Clown seiner Klasse
Mitglied
.
Wo beginnt Kultur? Ein nicht zu ernst gemeinter essayistischer Schreibversuch.
Also, wo beginnt Kultur? Ich meine bei uns, in unserem Alltag, nicht in der Geschichte. Und ich meine als sichtbares, greifbares Gut.
Du denkst kurz nach und sagst: Zuhause. Ja, aber das meine ich nicht, nicht die häusliche, private, intime Kultur. Klar, zuhause liest man das Dasein oder Fehlen von Kultur – nein, mehr noch ihre Qualität – aus der Existenz von Bücherregalen, von Bildern an der Wand. Verlocken die Regale zum Stöbern? Hängen an den Wänden Originale oder Drucke oder gar diese blöden Hightech-Fälschungen mit echter Farbe, aber ohne Seele?
Der laufende Fernseher kann Bände sprechen von der Kultur der Bewohner*innen. Gibt es ein Radio, eine Stereo-Anlage, eine Küche, in der häufig richtig gekocht wird? Gibt es Werkzeuge für kreatives Arbeiten? Wie reden die Menschen im Haus miteinander? Wie häufig fallen Kraftausdrücke? Gibt es Gardinen, Vorhänge, Jalousien an den Fenstern? Sind die Fenster und Türen geschmückt? mit blühenden Pflanzen, Skulpturen, Basteleien von Kindern, Kerzenständern, religiösen Symbolen, Jahreszeitenkränzen? Liegt eine lebendige Katze auf dem Fensterbrett?
Aber treten wir doch hinaus. Wird das Grundstück von einer hohen Mauer begrenzt oder von einem Mäuerchen, das nur die Grenze betont oder hat es einen windschiefen Holzzaun, durch welchen sich Stockrosen wiegen oder hat sich jemand einen schmiedeeisernen Zaun geleistet?
Und wenn wir unser Haus verlassen haben, was finden wir für andere Gebäude in der Straße, im Viertel, wie zeugt die Straße als Gesamtes von Kultur? Mit ihren verwendeten Materialien, ihrem „Begleitgrün“
Hier befinden wir uns in einem mitteldeutschen Dorf. Einerseits ist es müßig, hier Stellen zu erhoffen, die über die Kultur privater Selbstverwirklichung hinausgehen. Nach so etwas wie einem Café, einem Buchladen, ja, überhaupt nach Läden zu suchen. Andererseits gibt es, nur etwa zweihundertfünfzig Meter von hier, wo wir gerade stehen, in Richtung Anger, ein Museum. Oder soll ich sagen „… gab es ein Museum.“? Es wirkt seit ein paar Jahren brachliegend. Leer. Dunkel. Nie sieht man jemanden ein- oder ausgehen, die Fenster sind ungeputzt, das Gebäude, eine ehemalige Mühle mit weitestgehend erhalten gebliebenem Mahlwerk, vielleicht hundert bist hundertdreißig Jahre alt, schaut traurig auf die Straße. Was immer dem Ideengeber für dieses Museum vorschwebte, nach etwa zwanzig Jahren des Betriebs hat es seinen Zauber vorerst verloren und lockt gerade niemanden, sich für seinen Erhalt einzusetzen. Nun kommt die Frage auf, womit das Museum eigentlich gefüllt sein wollte, welche Geschichten es uns hätte erzählen können. Da ist zum einen die relativ unverfälschte Anschaulichkeit der Mühle als Einrichtung der Nahrungsmittelindustrie besagter Zeit, also um etwa 1900. Im Übrigen hat man die drei oder vier Etagen mehr oder weniger vollgestellt mit Vitrinen und Dingen, die nahezu überall zu finden sind, wo „Heimatmuseum“ angeschlagen steht. Utensilien, die aus den Höfen des Ortes und der Nachbardörfer zusammengetragen wurden. Hauswirtschaftlicher Kram. Bauernhofzubehör. Einige naturkundliche Sammelstücke aus Wald und Flur. Ein paar Gegenstände aus der Mühlenpraxis. Es haut uns nicht um. Doch wer das oberste Stockwerk erreicht, wird vielleicht überrascht. Dort sind vor sich hin alternde Theaterkostüme präsentiert, die offenbar irgendeinen Bezug zum Mittelalter bezeugen sollen, was aber nicht näher erklärt wird. Schon als nur gering Ortskundiger weiß man natürlich, dass ein kleines Grüppchen der Dorfbewohner mächtig stolz auf sein Dorf als unbewiesenen Geburtsort einer nicht unbedeutenden intellektuellen Gestalt des 12./ 13. Jahrhunderts ist. Ja, da haben wir doch wirklich eine Spur echter Hochkultur entdeckt, denn die Denk- und Schreibleistung besagten Mannes aus dem Hochmittelalter, der vielleicht aus unserem Dorf stammte, vielleicht Kindheitsjahre hier verlebt hat, dann aber wahrscheinlich Erziehung und Bildung in einem der seinerzeit nicht wenigen Klöster im Umkreis weniger Tageswanderungen genoss, ist heute noch im täglichen Gebrauch – zum einen bei Gericht und zum anderen im mehr oder weniger unbewussten Geschnattere von uns allen. Wer hat einen Streit um den ersten Platz nicht schon mal versucht mit folgendem Satz beizulegen: “Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“? Zumindest kennt den Satz fast jede*r. Es ist schön, eine konkrete Person zu wissen, die vielleicht vor etwa achthundert Jahren über die gleichen Hügel geschritten ist, wie man selbst vor acht Wochen. Aber ebenso spannend finde ich die Vorstellung, dass einer wie Till Eulenspiegel hundert Jahre nach unserem Vielleicht-Dorfbewohner auf seinen Wanderungen durch Europa in unserem Ort Halt gemacht, am Feldrand eine hübsche Magd geschwängert, damit sein anarchistisches Blut unter das Landvolk gebracht, ein paar Becher schales Bier im Dorfkrug getrunken hat und mit seinem unvergleichlichen Mutterwitz ums Zahlen seiner Vater- wie Trinkerschuld gekommen ist.
Entschuldigt, ich lasse euch nun bei eurem Bier sitzen, weil ich weiter muss. Wenn meine ins Kraut schießenden Gedanken zur Alltagskultur euch angeregt haben, so ist es mir eine Freude. Wenn nicht, so kehrt schnurstracks zu euren gewohnten Verrichtungen zurück oder sucht anderswo Ablenkung. Man sieht sich!
.
Wo beginnt Kultur? Ein nicht zu ernst gemeinter essayistischer Schreibversuch.
Also, wo beginnt Kultur? Ich meine bei uns, in unserem Alltag, nicht in der Geschichte. Und ich meine als sichtbares, greifbares Gut.
Du denkst kurz nach und sagst: Zuhause. Ja, aber das meine ich nicht, nicht die häusliche, private, intime Kultur. Klar, zuhause liest man das Dasein oder Fehlen von Kultur – nein, mehr noch ihre Qualität – aus der Existenz von Bücherregalen, von Bildern an der Wand. Verlocken die Regale zum Stöbern? Hängen an den Wänden Originale oder Drucke oder gar diese blöden Hightech-Fälschungen mit echter Farbe, aber ohne Seele?
Der laufende Fernseher kann Bände sprechen von der Kultur der Bewohner*innen. Gibt es ein Radio, eine Stereo-Anlage, eine Küche, in der häufig richtig gekocht wird? Gibt es Werkzeuge für kreatives Arbeiten? Wie reden die Menschen im Haus miteinander? Wie häufig fallen Kraftausdrücke? Gibt es Gardinen, Vorhänge, Jalousien an den Fenstern? Sind die Fenster und Türen geschmückt? mit blühenden Pflanzen, Skulpturen, Basteleien von Kindern, Kerzenständern, religiösen Symbolen, Jahreszeitenkränzen? Liegt eine lebendige Katze auf dem Fensterbrett?
Aber treten wir doch hinaus. Wird das Grundstück von einer hohen Mauer begrenzt oder von einem Mäuerchen, das nur die Grenze betont oder hat es einen windschiefen Holzzaun, durch welchen sich Stockrosen wiegen oder hat sich jemand einen schmiedeeisernen Zaun geleistet?
Und wenn wir unser Haus verlassen haben, was finden wir für andere Gebäude in der Straße, im Viertel, wie zeugt die Straße als Gesamtes von Kultur? Mit ihren verwendeten Materialien, ihrem „Begleitgrün“
Hier befinden wir uns in einem mitteldeutschen Dorf. Einerseits ist es müßig, hier Stellen zu erhoffen, die über die Kultur privater Selbstverwirklichung hinausgehen. Nach so etwas wie einem Café, einem Buchladen, ja, überhaupt nach Läden zu suchen. Andererseits gibt es, nur etwa zweihundertfünfzig Meter von hier, wo wir gerade stehen, in Richtung Anger, ein Museum. Oder soll ich sagen „… gab es ein Museum.“? Es wirkt seit ein paar Jahren brachliegend. Leer. Dunkel. Nie sieht man jemanden ein- oder ausgehen, die Fenster sind ungeputzt, das Gebäude, eine ehemalige Mühle mit weitestgehend erhalten gebliebenem Mahlwerk, vielleicht hundert bist hundertdreißig Jahre alt, schaut traurig auf die Straße. Was immer dem Ideengeber für dieses Museum vorschwebte, nach etwa zwanzig Jahren des Betriebs hat es seinen Zauber vorerst verloren und lockt gerade niemanden, sich für seinen Erhalt einzusetzen. Nun kommt die Frage auf, womit das Museum eigentlich gefüllt sein wollte, welche Geschichten es uns hätte erzählen können. Da ist zum einen die relativ unverfälschte Anschaulichkeit der Mühle als Einrichtung der Nahrungsmittelindustrie besagter Zeit, also um etwa 1900. Im Übrigen hat man die drei oder vier Etagen mehr oder weniger vollgestellt mit Vitrinen und Dingen, die nahezu überall zu finden sind, wo „Heimatmuseum“ angeschlagen steht. Utensilien, die aus den Höfen des Ortes und der Nachbardörfer zusammengetragen wurden. Hauswirtschaftlicher Kram. Bauernhofzubehör. Einige naturkundliche Sammelstücke aus Wald und Flur. Ein paar Gegenstände aus der Mühlenpraxis. Es haut uns nicht um. Doch wer das oberste Stockwerk erreicht, wird vielleicht überrascht. Dort sind vor sich hin alternde Theaterkostüme präsentiert, die offenbar irgendeinen Bezug zum Mittelalter bezeugen sollen, was aber nicht näher erklärt wird. Schon als nur gering Ortskundiger weiß man natürlich, dass ein kleines Grüppchen der Dorfbewohner mächtig stolz auf sein Dorf als unbewiesenen Geburtsort einer nicht unbedeutenden intellektuellen Gestalt des 12./ 13. Jahrhunderts ist. Ja, da haben wir doch wirklich eine Spur echter Hochkultur entdeckt, denn die Denk- und Schreibleistung besagten Mannes aus dem Hochmittelalter, der vielleicht aus unserem Dorf stammte, vielleicht Kindheitsjahre hier verlebt hat, dann aber wahrscheinlich Erziehung und Bildung in einem der seinerzeit nicht wenigen Klöster im Umkreis weniger Tageswanderungen genoss, ist heute noch im täglichen Gebrauch – zum einen bei Gericht und zum anderen im mehr oder weniger unbewussten Geschnattere von uns allen. Wer hat einen Streit um den ersten Platz nicht schon mal versucht mit folgendem Satz beizulegen: “Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“? Zumindest kennt den Satz fast jede*r. Es ist schön, eine konkrete Person zu wissen, die vielleicht vor etwa achthundert Jahren über die gleichen Hügel geschritten ist, wie man selbst vor acht Wochen. Aber ebenso spannend finde ich die Vorstellung, dass einer wie Till Eulenspiegel hundert Jahre nach unserem Vielleicht-Dorfbewohner auf seinen Wanderungen durch Europa in unserem Ort Halt gemacht, am Feldrand eine hübsche Magd geschwängert, damit sein anarchistisches Blut unter das Landvolk gebracht, ein paar Becher schales Bier im Dorfkrug getrunken hat und mit seinem unvergleichlichen Mutterwitz ums Zahlen seiner Vater- wie Trinkerschuld gekommen ist.
Entschuldigt, ich lasse euch nun bei eurem Bier sitzen, weil ich weiter muss. Wenn meine ins Kraut schießenden Gedanken zur Alltagskultur euch angeregt haben, so ist es mir eine Freude. Wenn nicht, so kehrt schnurstracks zu euren gewohnten Verrichtungen zurück oder sucht anderswo Ablenkung. Man sieht sich!
.