Silbenstaub
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Lautlos schweben die Schneeflocken auf den Waldboden. Wie Wattebäuschchen, flauschig anzusehen.
Klara sitzt in einem Unterstand, eingehüllt in eine dicke warme Decke, den Schal fest um den Hals geschlungen, Mütze, Handschuhe. Sie friert nicht und wird Teil dieses Balletts der stummen Tänzer. Wie sie Pirouetten drehen, sich anmutig zum Boden hin bewegen.
Rabenschwarze Baumstämme verharren vor ihr. Sie tragen weiß, auf einer Seite nur. Haben sich herausgeputzt. An den kahlen Zweigen erschuf ein Winterkünstler filigrane Kristallfiguren. Kühl und klar und kühn. Ranken schmiegen sich an die Borke, als ob sie den Baum wärmen wollen. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf. Braunrot, ein Farbklecks in der Blässe.
Das Licht ist fahl, die Sonne verbirgt sich. Milchiges Glas. Die Luft ist leer. Nur Frische und Stille um sie herum.
Klara hält den Zeigefinger hinaus in die Schneeflocken und leckt ihn ab. Der Geschmack von Zuckerwatte liegt auf ihrer Zunge. Bilder werden in ihr lebendig vom Schlittenfahren auf dem Schulberg, Lachen und Weinen gleichzeitig, aufgeschlagene Knie und Kinderpflaster. Und es gab Früchtepunsch aus der weißgepunkteten roten Kanne und Würstchen mit Kartoffelsalat. Sie spürt eine Hand, die über ihre langen Haare streichelt.
Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste mit löchriger Rinde. Sie erzählen ihr Geschichten von Herbststürmen. Sie betrachtet die abstrakten Muster und bizarren Formen. Eine Galerie in freier Natur.
Einen Schluck Tee trinkt Klara aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie ihr Atem.
Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander von vertrockneten Halmen und braunen morschen Blättern, wie achtlos hingeworfen, fast verborgen unter der nassen Decke. Sie haben schwer zu tragen. Das Moos hat seine Farbe verloren und Tannenzapfen ihren Duft. Sie sind mit einer zarten Eiskruste überzogen, wie mit Mehl bestäubt.
In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen wie eine Sanddüne in der Wüste. Spuren verlaufen im Weiß.
Plötzlich strömen Tränen über Klaras kaltes Gesicht, sie wischt sie mit der Handschuhhand weg. Sie schluckt, ihr Hals wird eng.
Sie sieht die Mutter vor sich, wie sie in ihrem Bett lag, bewegungslos und völlig ruhig. Die Schmerzen hatten aufgehört. Wenigstens das. Kein Atmen, kein Zucken mit den Augenlidern. Klara hielt auch den Atem an und verharrte steif auf dem Stuhl, bis die Schultern und der Rücken schmerzten. Als sie aufstand, schwankte sie, oder schwankte der Raum? Die Stille quoll in jeden Winkel. Eine Kerze flackerte am gekippten Fenster. Ein kaum spürbarer Windhauch.
Krebs hatte ihre Mutter besiegt. Hatte sich ausgedehnt und war in den Bauchraum einmarschiert. Ein übermächtiger Feind auf Eroberungsfeldzug.
Noch einen Tag zuvor hatten sie im ‚Raum der Stille‘ im Hospiz gesessen. Sie sprachen nicht, ließen die Minuten verstreichen. Sie hielten sich an den Händen. Sie hatten keine Zeit mehr, das wussten sie.
Klara war so verlassen wie die Schirme und Taschen im Fundbüro, die keiner abholt. Alle Puzzleteile ihres Lebens, die vorher an ihrem Platz gelegen hatten, fielen auseinander. Wenn ich dieses Zimmer verlasse, so dachte sie, läuft draußen ein Film ab, an dem ich nicht teilhaben werde.
Eine Meise zwitschert, ein Specht klopft, der Wald wacht auf. Der Frühling naht. Klara steht auf und packt die Decke ein. Es ist Zeit, weiter zu wandern. Der Schnee knirscht unter ihren Stiefeln. Ein Schneeglöckchen streckt seinen Kopf heraus.
Klara sitzt in einem Unterstand, eingehüllt in eine dicke warme Decke, den Schal fest um den Hals geschlungen, Mütze, Handschuhe. Sie friert nicht und wird Teil dieses Balletts der stummen Tänzer. Wie sie Pirouetten drehen, sich anmutig zum Boden hin bewegen.
Rabenschwarze Baumstämme verharren vor ihr. Sie tragen weiß, auf einer Seite nur. Haben sich herausgeputzt. An den kahlen Zweigen erschuf ein Winterkünstler filigrane Kristallfiguren. Kühl und klar und kühn. Ranken schmiegen sich an die Borke, als ob sie den Baum wärmen wollen. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf. Braunrot, ein Farbklecks in der Blässe.
Das Licht ist fahl, die Sonne verbirgt sich. Milchiges Glas. Die Luft ist leer. Nur Frische und Stille um sie herum.
Klara hält den Zeigefinger hinaus in die Schneeflocken und leckt ihn ab. Der Geschmack von Zuckerwatte liegt auf ihrer Zunge. Bilder werden in ihr lebendig vom Schlittenfahren auf dem Schulberg, Lachen und Weinen gleichzeitig, aufgeschlagene Knie und Kinderpflaster. Und es gab Früchtepunsch aus der weißgepunkteten roten Kanne und Würstchen mit Kartoffelsalat. Sie spürt eine Hand, die über ihre langen Haare streichelt.
Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste mit löchriger Rinde. Sie erzählen ihr Geschichten von Herbststürmen. Sie betrachtet die abstrakten Muster und bizarren Formen. Eine Galerie in freier Natur.
Einen Schluck Tee trinkt Klara aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie ihr Atem.
Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander von vertrockneten Halmen und braunen morschen Blättern, wie achtlos hingeworfen, fast verborgen unter der nassen Decke. Sie haben schwer zu tragen. Das Moos hat seine Farbe verloren und Tannenzapfen ihren Duft. Sie sind mit einer zarten Eiskruste überzogen, wie mit Mehl bestäubt.
In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen wie eine Sanddüne in der Wüste. Spuren verlaufen im Weiß.
Plötzlich strömen Tränen über Klaras kaltes Gesicht, sie wischt sie mit der Handschuhhand weg. Sie schluckt, ihr Hals wird eng.
Sie sieht die Mutter vor sich, wie sie in ihrem Bett lag, bewegungslos und völlig ruhig. Die Schmerzen hatten aufgehört. Wenigstens das. Kein Atmen, kein Zucken mit den Augenlidern. Klara hielt auch den Atem an und verharrte steif auf dem Stuhl, bis die Schultern und der Rücken schmerzten. Als sie aufstand, schwankte sie, oder schwankte der Raum? Die Stille quoll in jeden Winkel. Eine Kerze flackerte am gekippten Fenster. Ein kaum spürbarer Windhauch.
Krebs hatte ihre Mutter besiegt. Hatte sich ausgedehnt und war in den Bauchraum einmarschiert. Ein übermächtiger Feind auf Eroberungsfeldzug.
Noch einen Tag zuvor hatten sie im ‚Raum der Stille‘ im Hospiz gesessen. Sie sprachen nicht, ließen die Minuten verstreichen. Sie hielten sich an den Händen. Sie hatten keine Zeit mehr, das wussten sie.
Klara war so verlassen wie die Schirme und Taschen im Fundbüro, die keiner abholt. Alle Puzzleteile ihres Lebens, die vorher an ihrem Platz gelegen hatten, fielen auseinander. Wenn ich dieses Zimmer verlasse, so dachte sie, läuft draußen ein Film ab, an dem ich nicht teilhaben werde.
Eine Meise zwitschert, ein Specht klopft, der Wald wacht auf. Der Frühling naht. Klara steht auf und packt die Decke ein. Es ist Zeit, weiter zu wandern. Der Schnee knirscht unter ihren Stiefeln. Ein Schneeglöckchen streckt seinen Kopf heraus.