Willkommen in der Christlichen Mitte

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Nun lebt er wieder in Berlin. Wohnung und Umfeld scheinen gut gewählt, die Nachbarn angenehm. Man hört und sieht nicht viel von ihnen in diesem großen Haus. Ab und zu ergeben sich flüchtige Begegnungen zwischen Haus- und Wohnungstür, darunter eine etwas mehr versprechende Treppenhausbekanntschaft. Die nicht mehr ganz junge Dame plaudert gern länger mit ihm, im Eingangsbereich, auf dem Treppenabsatz, vor ihrer Wohnungstür. Sie reden über die Angelegenheiten des Hauses, über Nachbarn. Allerdings – er hat es nicht gern, wenn sie im Gespräch jene Richtung einschlägt. Ist das ihr großes Herzensanliegen: die Sorge um Überfremdung, der Widerstand gegen die Islamisierung Europas, Deutschlands, Berlins? Er hört, dass sie auf einer Demonstration von Pro Deutschland war: „ … mitten im Mohammedanerviertel – ein fürchterliches Publikum“. Sie sei insoweit auch im Internet aktiv, lässt sie wissen.

Er schweigt zu alledem – es sind nur kleine Einsprengsel in längere Unterhaltungen. Er ist nicht feige, er denkt nur, Politik und politische Differenzen halte man von Hausgemeinschaften besser fern. Er versucht, eine ausdruckslose Miene zu machen. Indessen versteht sie seine Reserve wohl falsch …

… denn sie bietet ihm nach einiger Zeit ein Buch an mit Analysen zu jenem Thema, absolut gerichtsfest, wie sie versichert. Er murmelt: Hm, ja? Und denkt: Vielleicht vergisst sie’s. Oder er wird sehen, was da kommt. Zwei Tage später hängt eine Plastiktüte an seinem Wohnungstürknauf, darin ein dickes Buch von Adelgunde Mertensacker. Den Namen hat er nie gehört. Aus dem Band fallen Broschüren zum selben Thema heraus. Beim Durchblättern des Buches zieht er ein Gesicht. Das kann lustig werden, er muss wohl darauf reagieren, irgendwann später.

Aber dann ist er doch neugierig und recherchiert sogleich im Netz. Frau Mertensacker war also Gründerin und langjährige Vorsitzende der Christlichen Mitte? Er liest auch, was er über die fundamentalistische Kleinpartei findet und kann sich bald ein Bild von ihrem Profil machen: islamfeindlich, antisemitisch, schwulenfeindlich, in jeder Beziehung erzreaktionär. Homosexualität gehört ins Strafrecht und ist außerdem behandelbar? Jetzt ist er auf hundertachtzig und schreibt der Nachbarin sofort einen kleinen Brief. Dass er keinen Bedarf an Schrifttum dieser Sorte hat, dass er die Ansichten von Frau Mertensacker in keiner Weise teilt. Und noch etwas von Religionsfreiheit und deren grundgesetzlich garantierter Ausübung. Im Übrigen sei er selbst nicht religiös und skeptisch gegenüber allen drei monotheistischen Religionen. Am anderen Morgen hängt die fatale Tüte an ihrem Türknauf.

Nachher findet er den Ablauf selbst ein wenig komisch. Als reiferer Homo kehrt er zurück nach Berlin, in die Stadt seiner frühen Selbstverwirklichung – und gerät bald einer derart rigiden Person vor die Flinte. Übrigens hätte er das Buch behalten sollen. Sie habe, stand auf beigelegtem Zettel, noch einen größeren Vorrat davon - spricht für emsige Propaganda.

Bezeichnend findet er ferner, dass sie seine persönlich motivierte Ablehnung nicht vorausgesehen hat. Sie hat ihn doch öfter in Begleitung seines Lebenspartners gesehen – sie wohnen freilich getrennt -, und ab und zu hat er im Gespräch seinen Freund erwähnt. Aber so sind sie wohl: Ihre Hassobjekte sind reine Kopfgeburten, die dazu passenden realen Subjekte werden oft nicht einmal erkannt. Oder es war in seinem speziellen Fall noch anders: Der Makel wurde in Kauf genommen, um ihn als Kampfgenossen gegen ein anderes Übel anzuwerben. Aufräumen mit Leuten wie ihm kann man später immer noch …
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Schnörkelloser Text in Deiner bekannt klaren Sprache, lieber Arno. Szenerie gut vorstellbar.
Der latente Schmerz über die "Kopfgeburten" der Nachbarin kommt gut rüber. Einziger Makel: Die Reaktion der Dame. Die hätte ich gerne noch gewusst.


LG DS
 
Danke fürs Stichwort, Doc. Ja, es kam noch ein langer Brief, den ich einfach abgeheftet habe. U.a. etwa so: Was Grundgesetz, wenn doch der Ruf des Muezzins die Nachbarschaft stört usw. Ignorieren schien mir da besser, auch im Interesse des Hausfriedens, als mich auf absehbar unfruchtbare Diskussionen einzulassen. Schließlich sind wir beide alte Leute mit vermutlich kaum noch veränderbarer politischer Grundeinstellung.

Im Übrigen war die Sache mit dem Christentum auch nur ein Fake. Die Dame ist gar nicht in der CM, sondern in einer anderen kleinen Rechtspartei, dort sogar in deutlich herausgehobener Position, wie Internetrecherche ergab. Da ist übrigens ein lustiges Kommen und Gehen, häufiger Parteiwechsel fast die Regel. Vorgestern DVU, gestern NPD und heute noch was anderes - als Etikett.

Schönen Abendgruß
Arno
 

Aligator

Mitglied
Hallo Arno!

Der Text gefällt mir sehr gut, weil er rüberbringt, dass die Propblematik zum größten Teil in den Köpfen der Menschen existiert. Das ist sehr gekonnt, wie da wenig passiert und doch so viel auslöst.
Ich dinde den Schluss so gut gewählt. Es geht ja hier um den Umgang des Protagonisten mit der Dame, dem Thema.
Traurig, dass sich das rechte Gedankengut in einem Land mit so einer Geschichte in der "Mitte" der Gesellschaft wieder etablieren konnte. Oder war es dort jemals verschwunden?

Liebe Grüße,
Aligator
 
Danke, Aligator. Ja, man kann am Beispiel von Islamophobie gut nachvollziehen, wie Aggressionsverschiebung funktioniert. Ich kann es an diesem Beispiel aber aus naheliegenden Gründen nicht näher ausführen.

Arno Abendschön
 

revilo

Mitglied
Überrascht? Wir sind zwar nicht immer einer Meinung, haben uns virtuell in die Haare bekommen. Scheiß drauf: Dieser Text ist wirklich gut und flott geschrieben.Und vor einem guten Text habe ich Respekt. Ist die Story authentisch?
Vielleicht sollten wir ein wenig das Gas wegnehmen, oder?

In diesem Sinne LG von revilo
 
Danke, revilo. Ja, ist alles authentisch, auch das Ergänzende im Eigenkommentar vom 26.8.

Vielleicht erscheint meine Verbissenheit in der laufenden Diskussion nun in anderem Licht: Ich fürchte, dass ich mir Texte wie diesen hier in Zukunft sparen kann, ebenso das darin geschilderte Auftreten. Vgl. Engels: Umschlag von Quantität in Qualität. Bei 400.000 sah ich kein Problem, bei 800.000 schon und Merkels Entscheidung halte ich für katastrophal. Soll aber bitte hier nicht weiter diskutiert werden.

Freundlichen Abendgruß
Arno Abendschön
 

revilo

Mitglied
Hallo Arno, hier geht es ausschließlich um den Text und um nichts anderes. Und der ist ziemlich gut. Wenn es die Zeit erlaubt, werde ich mich mal durch Deine Sachen lesen.

LG revilo
 

TaugeniX

Mitglied
Es ist sehr traurig, wenn der Christliche Glaube für solche Zwecke missbraucht wird.

Ich reihe mich selbst in die erzkonservative katholische Flügel ein. Aber bis zur Frage, ob die Homosexuellen oder Andersgläubigen "das Himmelreich erben", komme ich gar nicht durch: aus dem einfachen Grund, dass ich vorerst um eigene Erbansprüche besorgt bin, es steht nämlich:

"Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig."

Tja...
 



 
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