Wolfgang, der Facebook-Mann

GerRey

Mitglied
(Aus einem Brief an Sonja vom 19.06.2021)

Weil Du gewisse “Gepflogenheiten” von Männer auf facebook ansprichst, fällt mir da ein Bursche ein, den ich auf einer Weihnachtsfeier kennenlernte. Da diese Weihnachtsfeier rasch mit einer anderen Abteilung improvisiert worden war, gab es in dem Gasthaus, in dem wir feiern wollten, nur mäßig Platz, und so bekam ich anfangs einen solchen erst an dem Tisch, an dem der Betriebsrat und sein Stellvertreter saßen (dem eigentlichen Stammtisch des Lokals, das nahe dem Prater lag, in einer schummrigen Gegend, wo früher die Damen des Horizontalgewerbes patroullierten). Da ich Wochen zuvor eine heftige Auseinandersetzung mit dem Stellvertreter gehabt hatte, die bereits bedrohlich nahe zu Handgreiflichkeiten ausgeartet war, war mir das, wie Du Dir sicher vorstellen kannst, überhaupt nicht recht.

Ich setzte mich widerwillig, den beiden Betriebsräten, die sich miteinander unterhielten, abgewandt. Und da mich sogleich die Kellnerin in Beschlag nahm, um meine Wünsche zu eruieren, welche sich selbstverständlich lediglich auf das Einstiegsgetränk und das Essen bezogen, bemerkte ich nicht gleich, dass an dem Tisch noch jemand saß, der, wie es schien, ebenfalls keinen anderen Platz mehr bekommen hatte.

“Karin”, sprach der Mann, der in den 40ern sein mochte und einen dunklen Vollbart hatte, die Kellnerin an, die meine Bestellung bereits aufgenommen hatte und ihren Anflug schon in Richtung Schank abdrehen wollte, und nun doch noch einmal scharf abbremste, um sich diesem Gast, mit dem sie bereits bekannt zu sein schien, zuzuwenden.

“Ich höre jetzt mit dem Bier auf”, sagte der Vollbärtige, “und fange mit dem Schnaps an.”

Die Kellnerin nickte, schnappte nach seinem leeren Bierglas und rannte davon.

Ich war verwundert, weil diese Maßnahme im ungeschriebenen Drehbuch für Weihnachtsfeiern erst später vorgesehen war.

“Müssen wir den Schnaps nicht selber zahlen?” fragte ich den Mann, mit einem Seitenblick auf den Betriebsrat, der dieses eherne Gesetz ausgegeben hatte, weil er die Zeche für diese Feier bezahlen würde (es war übrigens die letzte Weihnachtsfeier für ihn; im Frühjahr drauf war er auf Urlaub in der Steiermark und kehrte von einer Wandertour nicht zurück - wobei eine Suche ergebnislos blieb, sodass man ihn erst Tage später tot aus einer Schlucht bergen konnte, in die er auf der Wanderung abgestürzt war).

“Ich gehöre nicht zu euch”, sagte der Mann. “Ich bin hier Stammgast, und komme jeden Freitag hierher, um 5 Bier und 5 Schnäpse zu trinken - nicht mehr und nicht weniger. Und das ist mit dem Wirt so verabredet, der den Auftrag hat, mich andernfalls rauszuschmeißen. das mache ich schon so, seit ich vor zwei Jahren hierher gezogen bin.”

“Interessant”, sagte ich, und machte mich mit ihm bekannt. Er hieß Wölfgang, und wohnte im zweiten Stock des Hauses, in dessen Erdgeschoss sich das Gasthaus befand, in dem wir uns jetzt kennenlernten. Der Schnaps, den er jedesmal in zwei Schlucken hinunter kippte, machte ihn gesprächig. Er war von seiner Frau seit zwei Jahren geschieden, und scheinbar recht froh darüber. Irgendwie kamen wir dann auf das Internet und auf Facebook zu sprechen.

“Soll ich dir was zeigen?” fing er an, mich neugierig zu machen, und kramte sein Handy hervor. Nachdem er einige Bilder aus dem Handyspeicher geöffnet hatte, hielt er mir das Gerät unter die Nase und forderte mich auf, die Bilder anzusehen. Ich staunte nicht schlecht, als ich Fotos von jeweils vier oder fünf Damen mit ihm zu sehen bekam - allesamt nackt und in eindeutig sexuellen Posen, wobei mir eine Rothaarige, die stark tätowiert war, ins Auge stach.

“Ich kann auf meine Ex, die ständig unzufrieden war, verzichten”, meinte er. “Heute habe ich jede zweite Woche eine andere”.

“Und wo bekommst du all die Weiber her?” fragte ich neugierig.

“Aus dem Facebook. Ich suche mir die heraus, die in ihrem Profil single angegeben haben und schreibe sie über Messenger an …”

“Und das funktioniert?” entgegnete ich ungläubig.

“Siehst du ja!”
 
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Aufschreiber

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Kann ich mir lebhaft vorstellen. Nachdem sich meine erste Frau von mir getrennt hatte, habe ich mich auf Singlebörsen wie "Finya" herumgetrieben und in den etwa 2 Jahren (bis mich meine zweite Frau fand ;o) ) ca. 50 Frauen kennengelernt. Warum soll das auf Facebook anders sein?
 

GerRey

Mitglied
Sicher ... Ich schreibe gerne Briefe, was mir hilft, Erinnerungen aus dem Unterbewusstsein loszueisen. Diese Begegnung gehört dazu. Jetzt (die Szene spielte sich vor drei Jahren ab) finde ich es schade, nicht mehr Zeit mit diesem Kerl verbracht zu haben. Er war (hoffentlich ist er noch!) etwas Besonderes. Und wo ich herkomme, kenne ich keinen, der nach 5 Bier und 5 Schnäpsen aufsteht und geht - und das jede Woche. Außerdem hätte ich gerne gewusst, was er den Frauen schreibt ...
 



 
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