Windstill

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golovin

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Bent umfasst den Messingknauf und zieht die Schublade auf. Eine Schachtel befindet sich darin. Er nimmt sie heraus, hebt den Deckel ab und betrachtet den Inhalt. Ein Büschel walnussbrauner Haare. Manchmal drängt ihn das Datum, das zu tun, etwa heute, am einundzwanzigsten August, manchmal die Melancholie. Er fächert die Haare für eine bessere Übersicht auf. Er konzentriert sich auf einzelne Stränge, fährt von der Wurzel bis zur Spitze, vergisst keine Kurve. Mittlerweile trägt Bent einen raspelkurzen Schnitt. Als er sein neues Leben einläutete, dachte er sich, es könne nicht schaden, eine Erinnerung an diese Zeit zu bewahren – denn die Sonne schien saftig, und der Wind blies satt.

Bent bewohnt ein Backsteinhäuschen in Warnemünde, am Ende einer Siedlung, eingerahmt von einem freien Bauplatz und einer Kleingartenanlage. Eigentlich wollte er auswandern; Barcelona oder Nizza reizten ihn, warm, urban, am Meer, doch das hat er verworfen. Es ist nicht weit zur Promenade von hier, oder zum Dock-Inn, einem stylishen Hotelkomplex aus alten Schiffscontainern, in dem viele Surfer absteigen. Die riesigen Scandline-Fähren, die aus dem dänischen Gedser kommend in die Warnow stoßen, scheuchen das Wasser brauchbar auf. Am Strand spähen die Windjünger wie die Erdmännchen, wenn eine Fähre hinter der Mole verschwindet. Hier lernte auch Bent das Surfen; so gut, dass man ihm bei einigen Amateur-Cups den Siegerkranz umhing.

Die meiste Zeit verbringt Bent in seiner Garage; zwischen Kartons, aus denen Pinsel, Spachtel und andere Malutensilien, aber auch zusammengeknüllte Neoprenanzüge ragen. Mittig residiert ein klobiger, runder Holztisch, auf den eine spinnenartig aufgeklappte Bürolampe leuchtet. Bent versinkt im Moment, wenn er Surfbretter bemalt. Er verzieht den Mund dabei nicht. Er streicht dann, nach Wachsresten fahndend, mit den Fingern über die Oberfläche. Anschließend träufelt er ein paar Tropfen Alkohol auf ein Tuch und wischt das Fett vom Brett. Für die Kohlestift-Skizzen raut er mit dünnem Schmirgelpapier das Material an. Das fertige Kunstwerk beschichtet er mit Lack. Mit seinen Schöpfungen hat er sich in der Szene einen Namen gemacht. Er verdient damit mehr als mit seinen Übersetzungen für dänische Reiseveranstalter – als er zwölf war, zog die Familie von Aalborg an die deutsche Ostsee. Eigene Designs reiht er in seinem Atelier auf. Sein aktuelles Motiv ist ein olivgrünes Maori-Mandala.

Bent malt gerade an einem Brett, als es an der Garagentür klingelt. Normalerweise, denkt er sich, melden sich die Kunden doch vorher an. Bent zögert zunächst, geht dann zur Tür und öffnet sie einen Spalt. Eine junge Frau mit knackigen Backen und zusammengezwirbelten Haaren, die wie kleine Trompeten, aussehen, grinst ihn an: „Hey, hey! Darf ich reinkommen?“, fragt sie. „Kundin?“, fragt Bent. „Ja“, sagt sie. „Kommen sie rein.“ Sie tritt ein und schaut sich um. „Du Eule. Soll ich dir das Licht anknipsen?“, tönt sie in den Raum. „Nein, mir reicht die Lampe da vorne“, sagt Bent und muss sich noch einmal vergegenwärtigen, dass sie ihn tatsächlich Eule genannt hatte. „Warum ist es hier so trist? Ich hatte Poster von wilden Stunts erwartet“, zwitschert sie. Bent ist sprachlos; er weist ihr mit der Handfläche einen Hocker am Tisch zu. Bent setzt sich zu ihr.

Sie redet weiter. Sie heiße Georgina, studiere in Kiel Architektur und besuche über die Semesterferien eine Freundin in Rostock. Sie schildert ihm, dass sie erst seit dem Frühjahr surfe und für diesen Sport glühe. „Du bist ja etwas erfahrener als ich, kannst du mir geheime Buchten verraten?“ „Ich bin leider seit drei Jahren raus aus dem Geschäft“, sagt Bent. „Warum?“, fragt Georgina. Bent klopft dreimal auf seinen linken Unterschenkel. Metallischer Klang. „Shit, das tut mir leid“, sagt sie. „Was ist passiert?“ „Ein Jetski schoss aus der Welle und zertrümmerte mein Schienbein.“ Georgina fragt nicht weiter nach. Das Gespräch nimmt Wendungen harmloserer Natur; nach einer knappen Stunde formuliert Georgina einen Wunsch: „Zauber‘ mir das Panorama des Strandes von Mimizan aufs Brett. Dort habe ich meine Liebe fürs Surfen entdeckt.“ Georgina zeigt ihm das entsprechende Bild auf ihrem Smartphone. Bent blickt verstohlen auf das Display; der Auftrag gehe klar, er müsse jetzt allerdings weiterarbeiten. Georgina willigt ein, läuft zu ihrem Auto und kehrt mit dem Board unter dem Arm zurück.

Noch am selben Nachmittag möchte Bent das Motiv vorzeichnen. Doch immer, wenn er den Stift ansetzt, ist er eigenartig blockiert. Irgendetwas in seinem Hinterkopf schiebt sich zwischen ihn und das Projekt. Tags darauf ruft Bent Georgina an: „Du, ich weiß nicht, ob ich das machen kann. Mir fehlen die passenden Farben.“ „Die passenden Farben? Ist das Bild so anspruchsvoll?“ „Ja … warum auch nicht?“ „Nur weil wir uns gut verstehen, musst du mir nicht weniger Geld berechnen“, sagt Georgina. Bent muss schmunzeln. „So ist es nicht.“ Beide schweigen eine Weile, bevor Bent fortfährt: „Also gut, ich sag dir, was los ist. Ich hatte dir doch gestern von meinem Unfall erzählt. Ich bin an genau diesem Strand …“ „verunglückt?“, fragt Georgina. „So ist es.“ „Sorry. Das wusste ich nicht. Du müsstest dich mit dem Tatort auseinandersetzen. Das willst du nicht, logisch.“ „Alleine in der Garage, mit dem Brett, den Gedanken, über Stunden hinweg – schwierig“, bestätigt Bent.

Trotz der Absage ruft ihn Georgina regelmäßig an. Sie ist wissbegierig. Und Bent fühlt sich geschmeichelt, auf den Thron des Experten gehoben zu werden, auch wenn er nicht bei allem helfen kann; er mag ihre unerschrockene Art und ihr Talent, ihn zu verblüffen. Sie vertrauen zusehends einander. Eines Tages fragt sie ihn, ob er Lust hätte, sie bei einem privaten Trainingslager zu begleiten, nach Mimizan. Ihr Ferienhaus liege nicht im Zentrum, keine Sorge, sondern am äußersten Zipfel des Strandes, wo sich bereits die Nackten tummelten. Erst windet sich Bent – er möchte ein, zwei Nächte darüber schlafen; schließlich ringt er sich zu einem Kompromiss durch: „Ich bin dabei, wenn ich abreisen darf, wann ich will.“

In einem Campervan geht es über Hamburg, Köln und Paris an die französische Atlantikküste. Für Bent ist es der erste Urlaub seit dem Unfall. Die Terracotta-Veranda entpuppt sich in warmen Nächten als Ort für offene Worte. „Weißt du, das Malen ist schön, es macht mir Spaß“, sagt Bent, „aber man hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, buchstäblich. Da ist immer noch diese Starre.“ „Aus der du dich nicht befreien kannst?“, fragt Georgina. „Ich strenge mich zumindest an“, sagt Bent. „Und die Garage ist für dich eine sichere Zuflucht?“ Bent zuckt mit den Schultern. Er nimmt einen Schluck Baileys. „Manchmal, wenn ich nicht mehr anders kann … klettere ich auf den Maltisch, und steige auf das Brett eines Kunden. Und dann schließe ich die Augen und stehe da, leicht gebeugt.“ Georgina ist gebannt und still und hört ihm zu. „Und dann stelle ich mir vor, ich tanze auf dem Wasser meinen Tanz.“

Drei Tage sind vergangen, als Bent erstmals mit zum Strand geht. Es herrscht reine Sicht. Die Sonne strahlt wie ein Highway herab. Georgina stürzt sich in die Fluten. Bent sucht sich ein Plätzchen im Sand, gewöhnt sich an die Szenerie. Er hat sich Farben mitgenommen und packt sie aus; er malt die Dünen, die Wolken, den nahen Birkenwald. Das gibt ihm Sicherheit. In den folgenden Tagen malt er auch Georgina. Er versieht seine Bilder mit kleinen Überschriften, zum Beispiel „Stehversuche“ oder „Abgetaucht“. Er gibt ihr Tipps, wie sie sich geschmeidiger in die Wellen lehnt. Am vorletzten Tag, es ist bereits dämmerig, paddelt Georgina mit dem Bauch auf dem Board liegend über die sanften Wellen, als Bent aufsteht und zum Ufer geht. Georgina sieht ihn. Bent wagt sich in das Wasser. Er tastet sich Meter um Meter voran, wankt dabei immer wieder dezent. Nach einer viertel Stunde erreicht er den hüfthohen Bereich. Georgina rudert ihm entgegen, bis sie zart an seinem Oberschenkel andockt.

„Benedikt“, sagt Georgina. Bent dreht den Kopf zu ihr und formt die Augenbrauen zu einem Blick zwischen Neugier und Ungewissheit. „Steig auf das Brett.“ Der Satz klingt wie ein ermunternder Luftstoß. „Ist das dein Ernst?“, fragt Bent. „Natürlich.“ Sie steigt vom Brett, hält es für ihn fest und blickt ihn an. Er kann ihren Pupillen nicht ausweichen und hebt den Mundwinkel eine Nuance. Sie und ihre friedlichen Überfälle, in denen sie jegliche Bedenken und Risiken wie ein Kind vergisst. Trotzdem oder gerade deswegen: Er verspürt, diese Chance wahrnehmen zu wollen. Er stützt sich mit den Händen ab und zieht vorsichtig ein Knie auf das Board, das andere folgt allmählich nach. Er verweilt in der Hocke, er kostet aus, diesen Schritt gemeistert zu haben. Georgina verfolgt, wie sich Bent Zeit zugesteht und hält weiterhin das Board. Bent richtet sich langsam in Etappen auf. Gleichgewicht. Vorsicht. Konzentration. Aufregung. Hoffnung. Von vorne. Wieder von vorne. Bis er steht. Er streckt seinen Rücken durch und sticht die Stirn in den Himmel. In der salzigen Brise, die auch damals um seine Nase wehte. Das Wasser unter ihm ist blau. „Georgina, bin ich das wirklich?“ „Oh ja“, sagt sie, „auch das bist du.“ Bent blickt in die Ferne, als suche er nach einem Punkt, an dem er ansetzen könnte.
 
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petrasmiles

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Hallo Golovin,

mir hat Deine Geschichte gut gefallen - willkommen auf der Leselupe!
Erst hatte ich Bent für älter gehalten, aber später dachte ich, er wird wohl nicht so viel älter als Georgina sein, sonst hätte ihn ihre forsche Art wohl eher brüskiert. Aber so war das wohl genau die richtige Ansprache, um ihn aus seinem Mauseloch zu holen.

Liebe Grüße
Petra
 

golovin

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Danke! In einer vorherigen Version nenne ich sein Alter - Anfang 30.
Ich überlege, der Geschichte den Twist zu geben, dass sein Bruder ihn mit dem Jetski angefahren hat und Bent sich seitdem Vorwürfe macht, weil sein Bruder bei dem Zusammenstoß gestorben ist. Das Ende des Textes wäre dann ein Brief an seinen Bruder, den er in den Ozean wirft. Eure Meinung?

Wie ist das eigentlich hier mit den 4-Sterne-Ratings? Irgendwie bekommt die fast jeder Text. Ist wirklich jeder Text so gut oder wird generell etwas wohlwollender bewertet, um die Autoren nicht zu entmutigen?
 



 
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