Olaf Euler
Mitglied
Dies ist die Fortsetzung von TEIL 2.
3
Edith Wolf war mit ihren 72 Jahren durch so viele Höhen und Tiefen in ihrem Leben gegangen, dass sie diese nervenaufreibenden Umstände, in denen sie aktuell steckte, ebenfalls bewältigen konnte. Knapp über 3 Jahre war es nun her, dass ihr Mann plötzlich an einem Herzinfarkt in ihrem gemeinsamen Bett verstarb und sie kurz darauf zu ihrer Tochter Emma und ihrer Familie nach London gezogen war. Nach einer längeren Phase der Trauer stabilisierte sie sich so weit, dass das neue Leben in der Metropole und die andere Kultur ihr zu einer neuen Heimat wurden und für sie nicht mehr nur eine Flucht vor dem plötzlichen Schicksalsschlag war. Sie zog in eine Wohnung in der Nachbarschaft ihrer Familie und genoss, dass sie das Aufwachsen ihrer Enkel viel besser mitbekam als in der Zeit in Hannover. Sie fand neue Freundinnen in einer kleinen anglikanischen Gemeinde in ihrem Wohnviertel und engagierte sich in einem Nachhilfe-Angebot für sozial benachteiligte Kinder.
Zu Beginn des Jahres ging sie dann den Verkauf des Elternhauses ihres verstorbenen Mannes an, indem sie fast 15 Jahre gemeinsam gelebt hatten. Sie war die einzige Erbin, doch ein alter Geschäftspartner der Kanzlei ihres Mannes erklärte sich bereit, alle Angelegenheiten vor Ort für den Verkauf des Hauses zu organisieren. Nachdem sich einige Monate nichts getan hatte, fand sich Anfang Dezember ein Interessent, der den Kauf aber noch in diesem Jahr abwickeln wollte.
So kam es, dass Edith vor einigen Tagen zurück in ihre alte Heimat kam, die anstehenden Termine beim Notar wahrnahm und nun am Morgen des Heiligabends das erste Mal seit langer Zeit das Haus betrat. Sie war diesem Augenblick möglichst lang aus dem Weg gegangen und hatte sich die letzten Tage bei einer alten Freundin einquartiert. Sie wollte nun die wenigen Habseligkeiten zusammensuchen, die sie mit in ihr neues Leben nehmen wollte. Viel würde es nicht sein, nahm sie sich vor und hatte den Kollegen ihres Mannes gebeten, die 3-4 Kisten bei der Räumung des Hauses nach den Weihnachtstagen per Spedition nach London aufzugeben.
Sie betrat den Hausflur und stellte ihren Rollkoffer am Eingang ab. Die Erinnerungen an ihr altes Leben brachen über sie ein. Ihr blieben nur wenige Stunden bis zu ihrer Abreise und sie bereute bei einem Gang durch die Zimmer, dass sie sich doch nicht mehr Zeit für diesen wichtigen Schritt der Verabschiedung genommen hatte. Mit Tränen in den Augen begann sie im Erdgeschoss auszuwählen, was sie auf jeden Fall noch behalten wollte. In der Küche konnte sie ihrem Anspruch noch gerecht werden. Sie räumte nur einige Bilder und einen Kaffeebecher in die erste Kiste. Im Wohnzimmer fiel es ihr schon schwerer, denn in so vielen Gegenständen lebten Geschichten auf, dass sie diese nicht in Eile einfach aufgeben wollte. Sie beschränkte sich auf 2 Kisten. Doch im Obergeschoss gab sie ihren Vorsatz vollends auf. Die Bücher in ihrem Arbeitszimmer, die sie zum Teil seit dem Studium begleitet hatten, mussten einfach mit. Auch die Bilder aus dem Zimmer ihrer Tochter konnte sie nicht einfach zurücklassen. Der Schmuck sowie die edlen Krawatten und Manschettenknöpfe ihres Mannes, die in einer alten Kommode im Schlafzimmer verstaut waren, wollte sie doch nicht weggeben. So füllten sich die Kisten, von denen sie zum Glück genügend aufbewahrt hatte. Mit dem Weg in den Keller durchlebte sie eine weitere Zeitreise bis in ihre frühe Kindheit und auch in die Familiengeschichte ihres Mannes. Wie naiv war sie, zu glauben, dies alles nun einfach hinter sich lassen zu können. Sie zählte zwar nicht die Kisten, doch sie wusste, dass sie nun ein kleines Vermögen an Erinnerungen und Wertgegenständen mit in ihre kleine Wohnung nach London nehmen wollte.
Als sie die erste Kiste aus dem Keller nach oben tragen wollte, schaute sie auf ihre Armbanduhr und erschrak. Es war bereits 20.15 Uhr, in nicht mal zwei Stunden fuhr der Nachtzug los, der sie nach Düsseldorf zum Flughafen bringen würde. Eigentlich wollte sie sich vorher noch ausgeruht haben, da sie im Schlafabteil sicherlich kein Auge zu bekommen würde. Sie verließ kurz das Haus, um an der nächstgelegenen Telefonzelle ein Taxi zu bestellen. Als sie das Haus verließ, schoss gerade eins in der angrenzenden Straße vorbei. Zu schnell, dass sie ihm winken konnte. Nachdem sie von ihrem Spaziergang wieder zurückgekommen war, wendete sie sich erneut den Kisten zu. Sie bemerkte aber schnell, dass dies ihre Kräfte überstieg. Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie war doch sonst immer so stark und hatte für jedes Problem eine Lösung gefunden. Sie überlegte, wen sie außer dem Geschäftspartner ihres Mannes um Hilfe bitten konnte. Aber selbst wenn ihr jemand eingefallen wäre, am Heiligabend wollte sie niemanden stören. Es musste anders gehen und sie versuchte erneut, die erste Kiste die Treppe hochzuhieven. Mühsam setzte sie diese von einer Treppenstufe auf die nächste und war erleichtert, als sie den Flur erreichte.
Sie wollte sich gerade der nächsten Kiste zuwenden, als es klingelte. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als auf den Taxifahrer und seine Hilfsbereitschaft zu hoffen. Verlegen, aber auch etwas erleichtert, öffnete sie ihm die Tür und deutete ihm an, einzutreten. „Guten Abend. Sie sind der Taxifahrer nehme ich an. Ich habe eine seltsame Bitte an Sie. Könnten Sie mir noch helfen, einige Kartons aus dem Keller und der oberen Etage hier in den Flur zu tragen? Sie werden kommende Woche von einem Bekannten abgeholt, bevor das Haus leer geräumt wird. Ich weiß, das ist nicht ihr Job. Ich habe es aber nicht geschafft und werde Ihnen diesen Aufwand selbstverständlich bezahlen.“
Der Mann schaute sich im Flur um und rümpfte die Nase. Sie rechnete bereits mit einer Abfuhr, vielleicht hatte sie sich zu herablassend geäußert. „Wie viele Kisten sind es denn?“, erkundigte er sich und steuerte die Kellertreppe an.
Voller Erleichterung beteuerte Edith: „Ich bin Ihnen wirklich von Herzen dankbar! Es werden um die 10 Kisten sein. Ich konnte so kurzfristig niemand anderes beauftragen, zumal es ja Heiligabend ist. Ich hoffe, es wird nur einige Minuten dauern. Ich muss ja auch in einer Stunde den Nachtzug nach Düsseldorf bekommen, da von dort morgen früh mein Flieger geht. Ich lebe mittlerweile bei meiner Tochter in London.“
Während sie sprach, dachte sie, wie ungeschickt es war, ihren Helfer jetzt auch noch mit ihren Reiseplänen unter Druck zu setzen. Der Mann schnappte sich aber bereits die erste Kiste und erwiderte: „Das passt schon. Weihnachten ist schließlich das Fest der Familie. Das soll an so ein paar Kisten nicht scheitern.“
Mit Leichtigkeit trug er die restlichen Kisten aus dem Keller nach oben und sie begleitete ihn dankbar ins Obergeschoss. Da sie sich nicht weiter nützlich machen konnte, erklärte sie ihm, welche kostbaren Erinnerungen sie mit jeder einzelnen Kiste verband, um ihm den Wert seiner Hilfsbereitschaft zu verdeutlichen. Er hörte aufmerksam zu und nickte gelegentlich einfühlsam.
Als er fertig war, fragte er: „Nun habe ich auch noch eine ungewöhnliche Bitte. Dürfte ich noch kurz Ihr WC nutzen?“
Edith überkam ein beschämtes Lächeln. Das war ja wohl das Mindeste, hatte sie ihm nicht einmal etwas zu trinken anbieten können. „Aber selbstverständlich“, erwiderte sie und zeigte ihm das Gäste-WC.
Während er auf Toilette war, überlegte sie angestrengt, was sie ihm außer ein paar Scheinen Gutes tun könnte. Ihr kam gerade ein Einfall und sie kramte nochmals in einer Kiste, als es auf einmal erneut klingelte.
Verwundert eilte sie zur Haustür und empfing zwei Polizeibeamte. Der eine reagierte auf ihren irritierten Blick: „Guten Abend, ich bin Polizeiobermeister Breuer und das ist mein Kollege Polizeimeister Kuhn. Wir sind hier, weil uns Auffälligkeiten zu dieser Adresse gemeldet worden sind. Wohnen Sie hier und können Sie sich ausweisen?“
Überrumpelt von diesem Besuch stotterte sie: „Guten Abend. Mein Name ist Edith Wolf. Ich wohne hier. Oder vielmehr habe ich hier gewohnt. Warten Sie“, sie holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und reichte dem Beamten ihren Ausweis.
Der setzte seine Befragung fort: „Gehört das Taxi zu Ihnen?“
In Ediths Kopf rang es nach Erklärungen, von welchen Auffälligkeiten der Polizist gesprochen hatte. „Ja, natürlich. Ich meine, ich habe es bestellt. Der Fahrer ist gerade auf der Toilette und soll mich nun zum Bahnhof fahren.“
Herr Breuer schaute nun ebenfalls verwundert: „Zusammen mit diesen vielen Kisten? Warten Sie, bleiben Sie ruhig. Sie haben gleich Gelegenheit, dies meinem Kollegen zu erklären.“
Er hatte wohl bemerkt, dass die WC-Tür geöffnet wurde und schien das Eintreffen des Taxifahrers abzuwarten. Dieser kam zurück in den Flur und fragte: „Was ist denn hier los?“
Edith versuchte aus Unbeholfenheit den Blickkontakt zu vermeiden und beobachtete, wie der Polizeiobermeister ihn eindringlich ansah. „Guten Abend. Das wollen wir von Ihnen wissen. Breuer mein Name, kommen Sie bitte kurz mit vor die Tür.“
Der Taxifahrer folgte kopfschüttelnd Herrn Breuer und der bisher schweigsame Polizeimeister Kuhn wendete sich Edith zu. „Nun erläutern Sie bitte noch einmal von Anfang an, was sie hier heute genau gemacht haben, wenn sie hier nicht mehr wohnen?“
Edith hörte sich ihre Geschichte erzählen und schüttelte innerlich den Kopf darüber, wie seltsam sie auf den Beamten wirken musste. „Also, das ist mein Haus. Ich habe hier bis zum Tod meines Mannes vor drei Jahren gewohnt und bin dann zu meiner Tochter nach London gezogen. Vorgestern habe ich mit dem neuen Eigentümer den Kaufvertrag abgeschlossen und war heute hier, um alle Gegenstände zusammenzupacken, die ich mit nach London nehmen will. Es sind mehr Kisten als erwartet. Beim Packen habe ich völlig die Zeit vergessen und es nicht geschafft, die Kisten selbst in den Flur zu tragen. Dieser freundliche Taxifahrer hat mir dabei geholfen, bevor er mich jetzt zum Bahnhof bringen soll. Von dort aus fährt um 22:12 Uhr mein Nachtzug zum Düsseldorfer Flughafen, von dem aus ich morgen früh zurück nach London fliege.“
Herr Kuhn nahm ihre Ausführungen gelassen auf einem kleinen Block auf und erwiderte dann: „Gut, das werden wir prüfen. Nur zum Verständnis: Sie haben nicht vor, die Kisten heute mit nach London zu nehmen?“
Edith ärgerte sich über diese dumme Rückfrage und ergänzte hastig: „Nein, natürlich nicht. Ein alter Freund meines Mannes, Herr Konstantin Rabe, wird diese am kommenden Montag per Spedition versenden. Ab dem Tag wird auch das Haus leer geräumt, sodass der neue Eigentümer zum Jahreswechsel die Schlüssel erhält. Meinen Schlüssel werde ich bei der Abreise in den Briefkasten werfen.“ Sie überlegte kurz, ob sie noch irgendwas ergänzen musste, um ihre Darstellung plausibler zu machen. Aber ihr fiel nichts mehr ein.
Der Polizeimeister nickte nachdenklich und entschuldigte sich. Edith bekam mit, wie er sich kurz mit seinem Kollegen besprach und dann zum Polizeiwagen ging.
Die Minuten verstrichen, Herr Breuer und der Taxifahrer kamen zwischenzeitlich wieder zurück in den Flur und erwarteten schweigend die Rückkehr von Herrn Kuhn. Edith unternahm einen Versuch, das Prozedere zu beschleunigen. „Mein Zug fährt in einer halben Stunde am Bahnhof los. Den muss ich unbedingt bekommen, wenn ich meinen gebuchten Flug in Düsseldorf erreichen will.“
Herr Breuer versuchte sie zu beruhigen: „Mein Kollege stimmt nur kurz mit der Dienststelle ihre Aussagen ab. Wenn da keine weiteren Ungereimtheiten bestehen, sind wir hier bald fertig.“
Es kam dann aber ganz anders. Als der Polizeimeister zurückkam, stimmte er sich erst im Flüsterton vor der Haustür mit seinem Partner ab. Dabei ließ er die beiden Verdächtigen nicht aus den Augen, die weiterhin schweigend ihren Gedanken nachhingen.
Zurück im Flur ergriff Herr Breuer erneut das Wort: „Wir können Sie leider nicht gehen lassen und müssen Sie bitten, uns aufs Revier zu folgen. Ihre Aussagen stimmen zwar untereinander überein, doch es gibt bei Ihnen beiden offene Fragen, die wir zuerst klären müssen. Das Haus ist eingetragen auf einen Ferdinand Bach und nicht auf eine Edith Wolf. Und Sie, Herr Schleier, sind vorbestraft und es laufen aktuell Verfahren gegen Sie.“
Sowohl Herr Schleier als auch Edith wollten sofort die Missverständnisse klären. Der Polizeiobermeister unterbrach sie jedoch rasch: „Ihre Aussagen nehmen wir auf dem Revier auf. Hier werden wir den Sachverhalt nicht klären können. Kommen Sie bitte mit und Frau Wolf, schließen Sie bitte die Haustür ab und übergeben mir vorläufig den Schlüssel.“
Edith protestierte erneut, da sie sich von diesem harschen Auftreten des Beamten gedemütigt fühlte. Herr Breuer duldete aber keine Widerrede und ließ die beiden auf dem Rücksitz des Streifenwagens Platz nehmen. Während der Fahrt suchte Edith den Blickkontakt zu Herrn Schleier. Dieser schaute aber aus dem Fenster, atmete schwer durch und massierte seine Finger.
Auf dem Polizeirevier wurden sie in getrennte Räume geführt und Edith von einem weiteren Polizeibeamten befragt. Sie wiederholte ihre Geschichte und ergänzte, dass das Haus zwar auf ihren verstorbenen Mann Ferdinand Bach eingetragen war, er dieses aber an sie vererbt hatte. Da sie nach seinem Tod aber kurzfristig zu ihrer Tochter gezogen war, hatte die formale Übertragung des Hauses erst in der vergangenen Woche mit dem Verkauf stattgefunden. „Ich verstehe zwar, dass Ihnen meine Ausführungen absonderlich vorkommen müssen. Ich kann Ihnen aber die Nummer von Herrn Rabe, dem Geschäftspartner meines Mannes, geben. Er hat die notarielle Abwicklung vorbereitet und mich darin unterstützt.“
Der Beamte nahm die Kontaktdaten auf und verließ den Raum. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er wiederkam und sich wortkarg für die Unannehmlichkeiten entschuldigte. „Es ist ja äußerst selten, dass Ehepartner einen anderen Nachnamen führen!“, ließ er in seinen Ausführungen als Rechtfertigung durchblicken und übergab ihr den Haustürschlüssel.
Edith verließ verärgert den Raum und sparte sich die Bemerkung, dass es damals gute Gründe dafür gab. Sie wollte sich noch nach Herrn Schleier erkundigen, sah ihn dann aber am Empfang der Dienststelle auf sie warten.
„Sie haben uns ein Taxi bestellt. Ein Kollege bringt uns gleich zurück zu Ihrem Haus“, empfing er sie in erleichterter Stimmung. „Vermutlich hat es keinen Sinn, sie am Bahnhof abzusetzen, oder?“
Es war mittlerweile 23 Uhr und Edith sah keine Chance mehr, den Flug noch pünktlich zu erreichen. Sie nahm es als göttliche Fügung, da sich für sie nun die Gelegenheit bot, sich von ihrem Haus und der Zeit mit ihrem zweiten Mann zu verabschieden. Mittlerweile gefiel ihr dieser Gedanke sogar, auch wenn sie auf das gemeinsame Weihnachten mit ihrer Familie verzichten musste.
Auf dem Rückweg war nun Herr Schleier auf einmal gesprächig. Er wollte unbedingt klarstellen, dass er kein Verbrecher war. Tatsächlich war er einmal für 3 Monate im Gefängnis, da er die Zahlung von Bußgeldern aufgrund von zivilem Ungehorsam bei den ersten Castortransporten verweigerte. „Das würde ich heute nicht noch einmal machen. Der Preis war für mich und meine Familie einfach zu hoch. Aber viel schlimmer waren meine Tobsuchtsanfälle gegenüber meiner Partnerin. Da läuft gerade auch noch ein Verfahren gegen mich, da ich mich oft nicht unter Kontrolle hatte. Ich habe aber an mir gearbeitet und hoffe, meinen Sohn bald wiederzusehen.“
Edith schluckte, erinnerte sie das an ihre erste Ehe und die Zeit, bevor sie Ferdinand kennengelernt hatte und letztlich mit ihrer Tochter bei ihm eingezogen war. „Auf mich wirken Sie nicht so, als ob Sie sich nicht unter Kontrolle haben. Es muss Sie doch rasend gemacht haben, dass Sie wegen eines solchen Missverständnisses zu Unrecht verdächtigt wurden.“ Sie offenbarte ihm, weshalb die Polizei bezweifelt hatte, dass sie tatsächlich die Eigentümerin des Hauses war.
„Na ja, ganz unschuldig bin ich wohl nicht“, brummte Herr Schleier. „Ich habe heute Abend, kurz bevor ich zu Ihnen gekommen bin, über Funk eine polizeiliche Verfolgungsjagd auf ein Taxi nachgespielt, um einem Jungen mit Funkgerät eine Freude zu bereiten. Der muss ganz in ihrer Nähe wohnen und dann mein Taxi vor Ihrem Haus bemerkt haben. Das war der Grund, warum die Streife überhaupt bei Ihnen aufgeschlagen ist. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie meinetwegen nun nicht mit Ihrer Tochter Weihnachten feiern können.“
Edith konnte sich das Lachen kaum verkneifen, als sie begriff, wie viele absurde Zufälle sich bei ihnen aneinandergereiht hatten. Ein Gefühl der Verbundenheit machte sich in ihr breit, auch wenn sie Herrn Schleier kaum kannte und sich ihre Wege vermutlich nicht noch einmal kreuzen würden.
Die restliche Heimfahrt sprachen sie noch über ihre Familien, nachdem sich Edith nach seinem Sohn erkundigt hatte. Sie bemerkten, dass sie nun beide ohne sie die Weihnachtstage verbringen werden.
Zurück am Porstweg trug Herr Schleier Ediths Koffer zurück in den Flur. Dann blieben sie etwas unbeholfen im Eingang stehen und wussten nicht, wie sie sich voneinander verabschieden sollten. „Herr Schleier. Sie haben mir mit den Kisten sehr geholfen und daher möchte ich wenigstens für ihren Verdienstausfall heute Abend aufkommen. Ist es für Sie in Ordnung, wenn Sie mir Ihre Bankverbindung aufschreiben und ich Ihnen etwas überweise? Ich bin übrigens Edith.“
Der Taxifahrer schien sich über diese Geste besonders zu freuen und blickte sie mit einem verschmitzten Lächeln an. „Ich heiße Wolf, also Wolfgang. Nein, ich möchte kein Geld. Es ist Weihnachten und ich bin froh, dass ich mich heute Abend nicht so allein gefühlt habe. Irgendwie hingen wir ja gemeinsam in diesem Schlamassel. Das ist für mich wertvoller als ein Heiligabend mit lukrativen Taxifahrten.“
Edith entschuldigte sich kurz und eilte nach oben ins Schlafzimmer. Sie kam mit einem schwarzen Mantel wieder und überreichte ihm Wolf. „Dann probier bitte diesen Mantel kurz an. Schon als wir uns begegnet sind, dachte ich mir, dass er dir stehen müsste. Ich hatte ihn meinem Mann zu unserem letzten gemeinsamen Weihnachten geschenkt und es würde mich wirklich freuen, wenn du für ihn noch Verwendung findest.“
Wolf folgte gerührt ihrer Bitte und bedankte sich bei ihr. Dann nahmen sie sich zum Abschied in den Arm. Edith sah ihm hinterher und hoffte, dass er es ihr nicht übelnahm, dass sie einen Goldring ihres Mannes in der Innentasche des Mantels versteckt hatte.
TEIL 4
3
Edith Wolf war mit ihren 72 Jahren durch so viele Höhen und Tiefen in ihrem Leben gegangen, dass sie diese nervenaufreibenden Umstände, in denen sie aktuell steckte, ebenfalls bewältigen konnte. Knapp über 3 Jahre war es nun her, dass ihr Mann plötzlich an einem Herzinfarkt in ihrem gemeinsamen Bett verstarb und sie kurz darauf zu ihrer Tochter Emma und ihrer Familie nach London gezogen war. Nach einer längeren Phase der Trauer stabilisierte sie sich so weit, dass das neue Leben in der Metropole und die andere Kultur ihr zu einer neuen Heimat wurden und für sie nicht mehr nur eine Flucht vor dem plötzlichen Schicksalsschlag war. Sie zog in eine Wohnung in der Nachbarschaft ihrer Familie und genoss, dass sie das Aufwachsen ihrer Enkel viel besser mitbekam als in der Zeit in Hannover. Sie fand neue Freundinnen in einer kleinen anglikanischen Gemeinde in ihrem Wohnviertel und engagierte sich in einem Nachhilfe-Angebot für sozial benachteiligte Kinder.
Zu Beginn des Jahres ging sie dann den Verkauf des Elternhauses ihres verstorbenen Mannes an, indem sie fast 15 Jahre gemeinsam gelebt hatten. Sie war die einzige Erbin, doch ein alter Geschäftspartner der Kanzlei ihres Mannes erklärte sich bereit, alle Angelegenheiten vor Ort für den Verkauf des Hauses zu organisieren. Nachdem sich einige Monate nichts getan hatte, fand sich Anfang Dezember ein Interessent, der den Kauf aber noch in diesem Jahr abwickeln wollte.
So kam es, dass Edith vor einigen Tagen zurück in ihre alte Heimat kam, die anstehenden Termine beim Notar wahrnahm und nun am Morgen des Heiligabends das erste Mal seit langer Zeit das Haus betrat. Sie war diesem Augenblick möglichst lang aus dem Weg gegangen und hatte sich die letzten Tage bei einer alten Freundin einquartiert. Sie wollte nun die wenigen Habseligkeiten zusammensuchen, die sie mit in ihr neues Leben nehmen wollte. Viel würde es nicht sein, nahm sie sich vor und hatte den Kollegen ihres Mannes gebeten, die 3-4 Kisten bei der Räumung des Hauses nach den Weihnachtstagen per Spedition nach London aufzugeben.
Sie betrat den Hausflur und stellte ihren Rollkoffer am Eingang ab. Die Erinnerungen an ihr altes Leben brachen über sie ein. Ihr blieben nur wenige Stunden bis zu ihrer Abreise und sie bereute bei einem Gang durch die Zimmer, dass sie sich doch nicht mehr Zeit für diesen wichtigen Schritt der Verabschiedung genommen hatte. Mit Tränen in den Augen begann sie im Erdgeschoss auszuwählen, was sie auf jeden Fall noch behalten wollte. In der Küche konnte sie ihrem Anspruch noch gerecht werden. Sie räumte nur einige Bilder und einen Kaffeebecher in die erste Kiste. Im Wohnzimmer fiel es ihr schon schwerer, denn in so vielen Gegenständen lebten Geschichten auf, dass sie diese nicht in Eile einfach aufgeben wollte. Sie beschränkte sich auf 2 Kisten. Doch im Obergeschoss gab sie ihren Vorsatz vollends auf. Die Bücher in ihrem Arbeitszimmer, die sie zum Teil seit dem Studium begleitet hatten, mussten einfach mit. Auch die Bilder aus dem Zimmer ihrer Tochter konnte sie nicht einfach zurücklassen. Der Schmuck sowie die edlen Krawatten und Manschettenknöpfe ihres Mannes, die in einer alten Kommode im Schlafzimmer verstaut waren, wollte sie doch nicht weggeben. So füllten sich die Kisten, von denen sie zum Glück genügend aufbewahrt hatte. Mit dem Weg in den Keller durchlebte sie eine weitere Zeitreise bis in ihre frühe Kindheit und auch in die Familiengeschichte ihres Mannes. Wie naiv war sie, zu glauben, dies alles nun einfach hinter sich lassen zu können. Sie zählte zwar nicht die Kisten, doch sie wusste, dass sie nun ein kleines Vermögen an Erinnerungen und Wertgegenständen mit in ihre kleine Wohnung nach London nehmen wollte.
Als sie die erste Kiste aus dem Keller nach oben tragen wollte, schaute sie auf ihre Armbanduhr und erschrak. Es war bereits 20.15 Uhr, in nicht mal zwei Stunden fuhr der Nachtzug los, der sie nach Düsseldorf zum Flughafen bringen würde. Eigentlich wollte sie sich vorher noch ausgeruht haben, da sie im Schlafabteil sicherlich kein Auge zu bekommen würde. Sie verließ kurz das Haus, um an der nächstgelegenen Telefonzelle ein Taxi zu bestellen. Als sie das Haus verließ, schoss gerade eins in der angrenzenden Straße vorbei. Zu schnell, dass sie ihm winken konnte. Nachdem sie von ihrem Spaziergang wieder zurückgekommen war, wendete sie sich erneut den Kisten zu. Sie bemerkte aber schnell, dass dies ihre Kräfte überstieg. Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie war doch sonst immer so stark und hatte für jedes Problem eine Lösung gefunden. Sie überlegte, wen sie außer dem Geschäftspartner ihres Mannes um Hilfe bitten konnte. Aber selbst wenn ihr jemand eingefallen wäre, am Heiligabend wollte sie niemanden stören. Es musste anders gehen und sie versuchte erneut, die erste Kiste die Treppe hochzuhieven. Mühsam setzte sie diese von einer Treppenstufe auf die nächste und war erleichtert, als sie den Flur erreichte.
Sie wollte sich gerade der nächsten Kiste zuwenden, als es klingelte. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als auf den Taxifahrer und seine Hilfsbereitschaft zu hoffen. Verlegen, aber auch etwas erleichtert, öffnete sie ihm die Tür und deutete ihm an, einzutreten. „Guten Abend. Sie sind der Taxifahrer nehme ich an. Ich habe eine seltsame Bitte an Sie. Könnten Sie mir noch helfen, einige Kartons aus dem Keller und der oberen Etage hier in den Flur zu tragen? Sie werden kommende Woche von einem Bekannten abgeholt, bevor das Haus leer geräumt wird. Ich weiß, das ist nicht ihr Job. Ich habe es aber nicht geschafft und werde Ihnen diesen Aufwand selbstverständlich bezahlen.“
Der Mann schaute sich im Flur um und rümpfte die Nase. Sie rechnete bereits mit einer Abfuhr, vielleicht hatte sie sich zu herablassend geäußert. „Wie viele Kisten sind es denn?“, erkundigte er sich und steuerte die Kellertreppe an.
Voller Erleichterung beteuerte Edith: „Ich bin Ihnen wirklich von Herzen dankbar! Es werden um die 10 Kisten sein. Ich konnte so kurzfristig niemand anderes beauftragen, zumal es ja Heiligabend ist. Ich hoffe, es wird nur einige Minuten dauern. Ich muss ja auch in einer Stunde den Nachtzug nach Düsseldorf bekommen, da von dort morgen früh mein Flieger geht. Ich lebe mittlerweile bei meiner Tochter in London.“
Während sie sprach, dachte sie, wie ungeschickt es war, ihren Helfer jetzt auch noch mit ihren Reiseplänen unter Druck zu setzen. Der Mann schnappte sich aber bereits die erste Kiste und erwiderte: „Das passt schon. Weihnachten ist schließlich das Fest der Familie. Das soll an so ein paar Kisten nicht scheitern.“
Mit Leichtigkeit trug er die restlichen Kisten aus dem Keller nach oben und sie begleitete ihn dankbar ins Obergeschoss. Da sie sich nicht weiter nützlich machen konnte, erklärte sie ihm, welche kostbaren Erinnerungen sie mit jeder einzelnen Kiste verband, um ihm den Wert seiner Hilfsbereitschaft zu verdeutlichen. Er hörte aufmerksam zu und nickte gelegentlich einfühlsam.
Als er fertig war, fragte er: „Nun habe ich auch noch eine ungewöhnliche Bitte. Dürfte ich noch kurz Ihr WC nutzen?“
Edith überkam ein beschämtes Lächeln. Das war ja wohl das Mindeste, hatte sie ihm nicht einmal etwas zu trinken anbieten können. „Aber selbstverständlich“, erwiderte sie und zeigte ihm das Gäste-WC.
Während er auf Toilette war, überlegte sie angestrengt, was sie ihm außer ein paar Scheinen Gutes tun könnte. Ihr kam gerade ein Einfall und sie kramte nochmals in einer Kiste, als es auf einmal erneut klingelte.
Verwundert eilte sie zur Haustür und empfing zwei Polizeibeamte. Der eine reagierte auf ihren irritierten Blick: „Guten Abend, ich bin Polizeiobermeister Breuer und das ist mein Kollege Polizeimeister Kuhn. Wir sind hier, weil uns Auffälligkeiten zu dieser Adresse gemeldet worden sind. Wohnen Sie hier und können Sie sich ausweisen?“
Überrumpelt von diesem Besuch stotterte sie: „Guten Abend. Mein Name ist Edith Wolf. Ich wohne hier. Oder vielmehr habe ich hier gewohnt. Warten Sie“, sie holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und reichte dem Beamten ihren Ausweis.
Der setzte seine Befragung fort: „Gehört das Taxi zu Ihnen?“
In Ediths Kopf rang es nach Erklärungen, von welchen Auffälligkeiten der Polizist gesprochen hatte. „Ja, natürlich. Ich meine, ich habe es bestellt. Der Fahrer ist gerade auf der Toilette und soll mich nun zum Bahnhof fahren.“
Herr Breuer schaute nun ebenfalls verwundert: „Zusammen mit diesen vielen Kisten? Warten Sie, bleiben Sie ruhig. Sie haben gleich Gelegenheit, dies meinem Kollegen zu erklären.“
Er hatte wohl bemerkt, dass die WC-Tür geöffnet wurde und schien das Eintreffen des Taxifahrers abzuwarten. Dieser kam zurück in den Flur und fragte: „Was ist denn hier los?“
Edith versuchte aus Unbeholfenheit den Blickkontakt zu vermeiden und beobachtete, wie der Polizeiobermeister ihn eindringlich ansah. „Guten Abend. Das wollen wir von Ihnen wissen. Breuer mein Name, kommen Sie bitte kurz mit vor die Tür.“
Der Taxifahrer folgte kopfschüttelnd Herrn Breuer und der bisher schweigsame Polizeimeister Kuhn wendete sich Edith zu. „Nun erläutern Sie bitte noch einmal von Anfang an, was sie hier heute genau gemacht haben, wenn sie hier nicht mehr wohnen?“
Edith hörte sich ihre Geschichte erzählen und schüttelte innerlich den Kopf darüber, wie seltsam sie auf den Beamten wirken musste. „Also, das ist mein Haus. Ich habe hier bis zum Tod meines Mannes vor drei Jahren gewohnt und bin dann zu meiner Tochter nach London gezogen. Vorgestern habe ich mit dem neuen Eigentümer den Kaufvertrag abgeschlossen und war heute hier, um alle Gegenstände zusammenzupacken, die ich mit nach London nehmen will. Es sind mehr Kisten als erwartet. Beim Packen habe ich völlig die Zeit vergessen und es nicht geschafft, die Kisten selbst in den Flur zu tragen. Dieser freundliche Taxifahrer hat mir dabei geholfen, bevor er mich jetzt zum Bahnhof bringen soll. Von dort aus fährt um 22:12 Uhr mein Nachtzug zum Düsseldorfer Flughafen, von dem aus ich morgen früh zurück nach London fliege.“
Herr Kuhn nahm ihre Ausführungen gelassen auf einem kleinen Block auf und erwiderte dann: „Gut, das werden wir prüfen. Nur zum Verständnis: Sie haben nicht vor, die Kisten heute mit nach London zu nehmen?“
Edith ärgerte sich über diese dumme Rückfrage und ergänzte hastig: „Nein, natürlich nicht. Ein alter Freund meines Mannes, Herr Konstantin Rabe, wird diese am kommenden Montag per Spedition versenden. Ab dem Tag wird auch das Haus leer geräumt, sodass der neue Eigentümer zum Jahreswechsel die Schlüssel erhält. Meinen Schlüssel werde ich bei der Abreise in den Briefkasten werfen.“ Sie überlegte kurz, ob sie noch irgendwas ergänzen musste, um ihre Darstellung plausibler zu machen. Aber ihr fiel nichts mehr ein.
Der Polizeimeister nickte nachdenklich und entschuldigte sich. Edith bekam mit, wie er sich kurz mit seinem Kollegen besprach und dann zum Polizeiwagen ging.
Die Minuten verstrichen, Herr Breuer und der Taxifahrer kamen zwischenzeitlich wieder zurück in den Flur und erwarteten schweigend die Rückkehr von Herrn Kuhn. Edith unternahm einen Versuch, das Prozedere zu beschleunigen. „Mein Zug fährt in einer halben Stunde am Bahnhof los. Den muss ich unbedingt bekommen, wenn ich meinen gebuchten Flug in Düsseldorf erreichen will.“
Herr Breuer versuchte sie zu beruhigen: „Mein Kollege stimmt nur kurz mit der Dienststelle ihre Aussagen ab. Wenn da keine weiteren Ungereimtheiten bestehen, sind wir hier bald fertig.“
Es kam dann aber ganz anders. Als der Polizeimeister zurückkam, stimmte er sich erst im Flüsterton vor der Haustür mit seinem Partner ab. Dabei ließ er die beiden Verdächtigen nicht aus den Augen, die weiterhin schweigend ihren Gedanken nachhingen.
Zurück im Flur ergriff Herr Breuer erneut das Wort: „Wir können Sie leider nicht gehen lassen und müssen Sie bitten, uns aufs Revier zu folgen. Ihre Aussagen stimmen zwar untereinander überein, doch es gibt bei Ihnen beiden offene Fragen, die wir zuerst klären müssen. Das Haus ist eingetragen auf einen Ferdinand Bach und nicht auf eine Edith Wolf. Und Sie, Herr Schleier, sind vorbestraft und es laufen aktuell Verfahren gegen Sie.“
Sowohl Herr Schleier als auch Edith wollten sofort die Missverständnisse klären. Der Polizeiobermeister unterbrach sie jedoch rasch: „Ihre Aussagen nehmen wir auf dem Revier auf. Hier werden wir den Sachverhalt nicht klären können. Kommen Sie bitte mit und Frau Wolf, schließen Sie bitte die Haustür ab und übergeben mir vorläufig den Schlüssel.“
Edith protestierte erneut, da sie sich von diesem harschen Auftreten des Beamten gedemütigt fühlte. Herr Breuer duldete aber keine Widerrede und ließ die beiden auf dem Rücksitz des Streifenwagens Platz nehmen. Während der Fahrt suchte Edith den Blickkontakt zu Herrn Schleier. Dieser schaute aber aus dem Fenster, atmete schwer durch und massierte seine Finger.
Auf dem Polizeirevier wurden sie in getrennte Räume geführt und Edith von einem weiteren Polizeibeamten befragt. Sie wiederholte ihre Geschichte und ergänzte, dass das Haus zwar auf ihren verstorbenen Mann Ferdinand Bach eingetragen war, er dieses aber an sie vererbt hatte. Da sie nach seinem Tod aber kurzfristig zu ihrer Tochter gezogen war, hatte die formale Übertragung des Hauses erst in der vergangenen Woche mit dem Verkauf stattgefunden. „Ich verstehe zwar, dass Ihnen meine Ausführungen absonderlich vorkommen müssen. Ich kann Ihnen aber die Nummer von Herrn Rabe, dem Geschäftspartner meines Mannes, geben. Er hat die notarielle Abwicklung vorbereitet und mich darin unterstützt.“
Der Beamte nahm die Kontaktdaten auf und verließ den Raum. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er wiederkam und sich wortkarg für die Unannehmlichkeiten entschuldigte. „Es ist ja äußerst selten, dass Ehepartner einen anderen Nachnamen führen!“, ließ er in seinen Ausführungen als Rechtfertigung durchblicken und übergab ihr den Haustürschlüssel.
Edith verließ verärgert den Raum und sparte sich die Bemerkung, dass es damals gute Gründe dafür gab. Sie wollte sich noch nach Herrn Schleier erkundigen, sah ihn dann aber am Empfang der Dienststelle auf sie warten.
„Sie haben uns ein Taxi bestellt. Ein Kollege bringt uns gleich zurück zu Ihrem Haus“, empfing er sie in erleichterter Stimmung. „Vermutlich hat es keinen Sinn, sie am Bahnhof abzusetzen, oder?“
Es war mittlerweile 23 Uhr und Edith sah keine Chance mehr, den Flug noch pünktlich zu erreichen. Sie nahm es als göttliche Fügung, da sich für sie nun die Gelegenheit bot, sich von ihrem Haus und der Zeit mit ihrem zweiten Mann zu verabschieden. Mittlerweile gefiel ihr dieser Gedanke sogar, auch wenn sie auf das gemeinsame Weihnachten mit ihrer Familie verzichten musste.
Auf dem Rückweg war nun Herr Schleier auf einmal gesprächig. Er wollte unbedingt klarstellen, dass er kein Verbrecher war. Tatsächlich war er einmal für 3 Monate im Gefängnis, da er die Zahlung von Bußgeldern aufgrund von zivilem Ungehorsam bei den ersten Castortransporten verweigerte. „Das würde ich heute nicht noch einmal machen. Der Preis war für mich und meine Familie einfach zu hoch. Aber viel schlimmer waren meine Tobsuchtsanfälle gegenüber meiner Partnerin. Da läuft gerade auch noch ein Verfahren gegen mich, da ich mich oft nicht unter Kontrolle hatte. Ich habe aber an mir gearbeitet und hoffe, meinen Sohn bald wiederzusehen.“
Edith schluckte, erinnerte sie das an ihre erste Ehe und die Zeit, bevor sie Ferdinand kennengelernt hatte und letztlich mit ihrer Tochter bei ihm eingezogen war. „Auf mich wirken Sie nicht so, als ob Sie sich nicht unter Kontrolle haben. Es muss Sie doch rasend gemacht haben, dass Sie wegen eines solchen Missverständnisses zu Unrecht verdächtigt wurden.“ Sie offenbarte ihm, weshalb die Polizei bezweifelt hatte, dass sie tatsächlich die Eigentümerin des Hauses war.
„Na ja, ganz unschuldig bin ich wohl nicht“, brummte Herr Schleier. „Ich habe heute Abend, kurz bevor ich zu Ihnen gekommen bin, über Funk eine polizeiliche Verfolgungsjagd auf ein Taxi nachgespielt, um einem Jungen mit Funkgerät eine Freude zu bereiten. Der muss ganz in ihrer Nähe wohnen und dann mein Taxi vor Ihrem Haus bemerkt haben. Das war der Grund, warum die Streife überhaupt bei Ihnen aufgeschlagen ist. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie meinetwegen nun nicht mit Ihrer Tochter Weihnachten feiern können.“
Edith konnte sich das Lachen kaum verkneifen, als sie begriff, wie viele absurde Zufälle sich bei ihnen aneinandergereiht hatten. Ein Gefühl der Verbundenheit machte sich in ihr breit, auch wenn sie Herrn Schleier kaum kannte und sich ihre Wege vermutlich nicht noch einmal kreuzen würden.
Die restliche Heimfahrt sprachen sie noch über ihre Familien, nachdem sich Edith nach seinem Sohn erkundigt hatte. Sie bemerkten, dass sie nun beide ohne sie die Weihnachtstage verbringen werden.
Zurück am Porstweg trug Herr Schleier Ediths Koffer zurück in den Flur. Dann blieben sie etwas unbeholfen im Eingang stehen und wussten nicht, wie sie sich voneinander verabschieden sollten. „Herr Schleier. Sie haben mir mit den Kisten sehr geholfen und daher möchte ich wenigstens für ihren Verdienstausfall heute Abend aufkommen. Ist es für Sie in Ordnung, wenn Sie mir Ihre Bankverbindung aufschreiben und ich Ihnen etwas überweise? Ich bin übrigens Edith.“
Der Taxifahrer schien sich über diese Geste besonders zu freuen und blickte sie mit einem verschmitzten Lächeln an. „Ich heiße Wolf, also Wolfgang. Nein, ich möchte kein Geld. Es ist Weihnachten und ich bin froh, dass ich mich heute Abend nicht so allein gefühlt habe. Irgendwie hingen wir ja gemeinsam in diesem Schlamassel. Das ist für mich wertvoller als ein Heiligabend mit lukrativen Taxifahrten.“
Edith entschuldigte sich kurz und eilte nach oben ins Schlafzimmer. Sie kam mit einem schwarzen Mantel wieder und überreichte ihm Wolf. „Dann probier bitte diesen Mantel kurz an. Schon als wir uns begegnet sind, dachte ich mir, dass er dir stehen müsste. Ich hatte ihn meinem Mann zu unserem letzten gemeinsamen Weihnachten geschenkt und es würde mich wirklich freuen, wenn du für ihn noch Verwendung findest.“
Wolf folgte gerührt ihrer Bitte und bedankte sich bei ihr. Dann nahmen sie sich zum Abschied in den Arm. Edith sah ihm hinterher und hoffte, dass er es ihr nicht übelnahm, dass sie einen Goldring ihres Mannes in der Innentasche des Mantels versteckt hatte.
TEIL 4
Zuletzt bearbeitet: