsst mich.
"War schön." Als ich an der Wohnungstür bin, sagt er: "Ich komm mit. Armin muss sowieso noch mal raus."
Ich warte im Hausflur. Wir steigen hinunter und verlassen das Haus. Am Ende der Straße ist eine Haltestelle der örtlichen Straßenbahn.
Ich umarme ihn und sage: "Bis dann mal."
"Ja", sagt er. "Bis dann."
Die Bahn kommt. Ich steige ein und schaue ihm nach, wie er mit Armin die Straße entlang geht, zurück zur Wohnung.

"Wo warst du denn?", fragt meine Frau, als ich die Wohnung betrete.
"Hab meinen Bruder getroffen."
"Oh, schön. Ihr habt Euch ja ewig nicht gesehen."
"Ja. Nächstes Jahr wird das besser."
"Ja. Nächstes Jahr."
Wir wissen, dass das nicht stimmt.
"Du stinkst ganz schön."
"Ja."

Ich wechsle die Klamotten. Der Mief ist weg, aber es bleibt das warme Gefühl der Umarmung meines Bruders, der ein völlig anderes Leben hat, als ich.
 

rainer Genuss

Mitglied
sehr schön gemalter musikalischer Entschleunigungsmoment. Auch Musiker erleben ihn oft.
Klasse Spannungsbogen, riecht zeitweise nach versteckter Homosexualität
Die Kurzgeschichte ist meiner Meinung nach sehr gelungen
LG Rainer
 



 
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