Wo komme ich her? Teil 2

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Hilfe, meine Angst hat einen Namen!

Der aufmerksame Leser wird sich jetzt sicher fragen, wie es nach meinem Hauptgewinn weiterging. Ich hatte ja schon angedeutet, dass ich einige private Beziehungen aufgelöst habe, aber bis auf das ist erstmal nichts passiert. Also mit nichts meine ich auch nichts. Jahrelang führte ich ein glückliches Leben mit einem Narzissten und hatte keine Panikattacken oder Zwänge (mehr). Gut, ab und an musste ich die Dinge etwas genauer kontrollieren, aber es war völlig im Rahmen (so fern es eben im Rahmen ist, nicht nur einmal den Herd bei Verlassen der Wohnung zu kontrollieren wenn er schon zwei Tage nicht mehr benutzt wurde).

Dann kam der Punkt, an dem ich auf Berta traf. Sie kam so überraschend in mein Leben wie der Brief vom Finanzamt, der eines Tages im Briefkasten liegt mit einer irrsinnig hohen Geldforderung. Und im ersten Moment lacht man weil man denkt: „Das Finanzamt will 40.000€ von mir aber ich habe doch gar keine 40.000€“. Man lacht solange bis man merkt, dass das Finanzamt keine spaßigen Briefe schickt und der Inhalt des Briefes nichts als die blanke Realität ist. Gut vielleicht war das erste Zusammentreffen mit Berta und mir weniger dramatisch, aber nicht weniger unvergesslich wie der besagte Brief.

Ich glaube es war an einem verregneten Tag in der U-Bahn. Ich saß da und fuhr nach Hause Sie setzte sich neben mich und erst erkannte ich sie nicht wieder. Immerhin hatten wir uns zu dem Zeitpunkt seit acht Jahren nicht mehr gesehen. Sie schaute mich genauso überrascht an wie ich sie und ich glaube für einen Moment dachten wir beide, dass wir träumen. Aber seit dem Tag ist sie wieder da und wir gehen gemeinsam durchs Leben. Wenn ich zum Sport gehe, gehen wir zusammen. Wenn ich zur Arbeit gehe, kommt sie mit, wenn ich mich mit Freunden treffe ist sie mit dabei, ja selbst auf der Toilette begleitet sie mich: Berta ist meine Angst. Ich nehme die brennendste Frage direkt vorweg: Ja ich weiß, dass ich verrückt bin.

Im Rahmen meiner ersten Therapie habe ich meiner Angst ein Gesicht und einen Namen gegeben. Tut mir leid an alle Bertas, die das gerade lesen oder vielleicht kennen Sie ja eine Berta. Eventuell war sogar Ihre Großmutter eine Berta. Eine nette ältere Dame, die Socken strickt, sich wahnsinnig über den Besuch der Enkel freut und einfach ein netter Mensch ist. Ja gut, dann ist Ihre Berta so. Meine Berta ist das auch: Sie ist warmherzig, gutmütig und auch sie freut sich über die Verbindung, die wir zwei mittlerweile haben. Nur dass sie eben meine Angst ist. Warum es ausgerechnet Berta wurde kann ich nicht sagen. Sie ist in ihren 40ern, hat rote Haare, aber nicht so normale Haare, sondern Dreads. Gott, wahrscheinlich hasst mich jetzt die Dread Community und bevor hier Rache geplant wird: Ich habe wirklich nichts gegen Menschen mit Dreads und ich weiß wirklich, wann bei Berta der Punkt kam an dem sie sich Dreads gehäkelt hat. Gut ich häkle tatsächlich auch sehr gerne. Meine Freunde können Ihnen berichten von meinen wundervollen Häkeltierchen die ich regelmäßig verschenke. Die eine häkelt Tierchen die andere ihre Haare, so macht jeder in seiner Freizeit was ihm taugt. Ich glaube Berta ist ein wirklich netter Mensch- nein eigentlich weiß ich es. Denn als meine Angst beschützt sie mich vor allem und jedem. Beispiel gefällig? Gut stellen wir uns vor ich will die Wohnung verlassen:

Ist der Herd aus? Also nein, nicht so aus wie er bei Ihnen aus ist. Ich meine, ist der Herd wirklich aus? Berta wir haben seit zwei Tagen nicht mehr gekocht, ja er ist aus. Ich ziehe jetzt meine Schuhe an und gehe aus der Wohnung.

Also gehe ich aus der Wohnung und ich schaffe es noch in den zweiten Stock (ich wohne im vierten). Aber im zweiten Stock fragt Berta mich plötzlich: Ist der Herd aus? Klar hast du ihn seit zwei Tagen nicht benutzt, aber was ist, wenn er seit zwei Tagen dauerhaft an ist? Diese Frage trifft mich so unerwartet wie der Brief des Finanzamtes. Ja, was ist, wenn er wirklich seit zwei Tagen nicht aus war? Gut, better safe than sorry. Das wusste nicht nur ein Gesundheitsminister mit einem extrem guten PR Team sondern auch Berta und ich. Also gehe ich zurück in den vierten Stock, schließe meine Wohnungstür auf und ta da- der Herd ist aus! Dieses mal finde ich es noch etwas witzig. Siehst du Berta, er ist aus. Oh man hast du mir einen Schrecken eingejagt. Aber ja besser wir haben nachgesehen.

Also nach dem Schreck verlasse ich die Wohnung (erneut) und schaffe es dieses mal bis zur U- Bahn. Die ist fünf Minuten zu Fuß unterwegs und was jetzt natürlich wie ein Immobilienmakler klingt, der versucht seine Objekte zu verkaufen, ist wichtig für die Geschichte. An der U- Bahn angekommen fragt mich Berta: Ist der Herd aus? Nein, ich meine hast du richtig geschaut? Du hast dir nur die Herdplatte angeschaut, aber du hast nicht den Backofen kontrolliert.

Nein, denke ich mir noch, dieses mal gebe ich nicht nach. Ja ich habe nur die Platte angeschaut und nicht den Ofen. Ja ich habe dieses ganze Gerät seit zwei Tagen nicht mehr benutzt aber nein, Berta hat Recht. Was ist, wenn der Ofen an ist? Diese Drehknöpfe sind aber auch sehr schnell veränderbar. Damals beim Kauf dachte ich schon, dass ich das Gerät besser nicht in dieser Ausführung nehmen sollte. Leider war Berta beim Kauf nicht dabei- Sie müssen wissen, dass sie auch sehr unzuverlässig ist. Gut jetzt habe ich den Ofen mit der Ausführung „Drehknopf grau Erika“ (ach kommen Sie schon, fast alle Möbel- oder Elektrogeräthersteller nennen ihre Ware nach ihrer Schwiegermutter), in zwei Minuten kommt die U-Bahn und ich muss zur Arbeit- und ich habe eine Panikattacke! Wunderbar also was tun? In die U- Bahn einsteigen und glauben, dass ich das ganze Elektrogerät zum Erhitzen von Speisen seit zwei Tagen nicht benutzt habe? Ich bin zwar verrückt, aber nicht lebensmüde! Also nehme ich den Weg nach Hause (fünf wundervolle Maklerminuten), haste in den vierten Stock, schließe meine Tür auf, stelle fest, dass nicht nur die Herdplatte sondern auch der Backofen aus ist, haste wieder zurück zur U-Bahn (wir erinnern uns) und erwische die nächste U-Bahn „pünktlich“. Auf der Fahrt bin ich zufrieden, denn Berta hat mich vor einer großen Katastrophe bewahrt. Was wäre auch passiert, wenn meine Wohnung abgebrannt wäre? Obwohl der Herd und der Backofen zwei Tage nicht benutzt worden sind. Dafür wäre die Hausratversicherung nicht aufgekommen. Better safe than sorry.

Dieses Gefühl hält ungefähr 30 Minuten an, bis Berta mir die nächste Frage stellt. Ich erspare Ihnen weitere Beispiele, und glauben Sie mir das war noch das harmloseste. Manchmal heule ich, muss Termine absagen, habe Atemnot, Herzrasen und kann mich stundenlang nicht beruhigen. Et voila- das ist Berta.

Um Frau Sauer vorzustellen, muss ich tief in meiner Erinnerung kramen. Wir sehen uns nicht allzu oft müssen Sie wissen. Sie ist wie die eine Tante, also die Schwester Ihres Vaters die irgendwo in Bremen lebt, nein eigentlich nicht direkt in Bremen aber in der Nähe von Bremen- sagt zumindest Ihr Vater. Denn man selbst hat die angebliche Tante seit Jahren nicht mehr gesehen oder gehört und hofft einfach auf diese eine Zufallskarte im Leben: Ihre Tante ist verstorben und vermacht Ihnen 100.00€. Gehen Sie über Los und ziehen Sie das Geld ein. Frau Sauer hat keinen Vornamen- zumindest ist er mir nicht bekannt- und trägt einen dunkelbraunen Bob der Kinn lang ist. Ihre Lesebrille hat sie an einer Perlenkette, das ständige auf und ab ziehen wird dadurch immens erleichtert. Sie ist in ihren 50ern, eine kleine Dame, etwas korpulent, aber eine nette Frau. Sie ist das, was man in der Gehirnforschung als Präfrontaler Cortex benannt hat. Eine organsierte, durchgeplante Dame, die komplexe Aufgaben löst und stets ihre To Do Liste im Blick hat wobei sie natürlich flexibel auf Veränderung reagiert und immer richtig ihre Prioritäten setzt.

Ach wird sich der ein oder andere jetzt denken: Frau Sauer klingt wie die perfekte Vorzimmer Dame. Hier ist der Tee Herr Dr. Eisenblüher, nein Ihre Frau hat noch nicht angerufen und ja ich habe bereits den 15 Uhr Termin heute verschoben.

Genug von 60er Jahre Rollenklischees. Frau Sauer ist natürlich eine moderne emanzipierte Frau, die am achten März den Weltfrauentag feiert. Oder wie man in Berlin sagt: Feministischer Kampftag. Apropos Berlin- bei mir hat Frau Sauer einen Beamten Status. Was das mit der Hauptstadt zu tun hat? Ich würde mal denken in dieser Stadt wird Politik gemacht- sagen zumindest die Medien und was dort steht muss einfach stimmen- und Politiker sind Beamte. So oft wie die Gute nicht erreichbar ist (weder telefonisch, per Mail ganz zu schweigen, vielleicht am ehesten noch, wenn man ein Fax sendet) muss sie Politikerin sein. Wenn sie sich aber mal meldet, sorgt sie umgehend für Ruhe und Ordnung, egal in welcher Situation, aber immer tut sie es sanft. Ich meine sie lebt in meinem Kopf, hinter der Stirn, um genau zu sein, da ist sie fast gezwungen nett zu agieren. Gut, obwohl Politiker auch gezwungen wären Politik im Sinne der Bürger zu machen- ach naja ich schweife wieder ab.

Das ist Frau Sauer und beide- also Berta und sie- leben zusammen in meinem Gehirn und begleiten mich im Alltag. Berta lebt auch in meinem Kopf aber eher in der Mitte im Bereich der Amygdala. Merken Sie sich diesen Fachbegriff er könnte eines Tages bei „Wer wird Millionär“ in der eine Million Euro Frage Ihnen zum Hauptgewinn ihres Lebens verhelfen. Während Frau Sauer in einer aufgeräumten drei Zimmer Wohnung mit Balkon lebt, in einem sehr gepflegten Mietshaus (an der Stelle muss ich unbedingt meinen Lieblingswitz erzählen: Wo leben Katzen? Im Miezhaus). Lebt Berta in einer kleinen Ein-Zimmer Wohnung die wenig aufgeräumt ist, denn Berta hat ja auch keine Zeit zum Aufräumen, sie hat ja schließlich schon Angst.

Jetzt denken Sie bestimmt: Gut Berta ist Angst und Frau Sauer ist die Rationale. Warum kommt Frau Sauer nicht wenn Berta da ist oder warum verbietet Frau Sauer nicht gänzlich Berta überhaupt Lärm zu machen? Die Antwort ist mehr als einfach, aber durchaus erforscht: Sie können nicht gleichzeitig da sein. Evolutionär ist es uns nicht möglich rational zu denken und gleichzeitig Angst zu haben. Das ist natürlich äußerst schade für die beiden Frauen, die sich entsprechend der Gehirnforschung, noch nie kennen gelernt haben, sich aber bestimmt einiges zu erzählen hätten. Im Alltag macht das aber durchaus Sinn: Wie würde ich sonst überleben wenn eines Tages ein Tiger vor mir steht der mich fressen will und Frau Sauer (die ja sehr schwer zu erreichen ist) erstmal überlegen müsste was wir jetzt tun. Da brauche ich schon eine Berta die sofort den Fluchtmodus aktiviert. Das Problem an der Sache ist nur, dass freilaufende Tiger in München eher selten sind- hat unter anderem auch etwas mit den strengen EU-Richtlinien für exotische Tiere zu tun- und die wirklichen Gefahren für die man Berta braucht eigentlich im Alltag nicht existieren. Das hört Berta nicht gerne, den niemand möchte in seinem Job nicht gebraucht werden. Ihre Aufgabe ist es ja mich zu beschützen. Da ich aber im Survival-Game einige Levels meistern musste und zum Beispiel einige Gewalterfahrungen habe, macht es durchaus Sinn, dass Berta mich so wahnsinnig beschützt. Für Berta ist alles eine Gefahr- auch wenn es aus Sicht von Frau Sauer erstmal nur ein Aktenzeichen mit Stempel ist.
 
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Ubertas

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Hallo @Mrs. Sorgenvoll ,
deine Geschichte habe ich gerne gelesen!
Könnte sein, dass der Text mächtig polarisiert.
Aber darum geht es mir nicht.
Die Berta und Frau Sauer gibt es tatsächlich.
Und jedes Jahr einen Weltfrauentag, der hoffentlich irgendwann nützt!
Lieben Gruß ubertas
 
Hallo liebe @Ubertas,
danke für deinen Kommentar! Berta und Frau Fischer sind Teil einer ganzen Geschichte und das hier ist erst das zweite Kapitel :) Es geht weniger um den Weltfrauentag als um mich und meine große Angst...
Liebe Grüße
Mrs. Sorgenvoll
 

Ubertas

Mitglied
Liebe Mrs Sorgenvoll,
ich finde es toll, wie detailliert du in deiner Geschichte aufzeigst, wie es sich anfühlt unter irrationalen Ängsten zu leiden. Meine Anspielung auf den Weltfrauentag bezieht sich auf die Stelle im Text. Stark, mutig zu sein. Der Weltfrauentag hat ja eine lange und sich verändernde Geschichte. Worauf ich eigentlich hinauswollte: Hinausgehen zu können, sich nicht selbst zu unterdrücken oder unterdrücken zu lassen. Das verhindern diese Ängste tagtäglich mit Garantie. Vielleicht hilft es, ihnen mit der Einstellung zu begegnen:
Ich bin gut. So wie ich bin. Nur weil ich in der U-Bahn oder im Meeting Schnappatmung bekomme, bin ich nicht schlechter als der Rest. Nur Beispiele..generalisierte Angst ist allumfassend und kennt jeden Trick, um uns klein zu halten. Woher die Tricks stammen? Meistens aus der Kindheit. Natürlich nicht nur, Auslöser dafür gibt es viele. Interessanterweise wirkt man selbst nach außen auf andere oft ruhig und ausgeglichen, obwohl man innerlich mit sich selbst den schlimmsten Kampf austrägt. Nichts oder nur wenig bekommt das Umfeld davon mit, besonders wenn man schon Jahrzehnte leidet, wird man Meister der Tarnung. Daher ist es gut möglich, dass die Menschen, die man selbst als sehr selbstbewusst erlebt, genauso betroffen sind.
Es ist niemand Schuld an seinen Ängsten und auch nicht weniger wert, nur weil er durch sie nicht so kann, so 'funktioniert' Aber die ich bin nicht gut genug Stimme trichtert es einem ein.
Ihr kann man nur eines antworten trotz Misserfolgen und Scheitern:
Ich bin gut genug! DIe Härte, mit der ich mir begegne, wurde von außen in mich hineingetragen. Ich versuche sie abzulegen, weil ich es wert bin, mich selbst zu lieben, so wie ich bin.
Das waren jetzt viele Worte und sie wirken nicht jeden Tag. Aber wenn sie wenigstens ein paar Stunden wirken, wird es der Seele leichter:)
Liebe Grüße und danke für deine Geschichte, die sich dem Thema Angst mutig widmet!
ubertas
 
Liebe @Ubertas,
danke für deine treffenden Worte. Im nächsten Kapitel untersuche ich genau dieses Phänomen: Dass Zwangskranke auf ihre Umwelt so viel gelassener und ruhiger wirken als sie es in Wahrheit wirklich sind. Deshalb bin ich auch voll und ganz bei dir: Niemals zu hart mit sich selbst zu sein, wobei das auch der schwierigste Teil im Alltag ist.
Viele Grüße Mrs. Sorgenvoll
 



 
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