Winternebel

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Tula

Mitglied
Winternebel

Der Abend graut. Ein Meer von Feldern liegt
in kühler Stille. Auf verglaster Haut
ein Krähenschwarm, der sich als Treibgut wiegt.
Vermächtnis eines Sturms, längst abgeflaut.

An der Chaussee lief die Armada auf.
Kein Mast, an dem sich nur ein Segel bläht.
Ihr Schicksal nimmt wie üblich seinen Lauf.
Am Himmel fliehen Schwäne. Alles steht.

Der weiße Hein erwacht. Die bleiche Hand
erklettert nach und nach das erste Deck,
ein zweites, drittes … zieht sich hoch und spannt
das Tuch des Todes über Bug und Heck.

Es dämmert. Die einst stolze Flotte sinkt.
Kein Hauch von Luv und keine Hoffnung Lee.
Kein Wesen, das nicht gnadenlos ertrinkt.
Die letzte Rah, samt Top. Dann schweigt die See.
 
G

Gelöschtes Mitglied 24777

Gast
Hallo Tula,

dieses Gedicht ist ohne Übertreibung, zu der ich zugegeben hin und wieder neige, eines der schönsten (trotz seines Inhalts), die ich je gelesen habe. Und damit meine ich nicht nur hier in der Leselupe, sondern überhaupt! Verzeih mir bitte, dass ich nicht zur Interpretation ansetzen werde, denn mir reicht hier der Genuss dieser Kunst vollkommen.

... Na gut, vielleicht noch ein paar Highlights:

Strophe 1, Vers 4:

Vermächtnis eines Sturms, längst abgeflaut.
Wie die männliche Kadenz am Ende der Zeile das Zur-Ruhe-Kommen des Windes betont, ist wunderbar!

Strophe 2, Vers 1:

An der Chaussee lief die Armada auf.
Gänsehaut, das ist so gut! Das trennbare Verb auflaufen in seiner Doppeldeutigkeit...

Strophe 2, Vers 4:

Am Himmel fliehen Schwäne. Alles steht.
Und wieder die Kadenz. Einfach nur gut, vor allem auch der Kontrast zum vorigen Vers, als ja von einer Bewegung im weitesten Sinne (Lauf) die Rede war.

Strophe 4, Vers 3:

Kein Wesen, das nicht gnadenlos ertrinkt.
Es hilft auch eine Arche nicht...

Ich bin wirklich voll des Lobes für dieses grandiose Stück Literatur, jeder Vers ist hier ein Superlativ!

Liebe Grüße
Frodomir
 
G

Gelöschtes Mitglied 24409

Gast
Hallo Tula,

ein fein gesetztes Poem, das einem viel Freude beim Lesen bereitet! Sehr gut die zwingend männliche Schlusshebung der Verse; so bleibt Unruhe an Bord - wie's der Text einfordert.
Dennoch:
Hein - ist Freund Hain gemeint?
Top - nicht eigentlich Topp?


Kristian
 

aliceg

Mitglied
Hein - ist Freund Hain gemeint?
verwirrende Semantik! 'Freund Hein' ist die verhüllende Bezeichnung für den Tod, umso mehr als er hier weiß ist und mit
bleicher Hand klettert.
Der Hain wiederrum ist ein Wäldchen, das hier gar nicht herpassen würde.
Auch TOP stimmt, denn 'topp, die Wette gilt' ist sicherlich nicht gemeint!'

'Ein Römischer Einser', Tula, für deine grandiose Ballade!
lg aliceg
 

fee_reloaded

Mitglied
Eine Ballade vom Feinsten, lieber Tula!

Die reiht sich für mich mühelos in die Balladensammlungen der Großen ein. Wundervoll empfunden, erspürt und verdichtet und wie Sprachmelodie, Bilder und Wortwahl gekonnt ineinandergreifen, um eine so dichte poetische Schilderung voller Beklemmung und dieses Spüren des nahen Todes zu weben - das muss man erst mal so hinbekommen!

- und wie es das tut! Sagenhaft gut gemacht!

Ein ganz ganz großer Text! Wow!

LG,
fee
 

aliceg

Mitglied
@ Tula

,,,, um die poetische Hochebene alltagstauglich zu machen: Nebel und Nebelschwaden können uns in verzerrte
Bilder eintauchen lassen und die Sinne bis ins Mark täuschen ...

Auch diese Eindrücke sind dir fantastisch gelungen!
lg aliceg
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Hallo Tula,

eine Ballade wohl weniger, um es genau zu sagen: gar keine Ballade. Ein bisschen verwirrend, das Meer von Feldern zu vergleichen mit der See.
Das Gedicht ist sauber gereimt, gut die Beobachtungsgabe des Autors, aber gemischt mit einer gehörigen Prise zuviel Phantasie für meinen Geschmack. Doch was soll's, es ist ein Gedicht geworden. Harmlos und nicht anstößig. Wie der Autor es zu lieben pflegt. Ich weiß gar nicht, ob man dieses Gedicht in die Rubrik Naturgedichte einordnen sollte, eher würde ich es unter Alkohldelirium sehen wollen. Falls der Autor den portugiesischen Wein bevorzugen sollte.

Lieben Gruß, Hanna
 

Tula

Mitglied
Hallo Frodomir
Nun machst du mich bei soviel Lob sogar verlegen. Freut mich sehr, dass es dir gefällt. Das gute alte Reimgedicht immer wieder verpönt, d.h. von einigen, aber es eignet sich doch trefflich zu Stimmungsbildern dieser Art.

Dankend lieben Adventsgruß
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo Kristian
Dank auch dir. In der Tat habe ich im Vergleich eine leichte Vorliebe für männliche Kadenzen in solchen Gedichten, wirken diese irgendwie stärker.
Der Masttop ... ein 'p', kommt ja direkt aus dem Englischen, wobei es verwirrend ist, dass es zweimal Top(p) gibt. Der weiße Hein natürlich der Tod, der in der Phantasie aus dem Nebel steigt.

Dankend lieben Gruß
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo fee
Irgendwie haben ja alle stillen Landschaften etwas Erhabenes, aber der Winter inspiriert mich in dieser Hinsicht wirklich am meisten. Und wem wird nicht mulmig, wenn er plötzlich im Nebel steht.

Dankend lieben Adventsgruß
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo aliceg
So ist es. Das Prinzip natürlich nichts Neues, als 'alter Seemann' zieht mich die Phantasie dabei nicht zufällig ins Maritime.

Lieben Adventsgruß
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo Hanna
Wenn du anstößige Gedichte magst, da hätte noch einige in der Kladde ;)
Ich muss dich enttäuschen, dass ich das Gedicht (du hast recht, keine Ballade im klassischen Sinne) nüchtern geschrieben habe, nach und nach über Morgen und Nachmittag. Den letzten Schliff bekam es in S4 nach dem Abendbrot, da hatte ich 2 Gläser Rotwein intus. Zu wenig fürs Delirium.
Zum Ernst der Sache: über Geschmack lässt sich bekanntermaßen streiten, d.h. eigentlich ja nicht, jeder hat seinen. 'zu viel' Phantasie kann es mMn allerdings kaum geben. Ich würde eher behaupten, dass nur der Mensch lyrisch-kreativ schreiben kann, der sich in dieser Hinsicht ein bischen 'Kind-sein' bewahrt hat. Dichten erfordert Phantasie, ohne diese entstehen 'sachliche Gedichte' und nicht zuletzt die politischen Manifeste, die die Foren bevölkern. Auch das gewiss Ansichtssache.

Adventsgruß
Tula
 

HerbertH

Mitglied
Hallo Tula, Dein Gedicht transportiert sprachgewaltig und sehr gekonnt eine Szenario im Nebel, vom Kampf mit Naturgewalten und menschlichen Gegnern: Klasse: Ein schönes Strandlied.

Aller Sterne wert
 

Tula

Mitglied
Hallo Herbert
Freut mich, auch zu wissen, dass du noch immer hier auf LL vorbeischaust.
In diesem Sinne, man liest sich
Adventsgrüße
Tula
 

aliceg

Mitglied
@blackout
Liebe Hanna, du sezierst ein Werk ja gerne.
Kannst du nicht wenigstens diesmal die Wirkung auf mich als eine Art 'Ballade' (nach anglo-amerikanischen Softsongs 'ballad' genannt), gelten lassen?
Müssen immer nur die strengsten Kriterien herhalten? Dichten hat doch viel mit gefühlten Eindrücken zu tun, wir schreiben hier ja nicht alle für einen Wettbewerb mit Jurorenkontrolle oder?
lg aliceg
 
G

Gelöschtes Mitglied 24428

Gast
Auf mich wirkt das Gedicht von Tula wie eine Satire auf die Bundesrepublik Deutschland.

Daisy
 
G

Gelöschtes Mitglied 24409

Gast
@aliceg

Müssen immer nur die strengsten Kriterien herhalten
In meiner Einlassung (#3) sprach ich von 'Freund Hain' und 'Topp' - beide Schreibungen sind übrigens völlig in Ordnung und können neben Hein und Top verwendet werden. Aber was machst Du draus? Ein semantisches Thema! Wie bitte? Es ist allenfalls ein orthografisches, also ein Rechtschreibethema! Und wie bitte schön kommst darauf, mich zu belehren, was ein Hain (im Sinne z.B. eines Olivenhains) ist? Topp, die Wette gilt ... was ist das denn? Darf ich fragen, in welchem thread Du Dich befunden hast?

Ich teile Deine Ansicht, dass man nicht alles zu eng sehen sollte. Aber falsche Unterstellungen und dabei falsche Termini verwenden - das gehört nicht in ein literarkritischen Diskurs!


Gruß
Kristian
 

aliceg

Mitglied
falsche Unterstellungen und dabei falsche Termini verwenden -
Schlag nach im Duden. Nur soviel: es ist ursprünglich richtig geschrieben worden, aber das hast du ausbessern wollen.
Wenn man meint, im Recht zu sein, weil es angeblich zwei Schreibweisen (?) gibt, gilt eben beides.
Da muss man auf andere Meinungen nicht gleich angriffig reagieren wie ein Oberlehrer.

Trotzdem friedliche Adventgrüße.
aliceg
 



 
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