Wintersame Auster, die ich bin (Sonett)

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Elias

Mitglied
Das alte Jahr kerbt ins Gesicht mir Falten.
Auf Krähenfüßchen läuft das Sehen wund.
Klapp meine Schalen zu. Am tiefsten Meeresgrund
umschleim ich Schmutzpartikel für ein neues Walten.

Gleich Austermessern brechen deine Augen
den Leib: Schlürf ihn mit März belippt zu Tode!
(Ich hoffe stark es ist im Frühjahr Mode,
sich nobel mit Zitrone auszusaugen.)

Die Perle magst du an den Busen stecken.
(Der Schimmer wird die schwarzen Blicke wecken.)
Bevor der Kerl jedoch dir an die Wäsche greift

und dich aufs rosa Lotterbettchen schleift,
lass mich noch schnell den blonden Flaum beküssen.
Dann leg mich weg. Der Rest? Gar trübes Winterwissen.
 

Walther

Mitglied
hi Elias,

schön, dich wieder mal zu lesen. und in der tat: es ist ein perlchen, was du uns da aus deiner denkmuschel hervorgezaubert hast.

es kommt nicht häufig vor, daß metrenwechsel nicht stören wollen. hier ist das der fall. man muß schon die hebungsperlen und die senkungsknötchen zählen an der versekette, damit man bemerkt, daß in s1 v3 und v4 sechshebig sind. ach so, nebenbei: s4v3 ist das auch. :) daß der rest fein austariert fünfhebig jambt, ist rein akademisch und nur der vollständigkeit halber vermerkt. man will sich von den an- und abwesenden lupensonettexperten ja nichts nachsagen lassen.

jedenfalls strudeln den leser die verse mehr und mehr durch den muschelmund gleichsam ins innere des geschehens. das perlmutt erscheint am anfang matt. die altersklage schafft die stellen. das fremde, harte, das eindringt, wird gekapselt und dient als kristallisationspunkt für das schillernd runde, das nun wächst.

ja, das fein liebchen hat anderes vor. es will nicht auf die perlen warten, nein, es will alles schlürfen. das kokette die haare nach hinten werfen, das strecken des halses vor dem schlucken selbst ist sinnlich, fast lüstern, auch das sabbernde schlürfen ist es, man könnte auf gedanken kommen. (daß diese mit zitrone herb und kratzend, fast beißend gemacht werden, paßt schon wunderbar).

natürlich soll der schmuck die formen schmücken und die augen reizen, die reizen mit blicken zu betasten. sie sind nächtlich, diese blicke, und schwül, die augen werden zu lustkohlen schon beim schauen.

so bleibt das junge schöne für das alter in der ferne, es nochmals schmecken, schlecken und schlürfen zu dürfen, bevor man weggelegt wird, weil, wie die schwaben sagen, das löchle zuschnappt, kommt ins bild. der winter weiß, was der tod zu sagen hat, der frühling schafft die zweifel daran und der märz der jugend und der lust bringt das wunderbare verdrängen.

auf, laßt uns die austern schlürfen, bevor sie schlecht werden. die perlen sollen, verdammt nochmal, warten.

chapeau!

lg w.
 

Elias

Mitglied
Sonett & Lust & Form

hi Walther,

sensibel den Gedanken aufgenommen, weiter- und tiefer gesehen (als ich es je gewagt hätte). Nun ja, Austern - zu viel was einem einfällt und spinnwebenartig ins Wünschen und Denken diffundiert. Ja, ich gestehe, es hat mich gefreut diesen Kommentar zu lesen - um seiner selbst willen. Die Hardcore-Sonettisten bemerken es selbstredend: Keine Entschuldigung! Die Metrik ist leicht lottrig (und ich hab das Zählen bisweilen satt). In der Tat ist die eigentliche Richtgröße für mich eher die Lesbarkeit, die Sinnstruktur, die Rhythmik, die bei manchen Sonetten mit der Metrik kollidiert oder sich nur unter Verlust sprachlicher Qualität einpressen lässt. Zudem habe ich so eine Affinität zu den kleinen Stolperern - wie kleine Lackkratzer - quasi Gebrauchsspuren alter Formen. Das Gelackte mag etwas leiden, die Unvollkommenheit lässt es anders schimmern - etwas ist lebendig, etwas hat Narben. So gesehen das Ganze zu einem Ganzen zu verbinden ist fast noch schwieriger als die Metrik formvollendet zu bewältigen. Ist mehr so eine persönliche Philosophie denn ein Plädoyer gutes Handwerk (seufz, ich sollte an mir arbeiten), eher so ´ne frische Unrespektierlichkeit - nein, Sonett, Du zwingst mich nicht unter Deine Knute: Ich spiele mit dir! (oder so ähnlich, egal).

Dank fürs Vorbeischauen und Bestes

E.
 



 
Oben Unten