Karlas Lieblingsgedicht handelt von einem Balkon, der kastriert wird. Mit Gänsehaut liest sie, wie ihm die Pflanzen genommen werden, dann der Tisch, die Stühle, das Kinderspielzeug, selbst das Thermometer, denn es ist ein kalter Sommer. Die Gänsehaut ist doppelt, metaphorisch und konkret, denn es ist ein kalter Sommer, nicht nur im Gedicht. Der modische Sommer von heute trägt dieses Jahr Regenschleier, durch so einen schaut Karla hinaus auf den eigenen Balkon, also jenen Teil davon, der den Namen wirklich verdient, weil er tatsächlich vollständig aus der Wand herausragt und nicht eigentlich das Dach der Garage ist und fragt sich, kann ihm das auch passieren? Wirst du dich kastrieren lassen, Lieber?
Wir haben ja gar keine Balkonpflanzen, denkt Karla, nie gehabt. Nichts Grünes stört die Erhabenheit dieser Wüste aus Waschbeton. Wüst und leer, das sind die besseren Attribute für den Balkon, findet Karla. Schmuck? Pah. Da ist nicht viel, das man wegräumen könnte: ein verrotteter Biertisch plus Bierbank, leere Bierflaschen, ein umgestoßener Aschenbecher, eine hinfällige Wäschespinne, eine eingetretene Tür und ein vergessener Vorschlaghammer. Das klingt nicht nach leer, aber der Balkon ist groß, das Gerümpel verliert sich in der Weite der Waschbetonwüste. So bleibt genug Platz zum Auf- und Abwandern. Das ist kein Sitz-Lieg-und-Sonn-, sondern ein Wanderbalkon. Karla hat das früher oft getan, tief in Gedanken oder mit einem Heft in der Hand und sich den Lernstoff vorgesagt, vorgesungen, vorgetragen, als wäre es ein Liebesgedicht, eine Kriegserklärung, eine Grabrede, eine Radiowerbung. Die Nachbarn haben sich gewundert und Karla bekam gute Noten. Sie lernte leicht, weil sie ihre eigene Stimme so gern hörte.
Früher stand da auch ein Tischtennistisch, den hatte Winz sich gewünscht und bekommen, obwohl Karla rechtzeitig angekündigt hatte, dass sie jedenfalls nicht mit ihm spielen würde, weil sie das Spiel nicht mochte und nicht beherrschte. Er wurde selten benutzt -Winzens Freunde spielten auch lieber Play-Station - und in die Kleinanzeigen gesetzt. Und wenn der Ball übers Gelände ging, musste man durchs Haus die Treppe runter, das war sowieso mühsam, denkt Karla, damals hatten wir ja die Wendeltreppe noch nicht. Die Wendeltreppe führt hinunter in den Garten und wurde am häufigsten von Winzens Freunden benutzt, sie klopften an sein Fenster und wollten nur schnell eine rauchen, wenn Winz über den Büchern saß. Denn sie waren lernfähig, sie wussten, die Türklingel brachte es nicht.
Ist Winz da?
Klar, aber er muss lernen, er hat nicht viel Zeit. Winz! Wiiiiiinz! Und wirklich nur kurz, du musst heut noch was tun!
Winz fühlte sich bei ihren nächtlichen Besuchen wie Rapunzel im Turm, also beschissen, weil erstens unmännlich und zweitens gefangen in einer seinem Alter unangemessenen Situation. Aber es hatte sich bewährt und wurde Tradition. Für Karla kam nie wer die Wendeltruppe hoch, das war ihr nicht sonderlich geheimer Kummer und der Grund, warum sie Winz gar so oft damit aufzog.
Wir hatten unsere guten Zeiten, denkt Karla, weißt du noch? Wie wir da lagen und in den Himmel schauten, Mam und Winz und ich und Mam ihre Pläne schmiedete und begehrliche Blicke auf die Pferdekoppel nebenan warf, man könnte das Grundstück kaufen und noch ein Reihenhaus anhängen, für ein Kind samt Familie, und die Balkone überdachen, da ginge sich eine hübsche Wohnung aus, vielleicht für das zweite Kind, falls es allein bleibt. (Ob sie damals schon geglaubt hat, dass ich allein bleibe, denkt Karla, jetzt ist sie ja überzeugt.)
Warte nur, wir werden weg sein, so schnell kannst du gar nicht schauen.
Eine richtige Burg wäre das geworden; Mama geht unter die Burgherren, feixt Winz, und wer gräbt dir den Burggraben? Wer bewacht dir den Burggraben? Krokodile, Piranhas? Und praktisch wäre das!, denn bis dahin ist Karli ein Quader und wir können dann den Karli-Quader einfach über den Balkon in die neue Wohnung schieben und das war eigentlich gemein, denn Karla kam da gerade in das Alter, in dem Mädchen anfangen, sich schnell fett und formlos zu fühlen. (Das war damals allerdings später als heute, denkt Karla.) Ihr Lachen war trotzdem echt, denn diese Bilder von der Mama-Burg und dem Karli-Quader, die hatten einfach etwas unwiderstehlich Komisches.
Wart nur, wir werden weg sein, so schnell kannst du gar nicht schauen.
Geht nur, geht nur, ich kann’s gar nicht erwarten.
Und wir haben so gelacht, denkt Karla, alle drei, das mit dem Sich-Zerkugeln ist nämlich gar keine Phrase, wir haben uns wirklich gewunden, gewälzt auf dem Waschbeton und gelacht und uns die Bäuche gehalten.
Später hat Karla die Buchungssätze und Vokabeln nicht mehr aufgesagt, sondern abgeprüft. Sie brauchte den Balkon nicht mehr, sie hatte den Park, das Café, die Bibliothek in einer anderen Stadt und kam nur heim, um Winz abzuprüfen und sich anzuhören, wie wenig er das alles aushielt und ihm zuzuschauen, wie er auf dem Balkon auf- und abging, mit hängenden Schultern und den Blick auf den Waschbeton gerichtet.
Ich möchte einfach nur versagen dürfen. Im Herbst noch mal antreten, im Frühling noch mal. Einfach in Frieden versagen.
Den Blick auf den Waschbeton gerichtet, dumpf brütend und düstere Szenarien entwerfend. Und aus irgendeinem Grund dauernd den Vorschlaghammer in der Hand, von dem keiner einer Ahnung hatte, warum der jetzt auf dem Balkon lag und den keiner endlich zurück in den Geräteschuppen trug. Er schwang ihn hin und her, nicht wie Thor über den Kopf, sondern wie ein Gorilla seine Arme und Karla sah ihm an, dass er gerne die kaputte Tür damit noch kaputter gemacht hätte. Die kaputte Tür lehnte an der Wand, es war seine, sie war in einem Streit eingetreten worden. Wüster Streit. Eine laute Familie. Beim Lachen und beim Streiten. Karla fühlte die Wut, die aufgestaute, seine Verzweiflung und die eigene und vor allem den Drang, ihm den Hammer weg zu nehmen. Das war seit jeher so, denkt Karla. Der Karla-Grapsch-Effekt, wie Winz es nennt. Schon nach allem, das ihm in die fetten kleinen Baby-Fingerchen geraten war, hatte auch sie ihre fetten kleinen Baby-Ärmchen gestreckt. Da hätte sie noch eine Ausrede gehabt, weil Winz in gewissen Phasen seines Lebens 90% aller Dinge, die er in die Hand nahm, dazu verwendete, sie nach Karla zu schmeißen, während Karla nur die Bücher nach ihm schmiss, an deren Lektüre er sie hinderte. Aber das war es nicht. Winz spielte mit dem neuen Ball und irgendein Schalter in Klaras Hirn legte sich um und da war nur noch Muss-Haben. Und jetzt sprachen sie über die Matura und Von-Zu-Hause-Ausziehen und Karla griff nach dem Hammer. Er war schwer, er lag gut in der Hand. Karla spürte die kinetische Energie, die in dem Körper gespeichert ist und wog bedächtig die gespeicherte Kraft. Gibt wieder her, maulte Winz, als ob er es nicht gewohnt wäre. Wann immer sie sich gegenseitig die Sachen vorrechneten (Die Barbi! Das Matchbox-Auto! Meine Füllfeder! Das Lego-Fort!), die sie einander kaputt gemacht hatten, kam Winz früher oder später mit seinem „kaputten Ego“.
Du bist für ihn verantwortlich.
Karla schwang den Hammer, schwang ihre durch den Hammer verlängerten Gorilla-Pratzen hin und her und tatsächlich hätte sie es fast geschafft, sich dabei selbst zu erschlagen.
Einmal mehr bebte der Waschbeton unter schallendem Gelächter.
Liegt der Hammer eigentlich immer noch draußen?, überlegt Karla. Sie wird es in diesem Text nicht mehr erfahren, sie hat bestimmt keine Lust bei diesem Regen draußen nachzuschauen. Die kaputte Tür ist schon entsorgt worden. Der verrottete Biertisch kommt wohl auch bald weg. Außer Winz will den keiner und der zieht im Herbst zu einem Freund.
Und trotzdem, denkt Karla, wirst du nicht kastriert, lieber Balkon. So lange die Waschbetonplatten die Sonne speichern, dass man barfuß darauf laufen kann selbst in Monaten mit R, so lange wird das nicht geschehen.
Wir haben ja gar keine Balkonpflanzen, denkt Karla, nie gehabt. Nichts Grünes stört die Erhabenheit dieser Wüste aus Waschbeton. Wüst und leer, das sind die besseren Attribute für den Balkon, findet Karla. Schmuck? Pah. Da ist nicht viel, das man wegräumen könnte: ein verrotteter Biertisch plus Bierbank, leere Bierflaschen, ein umgestoßener Aschenbecher, eine hinfällige Wäschespinne, eine eingetretene Tür und ein vergessener Vorschlaghammer. Das klingt nicht nach leer, aber der Balkon ist groß, das Gerümpel verliert sich in der Weite der Waschbetonwüste. So bleibt genug Platz zum Auf- und Abwandern. Das ist kein Sitz-Lieg-und-Sonn-, sondern ein Wanderbalkon. Karla hat das früher oft getan, tief in Gedanken oder mit einem Heft in der Hand und sich den Lernstoff vorgesagt, vorgesungen, vorgetragen, als wäre es ein Liebesgedicht, eine Kriegserklärung, eine Grabrede, eine Radiowerbung. Die Nachbarn haben sich gewundert und Karla bekam gute Noten. Sie lernte leicht, weil sie ihre eigene Stimme so gern hörte.
Früher stand da auch ein Tischtennistisch, den hatte Winz sich gewünscht und bekommen, obwohl Karla rechtzeitig angekündigt hatte, dass sie jedenfalls nicht mit ihm spielen würde, weil sie das Spiel nicht mochte und nicht beherrschte. Er wurde selten benutzt -Winzens Freunde spielten auch lieber Play-Station - und in die Kleinanzeigen gesetzt. Und wenn der Ball übers Gelände ging, musste man durchs Haus die Treppe runter, das war sowieso mühsam, denkt Karla, damals hatten wir ja die Wendeltreppe noch nicht. Die Wendeltreppe führt hinunter in den Garten und wurde am häufigsten von Winzens Freunden benutzt, sie klopften an sein Fenster und wollten nur schnell eine rauchen, wenn Winz über den Büchern saß. Denn sie waren lernfähig, sie wussten, die Türklingel brachte es nicht.
Ist Winz da?
Klar, aber er muss lernen, er hat nicht viel Zeit. Winz! Wiiiiiinz! Und wirklich nur kurz, du musst heut noch was tun!
Winz fühlte sich bei ihren nächtlichen Besuchen wie Rapunzel im Turm, also beschissen, weil erstens unmännlich und zweitens gefangen in einer seinem Alter unangemessenen Situation. Aber es hatte sich bewährt und wurde Tradition. Für Karla kam nie wer die Wendeltruppe hoch, das war ihr nicht sonderlich geheimer Kummer und der Grund, warum sie Winz gar so oft damit aufzog.
Wir hatten unsere guten Zeiten, denkt Karla, weißt du noch? Wie wir da lagen und in den Himmel schauten, Mam und Winz und ich und Mam ihre Pläne schmiedete und begehrliche Blicke auf die Pferdekoppel nebenan warf, man könnte das Grundstück kaufen und noch ein Reihenhaus anhängen, für ein Kind samt Familie, und die Balkone überdachen, da ginge sich eine hübsche Wohnung aus, vielleicht für das zweite Kind, falls es allein bleibt. (Ob sie damals schon geglaubt hat, dass ich allein bleibe, denkt Karla, jetzt ist sie ja überzeugt.)
Warte nur, wir werden weg sein, so schnell kannst du gar nicht schauen.
Eine richtige Burg wäre das geworden; Mama geht unter die Burgherren, feixt Winz, und wer gräbt dir den Burggraben? Wer bewacht dir den Burggraben? Krokodile, Piranhas? Und praktisch wäre das!, denn bis dahin ist Karli ein Quader und wir können dann den Karli-Quader einfach über den Balkon in die neue Wohnung schieben und das war eigentlich gemein, denn Karla kam da gerade in das Alter, in dem Mädchen anfangen, sich schnell fett und formlos zu fühlen. (Das war damals allerdings später als heute, denkt Karla.) Ihr Lachen war trotzdem echt, denn diese Bilder von der Mama-Burg und dem Karli-Quader, die hatten einfach etwas unwiderstehlich Komisches.
Wart nur, wir werden weg sein, so schnell kannst du gar nicht schauen.
Geht nur, geht nur, ich kann’s gar nicht erwarten.
Und wir haben so gelacht, denkt Karla, alle drei, das mit dem Sich-Zerkugeln ist nämlich gar keine Phrase, wir haben uns wirklich gewunden, gewälzt auf dem Waschbeton und gelacht und uns die Bäuche gehalten.
Später hat Karla die Buchungssätze und Vokabeln nicht mehr aufgesagt, sondern abgeprüft. Sie brauchte den Balkon nicht mehr, sie hatte den Park, das Café, die Bibliothek in einer anderen Stadt und kam nur heim, um Winz abzuprüfen und sich anzuhören, wie wenig er das alles aushielt und ihm zuzuschauen, wie er auf dem Balkon auf- und abging, mit hängenden Schultern und den Blick auf den Waschbeton gerichtet.
Ich möchte einfach nur versagen dürfen. Im Herbst noch mal antreten, im Frühling noch mal. Einfach in Frieden versagen.
Den Blick auf den Waschbeton gerichtet, dumpf brütend und düstere Szenarien entwerfend. Und aus irgendeinem Grund dauernd den Vorschlaghammer in der Hand, von dem keiner einer Ahnung hatte, warum der jetzt auf dem Balkon lag und den keiner endlich zurück in den Geräteschuppen trug. Er schwang ihn hin und her, nicht wie Thor über den Kopf, sondern wie ein Gorilla seine Arme und Karla sah ihm an, dass er gerne die kaputte Tür damit noch kaputter gemacht hätte. Die kaputte Tür lehnte an der Wand, es war seine, sie war in einem Streit eingetreten worden. Wüster Streit. Eine laute Familie. Beim Lachen und beim Streiten. Karla fühlte die Wut, die aufgestaute, seine Verzweiflung und die eigene und vor allem den Drang, ihm den Hammer weg zu nehmen. Das war seit jeher so, denkt Karla. Der Karla-Grapsch-Effekt, wie Winz es nennt. Schon nach allem, das ihm in die fetten kleinen Baby-Fingerchen geraten war, hatte auch sie ihre fetten kleinen Baby-Ärmchen gestreckt. Da hätte sie noch eine Ausrede gehabt, weil Winz in gewissen Phasen seines Lebens 90% aller Dinge, die er in die Hand nahm, dazu verwendete, sie nach Karla zu schmeißen, während Karla nur die Bücher nach ihm schmiss, an deren Lektüre er sie hinderte. Aber das war es nicht. Winz spielte mit dem neuen Ball und irgendein Schalter in Klaras Hirn legte sich um und da war nur noch Muss-Haben. Und jetzt sprachen sie über die Matura und Von-Zu-Hause-Ausziehen und Karla griff nach dem Hammer. Er war schwer, er lag gut in der Hand. Karla spürte die kinetische Energie, die in dem Körper gespeichert ist und wog bedächtig die gespeicherte Kraft. Gibt wieder her, maulte Winz, als ob er es nicht gewohnt wäre. Wann immer sie sich gegenseitig die Sachen vorrechneten (Die Barbi! Das Matchbox-Auto! Meine Füllfeder! Das Lego-Fort!), die sie einander kaputt gemacht hatten, kam Winz früher oder später mit seinem „kaputten Ego“.
Du bist für ihn verantwortlich.
Karla schwang den Hammer, schwang ihre durch den Hammer verlängerten Gorilla-Pratzen hin und her und tatsächlich hätte sie es fast geschafft, sich dabei selbst zu erschlagen.
Einmal mehr bebte der Waschbeton unter schallendem Gelächter.
Liegt der Hammer eigentlich immer noch draußen?, überlegt Karla. Sie wird es in diesem Text nicht mehr erfahren, sie hat bestimmt keine Lust bei diesem Regen draußen nachzuschauen. Die kaputte Tür ist schon entsorgt worden. Der verrottete Biertisch kommt wohl auch bald weg. Außer Winz will den keiner und der zieht im Herbst zu einem Freund.
Und trotzdem, denkt Karla, wirst du nicht kastriert, lieber Balkon. So lange die Waschbetonplatten die Sonne speichern, dass man barfuß darauf laufen kann selbst in Monaten mit R, so lange wird das nicht geschehen.