Willy, Sabine und Hugo

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lietzensee

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Willy, Sabine und Hugo

Eine groß gewachsene Brünette stieg die Treppen von den Gleisen hinab und verlangsamte ihre Schritte. Er sah sie an. Sie sah sich um. Ihre Beine schienen ganz passabel und sahen wirklich nach jemanden aus, der gerne Rad fuhr und Winterspaziergänge durch den Stadtpark machte. Er drückte den Rücken durch und reckte den Kopf, mehr konnte er nicht tun. Wahrscheinlich schaute er etwas zu lange auf sie. Die Frau erwiderte seinen Blick mit bösen Brauen und lief an ihm vorbei. Die Brünette war es also nicht. Dann hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um und für einen Moment herrschte Schweigen. "Bist du ..."
Sie nickte. "Ich bin Sabine." Diese Frau trug eine enge Hose, unter der sich dicke Hüften wölbten. Ihr Haar hatte blau gefärbte Spitzen und erst nach einer Weile erkannte er darunter das Gesicht, das sie online auf ihrem Dating-Profil zeigte. Die hatte einen geschickten Fotografen gehabt, dachte er und grinste.
"Und ich bin Willy." Darauf blickten sie sich zögernd an. Sollte er sich darauf einlassen? Während er noch überlege, sah er auf der Straße den Bus 115 vorbeifahren, sein Bus. Erst in zwanzig Minuten würde der Nächste kommen. Damit war es entschieden und er fragte: "Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?" Sie willigte ein und sprach dabei mit einem Lispeln. Hatte in Sabines Profil gestanden, dass sie nur Fair Trade Kaffee trank, oder war das eine andere gewesen? Er überlegte. Und hatte sie beim Kinderwunsch Ja oder Nein angekreuzt?
"Also kulturell bin ich sehr interessiert", in einem zugigen Café redete er dann über Bücher, die er nur selten zu Ende gelesen hatte. Sie blickte auf den Tisch und trank grünen Tee. "Und Musik ist mir besonders wichtig. Da habe ich einen hohen Anspruch." Er machte eine Pause, um nicht geschwätzig zu erscheinen.
Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und blickte ihn an. Lange dehnte sich der Moment aus, bis sie schließlich ihre Lippen leckte und mit einem Lispeln das Gespräch weiter trug: "Was hast du denn für Ansprüche?"
Er zählte seine Lieblingsbands auf und merkte, dass dieses Thema doch keine gute Wahl gewesen war. Unmöglich, seine über Jahrzehnte angesammelten Vorlieben in ein paar konsistente Sätze zu fassen. Gleichzeitig musste er ja intelligent wirken, aber nicht zu abgehoben und auf keinen Fall langweilig. "Ich mag auch Techno", sagte er schließlich. Dann waren sie schon beim Smalltalk. Das Arbeitsleben war stressig, der Urlaub überfällig und das Wetter heute ziemlich schlecht. So schleppte sich das Gespräch. Sie trank Tee und er zerdrückte ein Stück Kirschkuchen mit der Gabel. Unauffällig blickte er auf die Uhr. Zumindest war es nicht mehr lange, bis der 115 wieder fuhr und die Haltestelle war direkt vor dem Café. Er redete. Sie nickte nur. Diese Frau gab sich wirklich keine Mühe. Wenn sie etwas von sich verriet, dann waren es Allerweltshobbys, wie Backen oder Aquaristik. Sie hatte tatsächlich ein Aquarium. Eigentlich hätte sie Bin langweilig in ihr Profil schreiben müssen, er lachte. Leider erzählte sie da gerade etwas über einen toten Fisch. Ihr Blick wurde böse. Er war frustriert.
"Wie alt ist eigentlich das Foto in deinem Profil?", fragte er schließlich. Sonst waren ja keine Themen mehr übrig.
"Warum?"
"Nur so." Er wich aus, denn sie musste doch wissen, dass sie ihren Fotos nicht ähnlich sah. Unter dem Tisch konnte er ihren dicken Schenkel sehen. Außerdem hatte sie sich in ihrem Profil als humorvoll beschrieben. Das war ein schlechter Witz.
Ihr Lispeln bekam etwas Schneidendes: "In deinem Profil stand nicht, dass du so klein bist."
"Ich ... ", diese Direktheit brachte ihn aus dem Konzept. Natürlich hatte er seine Größe nicht angegeben. Wenn er die angegeben hätte, dann hätten sie einem Treffen gar nicht erst zugestimmt. "Ich ... ", enttäuscht wich er ihrem Blick aus und schaute aus dem Fenster. Dort auf der Straße fuhr der Bus 115 vorbei. Was für ein Reinfall!
Eine Weile sahen sie beide vor sich hin. "Online-Dating ist irgendwie scheiße", sagte Sabine. Dann schwiegen sie wieder. Er kratzte sich am Ohr und vor dem Fenster rauschte der Verkehr. Irgendwann, als sie den letzten Tropfen Tee mit dem Finger aus ihrer Tasse gewischt hatte, fragte sie. "Und du hast keine Fische?"
"Nein."
"Magst du Aquarien überhaupt nicht?"
"Guppys hatte ich mal als Kind. Aber die waren langweilig."
Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass Guppys natürlich nur etwas für Anfänger waren, um erste Erfahrungen mit dem Becken zu sammeln. Dann zählte sie die Fischarten auf, die sich für Fortgeschrittene eigneten und verglich Süß- mit Salzwasseraquarien. Elefantenfische, erklärte sie irgendwann, seien erstaunlich intelligent und erkannten Menschen sogar wieder. "Mein Hugo zum Beispiel, hat meine Schwester ignoriert, aber zu mir ist er immer gekommen, wenn ich an die Scheibe geklopft habe. Dann hat er vor Freude mit der Schwanzflosse gewackelt. Ein Stöckchen hat er immer zurückgebracht - selbst wenn er dafür aus dem Becken hüpfen musste."
"Wirklich?" Er stutzte.
Da begann sie zu lachen und er lachte mit ihr. Sie lachten so laut und lange, dass die Leute im Lokal sich nach ihnen umdrehten.
"Witzig", sagte er und blickte auf die Uhr. "Willst du noch einen Tee?" Er stellte sich an der Theke an und brachte schließlich zwei volle Tassen zurück. Vor dem Fenster fuhr der Bus 115 vorbei. Sabine lächelte.
 
Zuletzt bearbeitet:

ThomasQu

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… und plötzlich war das Eis gebrochen.

Sehr schöner Text und ein unerwartetes und ungezwungenes Happy End.

… ein Stück Kirschkuchen mit der Kabel … (kleiner Tippfehler)

Eigentlich hätte sie Bin langweilig in ihr Profil schreiben müssen ...


Das “Bin langweilig“ in Anführungszeichen?

Schöne Grüße,

Thomas
 

lietzensee

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Hallo Lexor und Thomas, vielen Dank für eure Bewertungen!

Kabel vs Gabel ist natürlich ein Klops. Ich hab den Text so oft gelesen und das ist mir trotz dem nicht aufgefallen. Vielen Dank für den Hinweis!

Stimmt, das "Bin langweilig" sollte noch markiert werden. Ich werd es auf kursiv setzen.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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